Unfälle mit rotierenden Sägeblättern kosteten in vielen Betrieben bereits abgetrennte Finger oder sogar komplett zerstörte Hände. Von den bundesweit insgesamt 760.492 registrierten Arbeitsunfällen im Jahr 2020 ereigneten sich 26.027 an gehaltenen oder handgeführten kraftbetriebenen Werkzeugen, davon 1.840 an Kreissägen. Umgerechnet auf die 255 Arbeitstage in 2020 ereigneten sich also durchschnittlich sieben meldepflichtige Unfälle pro Tag an diesen Maschinen, häufig mit schweren Verletzungen als Folge. Darüber hinaus resultieren aus derartigen Unfällen Kosten für Arbeitsausfälle und medizinische Behandlungen, obendrein können auch Kundenaufträge platzen.
Hand Guard schließt Lücke im Arbeitsschutz
Diese Tatsachen veranlassten das Entwicklungsteam der Altendorf GmbH, eine Formatkreissäge zu entwickeln, die Verletzungen nahezu komplett verhindert. Zu den Kunden gehören neben Tischlern und anderen Handwerksbetrieben auch Industrieunternehmen, die unter anderem Werkstoffe wie Kunststoff oder Aluminium verarbeiten. „Durch den Kontakt zu unseren Kunden bekommen wir mit, wie häufig Unfälle mit solch einer Maschine passieren und wie gravierend die Verletzungen dabei sein können“, sagt Produktmanager Markus Ottemeier. „Dagegen wollten wir vorgehen, wobei unsere Kreissägen in ihrer Funktionsweise an sich technisch schon perfekt waren.“ Er verweist damit auf eine lange Tradition. Sie geht auf den Firmengründer Wilhelm Altendorf zurück, der 1906 die Format- und Besäumkreissäge „System Altendorf“ erfunden hat. „Allein beim Arbeitsschutz gab es noch Luft nach oben. Diese Lücke schließen wir nun mit dem Hand Guard.“
Bei der Innovation spielen zwei Technologien zusammen: ein optisches System zur Handerkennung durch zwei Kameras und eine Schutzfunktion zum Bannen der Gefahr. Der Hand Guard ist ein System der Gefährdungsfrüherkennung. Sein Schutzmechanismus greift, bevor die Hand mit dem Sägeblatt in Kontakt kommt. Im Detail funktioniert es so: Die Kameras definieren die exakte Position der das Werkstück führenden Hand in Bezug auf das Sägeblatt und sammeln dabei laufend Daten, die von einer speziellen Software zur Handerkennung verarbeitet werden. Dabei werden Handgeschwindigkeiten von bis zu zwei Meter pro Sekunde detektiert.
Bei Rot senkt sich das Sägeblatt
Sobald das System eine Gefährdungssituation erkennt, reagiert es prompt: Blitzschnell verschwindet das Sägeblatt in einem Spalt des Tisches. „Die Kamera reagiert dabei in verschiedenen Zonen, vergleichbar mit einem automatischen Gefahrenerkenner beim Auto“, erklärt Ottemeier. „Je näher die Hand rückt, desto eindringlicher wird das Warnsignal.“ Anders als beim Auto handelt es sich hier nicht um ein akustisches Signal wie etwa ein Piepen. Dies wäre zu laut und die an der Maschine tätige Person könnte sich erschrecken, was zu fatalen Fehlhandlungen führen könnte. Daher arbeitet der Hand Guard mit einem optischen Signal. Ein gut erkennbarer LED-Streifen auf dem Schwenkarm, unter dem das Sägeblatt rotiert, leuchtet nach dem Ampelprinzip grün, orange oder rot – je nachdem, wie weit die Hand der bedienenden Person noch von der Gefahrenquelle entfernt ist. Sobald sie sich in den kritischen Bereich bewegt, senkt sich das Sägeblatt ab.
Das Kamerasystem unterscheidet dabei nicht, ob die Bewegung willentlich oder unbeabsichtigt erfolgt. Der Schutzmechanismus setzt also immer ein, auch wenn die an der Maschine tätige Person diese optische Warnung nicht wahrnehmen sollte, wie der Produktmanager betont: „Die Person braucht selbst überhaupt nichts zu machen. Die Säge überwacht ihre Hände komplett – egal, ob sie absichtlich versucht, in das Sägeblatt zu greifen, es aus gefährlicher Routine erfolgt oder die Hände versehentlich abrutschen.“ Das System funktioniert auch mit einem geschwenkten Sägeblatt, erläutert Andreas Neufeld, Teamleiter der Steuerungstechnik bei Altendorf: „Hierbei verwenden wir für die Schnellabsenkung die ganz normale Höhenverstellung, aber einen deutlich dynamischeren Motor, sodass das Sägeblatt genauso schnell abtauchen kann wie in nicht-geschwenkter Position.“
Mit Handschuhen an der Kreissäge
Die Warnbereiche hat das Entwicklungsteam zusammen mit der Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) genau festgelegt. Diese Abstände lassen sich also nicht individuell einstellen. „Hier behalten wir bei Altendorf uns eine Weiterentwicklung vor, um das System optimal auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden ausrichten zu können“, führt Ottemeier aus. So möchten Werkstätten für Menschen mit Behinderung vielleicht die Sicherheitsbereiche lieber größer eingestellt haben, während für einen seit zwanzig Jahren im Beruf tätigen Tischler ohne Handikap womöglich ein kleinerer Sicherheitsbereich ausreicht.
Obendrein könnte das System es nach einer Weiterentwicklung zulassen, mit Handschuhen an der Formatkreissäge zu arbeiten. Aktuell verbietet dies der Arbeitsschutz in Deutschland, weil diese Persönliche Schutzausrüstung (PSA) leicht eingezogen werden kann und sich das Unfallrisiko somit vergrößert. Laut Ottemeier sind die technischen Voraussetzungen bereits vorhanden. „Das wären dann spezielle, von uns vorgegebene Handschuhe, bei denen wir sichergehen können, dass es mit dem System auch wirklich funktioniert.“ Die Entscheidung, die Handschuhe zu verwenden, könne nur durch die jeweiligen Sicherheitsverantwortlichen des Betriebs auf Basis einer eigenen Risikobeurteilung im betrieblichen Umfeld erfolgen. Eine Freigabe der BGHM sei nicht zu erwarten.
Die Markteinführung läuft
Kann sich der Schutzmechanismus auch nachteilig auf den Arbeitsablauf auswirken? Neufeld winkt ab: „Das System reagiert mit geregelten Geschwindigkeiten und Beschleunigungen. Wir verzeichnen keine Schädigungen am bewährten Aufbau des Sägeaggregats.“ Während der Absenkung vibriert dieses Bauteil nur minimal, wie ein Test zeigt: Direkt neben dem Sägeaggregat bleibt ein Zwei-Euro-Stück auf der Kante stehen. Auch Schädigungen am Sägeblatt oder am Werkstück sowie Ausfallzeiten sind nach Angaben des Steuerungstechnikers nicht zu erwarten. „Nachdem das Sicherheitssystem ausgelöst wurde, kann der Sägeantrieb sofort wieder gestartet und die Arbeit fortgesetzt werden. Eine Instandsetzung im Zuge der ausgelösten Schutzfunktion ist nicht erforderlich“, erläutert er. Per Touch-Screen am Bedienerpanel wird das Sägeblatt einfach wieder hochgefahren.
Der Hand Guard wurde nahezu komplett im Hause Altendorf entwickelt, allein die Handerkennungssoftware kommt von einem Zulieferer. Im Jahr 2018 begann das Team um Karl Friedrich Schröder, Leiter des Bereichs Forschung und Entwicklung, und Julia Pohle, Managerin des Bereichs Forschung und Entwicklung, die Idee der sicheren Formatkreissäge umzusetzen. Nachdem im Mai 2019 der erste Prototyp vorgestellt wurde, arbeitete das Team an der Serienfähigkeit und Zertifizierung des Produkts. Aktuell befinden sich fünfzig Feldtest-Maschinen bei Kunden im Probeeinsatz. Für die Serienproduktion stehen noch die endgültige EG-Baumusterzulassung der BG und die CE-Kennzeichnung aus. Wenn alles planmäßig läuft, soll das innovative Sicherheitssystem im März 2022 ausgeliefert werden. „Die Maschine funktioniert einwandfrei, es geht im Grunde also nur noch um Formalitäten“, ist sich Ottemeier sicher.
Autorin: Christine Lendt
Fachautorin und freie Journalistin
Ausgezeichnete Idee
Die Altendorf GmbH konnte sich mit dem Hand Guard gegen 175 weitere Bewerbungen durchsetzen und erhielt 2021 den Deutschen Arbeitsschutzpreis in der Kategorie „Betrieblich“. Zudem wurde das System mit dem Innovationspreis Marktvisionen 2019/20 der OstWestfalenLippe GmbH prämiert.