Die Nutzung und Anwendungsfälle von Gleichspannung werden in den kommenden Jahren stark steigen. Sind die vorhandenen Normen dem noch gewachsen? Ist das bisherige Niveau sicher?
Zu Beginn der Elektrifizierung gab es einen Wettbewerb zwischen den Befürwortern der Nutzung von Gleichspannung und der von Wechselspannung. Ein Beispiel hierzu ist mit der Einführung der elektrischen Beleuchtung in New York eindrucksvoll dokumentiert.
Nachdem sich für die allgemeine Nutzung die 50- bzw. 60-Hz-Wechselspannung durchgesetzt hatte, beschränkte sich die Nutzung der Gleichspannung auf Inselanwendungen (z. B. Bordnetze von Fahrzeugen oder industrielle Anwendungen). Zum Teil wurden und werden dabei durchaus höhere Gleichspannungen eingesetzt. Beispielhaft sei hier die Londoner U‑Bahn genannt, die mit 600 V Gleichspannung betrieben wird.
Bei den batterieversorgten Anwendungen war die Spannung üblicherweise so gering, dass keine weitergehenden Schutzmaßnahmen zur Abwehr von Gesundheitsgefahren durch den elektrischen Strom erforderlich waren. Bei Anwendungen mit höherer Gleichspannung im gewerblichen Bereich verzeichnete die Berufsgenossenschaft dennoch alleine im Jahr 1969 in der Bundesrepublik Deutschland fast 350 Stromunfälle. Bis 1980 wurde ihre An- zahl auf ca. 100 pro Jahr verringert und schwankt seit der Wiedervereinigung zwischen 100 und 150 jährlich. 90 % die- ser Gleichstromunfälle entfielen auf den Niederspannungs- (Gleichspannungen bis 1500 V) und 10 % auf den Hochspannungsbereich.
Recht und Normen
Normen zum Schutz des Menschen vor Gefährdungen durch elektrische Spannungen sind mit die wichtigsten Quellen für richtiges Handeln. Im Bereich der Elektrotechnik sind hierzu die Normen der Reihe DIN VDE 0100, DIN EN 61140 (VDE 0140–1), DIN IEC/TS 60479–1 (VDE V 0140–479‑1) sowie die Normen für die Isolierung elektrischer Leiter am bekanntesten. Für den Blitzschutz sind die Normen und Beiblätter der Reihe DIN EN 62305 (VDE 0185–305) maßgeblich.
Für Gleichspannungen existieren zwar grundlegende Festlegungen und Schutzkonzepte, jedoch ist aufgrund der in den letzten Jahrzehnten vergleichsweise geringen wirtschaftlichen Bedeutung der Gleichspannung im Bereich einiger hundert Volt die Erfahrungsbasis deutlich kleiner als bei Wechselspannung.
In den kommenden Jahren wird eine enorm wachsende Bedeutung von Gleichspannungsanwendungen in der Energie- und Antriebstechnik erwartet. Durch Fortschritte bei Leistungshalbleitern werden dabei Konzepte Verwendung finden, die vor wenigen Jahren noch nicht wirtschaftlich realisierbar waren.
Gleichspannungsanwendungen werden in vielen Bereichen des Arbeits- und Privatlebens auftreten. Beispielhaft seien fünf Bereiche mit besonderem Entwicklungspotenzial genannt:
- Elektromobilität: Die für die Elektromobilität erforderliche Energie wird im Fahrzeug in Batterien gespeichert, die mit hohen Gleichspannungen arbeiten. Sicherheitskonzepte für die Verteilung im Fahrzeug müssen neu überdacht werden.
- Antriebstechnik: Aufgrund der guten Regelbarkeit und ihres Drehmomentverlaufs wird der Einsatz von elektrischen Antrieben auch in der Landwirtschaft und bei Baumaschinen untersucht und in ersten Prototypen erprobt.
- Dezentrale Energieversorgung: Beim Einsatz von Solarzellen, Batterien oder Brennstoffzellen, aber auch bei Stromrichtern für Windkraftanlagen treten Gleichspannungen im Bereich mehrerer hundert Volt auf.
- DC-Versorgung in der Wohnung: Gleichspannungsversorgung erhöht die Energieeffizienz aufgrund vermiedener Umwandlungsverluste. Als Verbraucher kommen dabei z. B. Multimedia-Systeme in Betracht.
- Akkubetriebene Haushaltsgeräte, Werkzeuge und Kleinfahrzeuge: In den vergangenen Jahren wurden vermehrt leistungsstarke akkubetriebene Elektrogeräte auf den Markt gebracht, wie z. B. Akkurasenmäher und Elektro-Außenbordmotoren. Weitere Gerätekategorien sind zu erwarten.
Eine Anfang 2014 durchgeführte Recherche im Deutschen Normenwerk hat bezüglich des Einsatzes von Gleichspannung folgende Ergebnisse erzielt:
- DIN 29576–1:1992–05: Die in einem Bordnetz eines Luftfahrzeugs erzeugte Spannung darf +250 V bzw. –250 V nicht überschreiten.
- DIN EN 1175–3 (VDE 0117–3):2011–06: Sicherheitsanforderungen mit Nennspannungen bis 240 V für Flurförderzeuge; Gleichstrommotoren bis 240 V müssen die Anforderungen des Anhangs B von DIN EN 1175–1 (VDE 0117–1) erfüllen, Gleich- und Wechselstrommaschinen mit Nennspannungen bis 600 V die Anforderungen der Normen der Reihe DIN EN 60349 (VDE 0115–400).
- DIN EN 15194:2012–02: Anforderungen und Prüfverfahren zur Bewertung der Konstruktion und des Zusammenbaus von elektromotorisch unterstützten Fahrrädern und deren Baugruppen für Anlagen mit einer Batteriespannung bis 48 V DC oder einem eingebauten Batterieladegerät mit einem Spannungseingang von 230 V AC.
- Normen der Reihe DIN EN 50123 (VDE 0115–300): Bahnanwendungen – Gleichstrom-Schaltanlagen und Steuereinrichtungen in ortsfesten Anlagen mit einer Nennspannung von höchstens 3000 V DC.
- DIN EN 50162 (VDE 0150):2005–05: Schutz gegen Korrosion durch Streuströme aus Gleichstromanwendungen.
- Normen der Reihe DIN CLC/TS 50457 (VDE V 0122–2): Gleichstrom-Ladestation für Elektrofahrzeuge.
- DIN EN 60077–3 (VDE 0115–460‑3):2003–04: Bahnanwendungen – Leistungsschalter, deren Hauptkontakte mit einem Leistungs- und/oder Hilfsbetriebsstromkreis mit Gleichspannungen nicht über 3000 V verbunden sind.
- DIN EN 60519–3 (VDE 0721–3):2006–01: Zugängliche Steckdosen für Gleichspannungen über 500 V müssen unverwechselbar sein und müssen vor oder während des Trennens automatisch abgeschaltet werden, um Gefahren für das Personal zu vermeiden.
- DIN EN 60700–1 (VDE 0553–1):2013–11: Hochspannungs-Gleichstrom-Energieübertragung.
- DIN EN 60900 (VDE 0682–201):2013–04: Isolierte Handwerkzeuge, die zum Arbeiten an unter Spannung stehenden Teilen oder in deren Nähe bei Nennspannungen bis 1500 V DC benutzt werden können.
- DIN EN 61643–21 (VDE 0845–3‑1): Überspannungsschutzgeräte zum Schutz von Einrichtungen in Telekommunikations- und signalverarbeitenden Netzwerken mit Nennspannungen bis 1500 V DC.
- DIN EN 61800–1 (VDE 0160–101):1999–08: Gleichstromantriebssysteme.
- DIN EN 61851–1 (VDE 0122–1):2013–04: Einrichtungen zum Laden innerhalb und außerhalb von Elektrofahrzeugen an Gleichspannungen bis 1500 V.
- DIN VDE 0636–3011 (VDE 0636–3011):1999–05: Sicherungen überwiegend für Hausinstallationen und ähnliche Anwendungen mit Gleichspannungen bis 600 V.
- Entwurf DIN EN ISO 16230–1:2014–02: Leitlinien zur Sicherheit von elektrischen Systemen in Landmaschinen und Traktoren mit Nennspannungen von 50 V bis 1000 V Wechselspannung oder 75 V bis 1500 V Gleichspannung.
- VDE-AR‑E 2100–712:2013–05: Maßnahmen für den DC-Bereich einer Photovoltaikanlage zum Einhalten der elektrischen Sicherheit im Falle einer Brandbekämpfung oder einer technischen Hilfeleistung.
Ausblick
Die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte Untersuchung „Auswirkungen von Gleichstrom (DC) auf den menschlichen Körper im Rahmen der Elektromobilität und versorgender DC-Infrastruktur – DCSich“ wird vom Forschungs- und Transferzentrum Leipzig e.V., dem VDE-Ausschuss Sicherheits- und Unfallforschung sowie der DKE Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik im DIN und VDE durchgeführt. Sie soll bis Ende 2014 klären, ob die derzeitigen Sicherheitsanforderungen, Schutzkonzepte und Grenzwerte auch für die neuen Anwendungen ausreichend oder aber zusätzliche Anforderungen oder modifizierte Schutzkonzepte und Grenzwerte erforderlich sind.
Über die Ergebnisse werden wir im Sicherheitsingenieur berichten.
Die Grafiken in diesem Beitrag konnten mit freundlicher Genehmigung der BG ETEM verwendet werden.
Autoren
Georg Vogel Standardisierung + Innovationen VDE e.V. / DKE Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik im DIN und VDE georg.vogel@vde.com
Henriette Boos Standardisierung + Innovationen VDE e.V. / DKE Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik im DIN und VDE henriette.boos@vde.com
- Sicherheit in Gleichstromanwendungen Teil 2 — Wirkung von Gleichstrom auf den Menschen
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