In einem Unternehmen, das im Auftrag Kesselwagen reinigt, sollten Mitarbeitende einen Bahn-Kesselwagen für einen nächsten Einsatzfall säubern und aufbereiten. In dem Kesselwagen war Essigsäurealdehyd (Ethanal) transportiert worden. Für die Innenreinigung war es notwendig, in den Kessel einzusteigen. Der vom Transportunternehmen angelieferte Wagen war noch mit einem umgedrehten Gefahrgutschild mit der Kennung 33/1089 versehen. Dabei steht die UN-Nummer 1089 für den Stoff Acetaldehyd. Die Nummer 33 am Anfang weist auf die Gefährlichkeitsklasse 3 „entzündbare flüssige Stoffe“ hin.
Keine Erfahrungen mit Gefahrstoff
Bisher waren in der Reinigungsanlage noch keine Kesselwagen mit diesem Stoff gereinigt worden, sodass keine Erfahrungen dazu vorlagen. Somit wussten die Mitarbeiter auch nichts über die potenziellen Gefahren beim Umgang mit diesem Stoff, bei dem ein Beschäftigter gesundheitliche Probleme an den Atemwegen und Augen erlitt. Der Beschäftigte wollte nach erfolgter Freimessung mit einem dafür zugelassenen und geeichten Gerät in den Kesselwagen einsteigen, wurde dabei bewusstlos und rutschte von der Leiter in das Innere des Wagens. Die Freimessung hatte keine schädlichen Gaskonzentrationen ergeben, deshalb verwendete der Beschäftigte auch keinen Atemschutz. Der als Sicherheitsposten eingeteilte zweite Beschäftigte leitete sofort die notwendigen Rettungsmaßnahmen ein. Der Verunfallte wurde durch die örtliche Freiwillige Feuerwehr noch im Behälter versorgt und durch das betriebliche Rettungsteam daraus geborgen. Nach einem mehrtägigen Krankenhausaufenthalt zur Kontrolle konnte der Beschäftigte seine Arbeit ohne gesundheitliche Schäden wieder aufnehmen.
Was gab die Arbeitsanweisung vor?
Bei der Unfallaufnahme durch die zuständige Gewerbeaufsichtsbehörde wurde festgestellt, dass die vorhandene Arbeitsanweisung regelt, vor dem Einstieg in den Kesselwagen eine Freimessung auf die Anwesenheit von gefährlicher Atmosphäre sowie auf Explosionsgefahr durchzuführen. Dafür stand ein mobiles Multigasmessgerät mit einem Schwimmballsensor zur Verfügung, der für 42 Substanzen geeignet ist. Zudem war laut Arbeitsanweisung vorgegeben, dass während der Arbeiten im Kessel nur mit Atemschutz mit Frischluftzufuhr gearbeitet werden darf. Diese Vorgabe wurde von den Beschäftigten jedoch nicht beachtet, da sie sich auf das befundlose Ergebnis der Freimessung verlassen hatten. Weitere Angaben waren in der Arbeitsanweisung nicht enthalten.
Wichtig: Ausführlicher Reinigungsauftrag
Bei dem Einstieg darf es keinen Zweifel über die Art und Zusammensetzung des zuletzt geladenen Produktes im Kesselwagen geben. Ein wichtiges Dokument ist daher ein ausführlicher Reinigungsauftrag, in dem dargestellt ist, welche Sicherheitsanforderungen während der Reinigung eingehalten werden müssen. So sollte der Auftrag neben den grundlegenden Schutzmaßnahmen wie Verwendung von Atemschutz, Freimessung, Sicherung der in den Kessel eingestiegenen Person und Rettungsmaßnahmen im Gefahrfall auch immer konkrete Angaben enthalten über
- das zuletzt geladene Produkt/Produktname (siehe zum Beispiel Frachtpapiere),
- die chemische Bezeichnung/Zusammensetzung des Produkts (zum Beispiel nach Sicherheitsdatenblatt)
- und das zu verwendende Reinigungsmittel.
Unfall vorprogrammiert
Durch das Fehlen entsprechender Angaben war der Unfall eigentlich vorprogrammiert. Da das in dem Kesselwagen transportierte Produkt „Acetaldehyd“ noch weitere Gefährdungen auslösen kann, war es nur einem glücklichen Umstand zu verdanken, dass nicht größerer Schaden entstanden ist. Die Festlegungen der zuständigen Gewerbeaufsichtsbehörde beinhalteten deshalb die vollständige Überarbeitung der Gefährdungsbeurteilung und der daraus abgeleiteten Arbeitsanweisung. So dürfen Arbeiten im Inneren von Kesselwagen nur noch mit Atemschutz mit Fremdluftversorgung ausgeführt werden – und zwar unabhängig davon, welches Ergebnis die Freimessung anzeigt.
Doch welche Gefahren gehen nun konkret von dem Produkt „Acetaldehyd“ aus? Hier hilft zum Beispiel ein Blick in die GESTIS-Stoffdatenbank. Acetaldehyd, auch Ethanal oder Essigsäurealdehyd (CAS-Nr. 75–07–0) genannt, ist eine Flüssigkeit, die in der chemischen Industrie unter anderem zur Herstellung von Essigsäure, Acrolein und Butadien verwendet wird. In der GESTIS-Stoffdatenbank finden sich dazu folgende Gefahrenhinweise:
- H224: Flüssigkeit und Dampf extrem entzündbar.
- H319: Verursacht schwere Augenreizung.
- H335: Kann die Atemwege reizen.
- H341: Kann vermutlich genetische Defekte verursachen.
- H350: Kann Krebs erzeugen.
Daraus werden die folgenden Sicherheitshinweise abgeleitet:
- P202: Vor Gebrauch alle Sicherheitshinweise lesen und verstehen.
- P210: Von Hitze, heißen Oberflächen, Funken, offenen Flammen sowie anderen Zündquellen fernhalten. Nicht rauchen.
- P233: Behälter dicht verschlossen halten.
- P305+P351+P338: Bei Kontakt mit den Augen: Einige Minuten lang behutsam mit Wasser spülen. Eventuell vorhandene Kontaktlinsen nach Möglichkeit entfernen. Weiter spülen.
- P308+P313: Bei Exposition oder falls betroffen: Ärztlichen Rat einholen/ärztliche Hilfe hinzuziehen.
- P403+P233: An einem gut belüfteten Ort aufbewahren. Behälter dicht verschlossen halten.
Zusätzlich enthält das GESTIS-Stoffdatenblatt umfassende Hinweise zur Arbeitsmedizin und Ersten Hilfe. Als Hauptaufnahmeweg für Acetaldehyd ist der Atemweg angegeben, da sich aufgrund der hohen Flüchtigkeit des Stoffs bereits bei Raumtemperatur schnell extrem hohe Dampfkonzentrationen ausbilden können. Die Folgen sind meist massive Reizungen der Atemwege. Hinzu kommt eine Reizwirkung auf die Augen und die Haut.
Im Punkt „Technische Schutzmaßnahmen – Brand- und Explosionsschutz“ wird auf die Möglichkeit der Bildung von gefährlicher explosionsfähiger Atmosphäre verwiesen. Unter anderem sind Maßnahmen gegen elektrostatische Aufladung zu treffen – zum Beispiel durch das Erden aller Teile, die sich gefährlich aufladen können. Zudem werden weitere wichtige Hinweise zum Einsatz adäquater Persönlicher Schutzausrüstung gegeben.
Wären diese Informationen den Beschäftigten in geeigneter Form übermittelt worden, hätte der Unfall vermieden werden können. Deshalb ist es insbesondere bei der Übertragung neuer, bisher noch nicht durchgeführter Tätigkeiten wichtig, dass im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung alle notwendigen Gefahren ermittelt, die erforderlichen Schutzmaßnahmen getroffen und an die Beschäftigten in Form von fallbezogenen Arbeitsanweisungen weitergegeben werden. Um das Erstellen der Gefährdungsbeurteilung zu vereinfachen, können zum Beispiel die bereits erwähnte GESTIS-Stoffdatenbank oder die Programme GisChem oder GisBau als Unterstützung genutzt werden.
Autor: Dipl.-Ing. Ulf‑J. Schappmann
Sicherheitsingenieur VDSI
SIMEBU Thüringen GmbH
Weiterführende Informationen
- Betriebssicherheitsverordnung
- Gefahrstoffverordnung
- DGUV Regel 113–004 Behälter, Silos und enge Räume. Teil 1: Arbeiten in Behältern, Silos und engen Räumen. Februar 2019
- DGUV Information 213–055 Arbeiten in Behältern, Silos und engen Räumen. Zugangs‑, Positionierungs- und Rettungsverfahren. Stand 9/2020
- DGUV Information 214–029 Sicheres Arbeiten bei der Tankfahrzeug-Innenreinigung (alt: BGI 5091). Hinweis: Die DGUV Information wurde 2018 zurückgezogen, kann aber immer noch als Erkenntnisquelle verwendet werden.
- GESTIS-Stoffdatenbank; https://dguv.de/ifa/gestis/gestis-stoffdatenbank/index.jsp
- GisChem Gefahrstoffinformationssystem Chemikalien der BG RCI und BG HM;
www.gischem.de - GisBau Gefahrstoffinformationssystem der BG Bau (WINGIS);
www.wingisonline.de