Vor dem Start der Kampagnen-Konzeption haben Sie Unternehmen und deren Beschäftigte als auch Mitarbeiter von Bildungsträgern und Studierende nach dem Stellenwert von Prävention in ihren Betrieben und Einrichtungen befragt. Was waren die Ergebnisse?
Dr. Eichendorf: Aus den Befragungen in den Jahren 2014 und 2017 konnten wir zwei ganz zentrale Erkenntnisse für die Kampagne gewinnen. Erstens: Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit schätzen sowohl Unternehmensleitungen als auch Beschäftigte als sehr wichtig ein. Dennoch gibt es in der Wahrnehmung große Unterschiede. Auf die Frage, wie wichtig Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit für das Unternehmen sind, antworteten 96 Prozent der Unternehmensleitungen mit „sehr wichtig“ oder „eher wichtig“. Auch die Beschäftigten finden das Thema wichtig. Aber: Sie bewerten die Kultur in ihren Betrieben wesentlich kritischer und wünschen sich von ihren Vorgesetzten mehr Aufmerksamkeit für sicheres und gesundes Arbeiten – insbesondere was betriebliche Angebote und Informationen in diesem Bereich betrifft. Wo Beschäftigte und Leitung das Niveau der bestehenden Kultur der Prävention so unterschiedlich beurteilen, besteht offensichtlich Handlungsbedarf. Die zweite wichtige Erkenntnis betrifft die kleineren und mittleren Unternehmen. Sie schnitten in puncto innerbetriebliche Kommunikation, Beteiligung, Betriebsklima, Fehlerkultur, Führung sowie Sicherheit und Gesundheit schlechter ab als große Unternehmen. Dies spiegelt sich auch in der Unfallquote wider, die in KMU vergleichsweise höher ist als in großen Unternehmen. Auch hier kann die Kampagne unterstützen.
Was sind für Sie die wichtigsten Elemente und Ziele der allgemeinen Dachkampagne als auch der Kampagnen der einzelnen Berufsgenossenschaften?
Dr. Eichendorf: Die Dachkampagne soll zunächst die Aufmerksamkeit für das Thema wecken und auf die Trägerkampagnen der einzelnen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen vorbereiten. Sie kommuniziert die Botschaften der sechs Handlungsfelder. Mit gemeinsamen Kommunikationsmaßnahmen wird für ein mediales Grundrauschen gesorgt. Ab März 2018 starten dann sukzessive die Trägerkampagnen der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen. Der Transfer der sechs Handlungsfelder in die Praxis der Betriebe und Einrichtungen wird über die branchen- und zielgruppenspezifisch ausgelegten Kampagnen der einzelnen Unfallversicherungsträger stattfinden. Diese allein sind in der Lage auf die konkreten Gegebenheiten der bei ihnen versicherten Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen einzugehen. Jeder Unfallversicherungsträger, jede Präventionsfachkraft, alle betrieblichen Akteurinnen und Akteure können dann die unterschiedlichen Kommunikationsangebote und Werkzeuge der Dachkampagne unverändert aufgreifen und einsetzen. Abhängig von ihrem individuellen Bedarf werden die Unfallversicherungsträger aber auch eigene thematische Schwerpunkte setzen.
Die Laufzeit der Kampagne beträgt rund zehn Jahre. Was sind die Gründe für die lange Laufzeit?
Dr. Eichendorf: Zehn Jahre klingt zunächst nach einer langen Zeit. Und auch für uns ist eine solch groß angelegte Kampagne ein Novum. Aber das, was wir erreichen wollen – eine Kultur der Prävention – braucht einen langen Atem. Die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen haben gemeinsam mit den Unternehmen bereits viel erreicht. Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle ist in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen, inzwischen auf deutlich unter 500 im Jahr. Das ist zunächst mal ein Erfolg. Das bedeutet aber auch: Jeder Unfall wird immer stärker ein isoliertes Ereignis, aus dem wir kaum noch etwas lernen können. Deshalb müssen wir es schaffen, dass alle Betriebe, alle Schulen, alle öffentliche Einrichtungen, alle Menschen Prävention zu ihrem 24/7‑Thema machen, rund um die Uhr zum ständigen Begleiter sozusagen. So ein Wertewandel braucht aber Zeit.
Haben einige der teilnehmenden Berufsgenossenschaften schon spezifische Maßnahmen für Mitgliedsunternehmen entwickelt?
Dr. Eichendorf: Bisher stehen eine Reihe von Handlungshilfen zur Verfügung, mit deren Hilfe die Themen in Betrieben und Einrichtungen verortet werden können. Die Broschüre „Selbstverständlich sicher und gesund“ richtet sich zum Beispiel speziell an Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Führungskräfte. Die Checklisten, Diskussionsanregungen und Arbeitsmaterialien sollen sie dazu motivieren, Schritt für Schritt aktiv zu werden. Ein weiteres wichtiges und sehr gefragtes Tool sind unsere kommmitmensch-Dialoge. Sie helfen Präventionsfachkräften und Betrieben dabei, Führungskräfte und Beschäftigte anzuleiten, ihren Umgang mit Sicherheit und Gesundheit – auch auf spielerische Weise – zu untersuchen und Veränderungsansätze zu erarbeiten. Zusätzlich werden zielgruppenspezifische Handlungshilfen zu den einzelnen Handlungsfeldern entwickelt. Natürlich wird die Kampagne mit ihren Handlungsfeldern auch Teil der zukünftigen Qualifikation sein. Unser Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV in Dresden hat Seminare bereitgestellt, die auf Kulturthemen zielen. Und es gibt Fortbildungen, die speziell für die Kampagne schulen, mit deren Botschaften und Werkzeugen vertraut machen.
Wie wollen und können Sie den Erfolg der Ziele evaluieren? Ich stelle mir das nicht so einfach vor.
Dr. Eichendorf: Das ist tatsächlich nicht einfach. Denn eine besondere Herausforderung der Evaluation liegt in der hohen Komplexität der Präventionskampagne. Diese zeigt sich nicht nur in der Kampagnenarchitektur – auch das aktuelle Kampagnenthema „Kultur der Prävention“ zeichnet sich durch ein hohes Maß an Komplexität aus.
Zum einen wollen wir durch die Evaluation erfahren, inwiefern die Maßnahmen wirksam sind, aber auch wie wir interne Abläufe und Prozesse optimieren können. Bereits in den Vorgängerkampagnen hat das Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV ein Neun-Ebenen-Modell entwickelt, welches auch bei der aktuellen Kampagne für die Evaluation genutzt werden soll. Es geht davon aus, dass die Wirkung einer Kampagne in mehreren Phasen abläuft. So müssen zunächst die Botschaften der Kampagne wahrgenommen werden, bevor sie zu einer Änderung eines sicherheits- und gesundheitsgerechten Verhaltens führen können. Im Modell werden aber auch die relevanten internen Strukturen für die Kampagnendurchführung berücksichtigt. Besonders bedeutsam bei dieser Kampagne ist für uns die Konzeptevaluation. Dabei geht es darum, verschiedene Kampagnenmaßnahmen im Vorfeld eines breiten Einsatzes bei den Zielgruppen zu testen und gegebenenfalls frühzeitig anzupassen. Um die Zielerreichung zu ermitteln, also Wirksamkeit festzustellen, werden wir im Rahmen der Trägerkampagnen zudem mit Modellbetrieben arbeiten.
Sie haben sechs Handlungsfelder bestimmt, auf denen eine Präventionskultur aufgebaut werden soll. Die Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa) ist ohne Zweifel ein wichtiger Akteur beim Handlungsfeld „Prävention als integrierter Bestandteil aller Aufgaben“. Hierbei denke ich vor allem an die Implementierung und Weiterentwicklung von Managementsystemen und an die ständige Weiterbildung der Beschäftigten. Doch um hier erfolgreich zu sein, sind auch kommunikative und soziale Kompetenzen erforderlich. Verfügen die meisten der Sifa bereits über die hierfür notwendigen Methoden- und Sozialkompetenzen? Und wie sehen Sie die Rolle der Sifa im Zusammenhang mit den Kampagnenzielen?
Dr. Eichendorf:: Als Multiplikatoren haben Fachkräfte für Arbeitssicherheit eine ganz wichtige Funktion, wenn es darum geht, einen Kulturwandel in den Betrieben anzustoßen. Wichtig ist, sie auf diesem Weg mitzunehmen und als Prozesstreiber zu gewinnen. Da diese Berufsgruppe bis heute eher technisch geprägt ist, sind Fortbildungsangebote seitens der Unfallversicherungsträger und der Verbände hilfreich. Auch in der Sifa-Ausbildung sollten verstärkt Inhalte der Präventionskultur integriert werden. Außerdem werden engagierte Führungskräfte benötigt: Präventionskultur darf kein Lippenbekenntnis sein, sondern muss gelebt werden. Ein Kulturwandel ist ein Change-Prozess, für den man Kenntnisse in Projektmanagement benötigt. Ich erlebe oft, dass es in diesem Bereich eine mangelnde Routine gibt, so dass sich die Projekte überlagern. Die Umsetzung wird auf das mittlere Management übertragen, das jedoch personell in vielen Betrieben ausgedünnt und aufgabenmäßig überfordert ist. In der aktuellen Weiterentwicklung der Ausbildung zur Sifa haben wir daher auch diese Anforderungen an eine Sifa aufgenommen.
Vielen Dank für das Gespräch.
„Präventionskultur darf kein Lippenbekenntnis sein, sondern muss gelebt werden.“