Neben der gesetzlichen Verpflichtung, PSA zu verwenden, gibt es in vielen Unternehmen eigene, mit der Belegschaft abgestimmte Sicherheitsregeln mit selbstverpflichtendem Charakter. Diese „Commitments“ besagen: „Wir tragen stets die richtige PSA bei unseren Tätigkeiten“. Dennoch begegnen Sicherheitsbeauftragten auch hier Kolleginnen und Kollegen, die diesen Grundsatz missachten. Gibt es womöglich Grenzen und Hindernisse für das Einhalten von Regeln, die wir übersehen?
Verschiedene Hemmschwellen
Oft bestehen Hemmschwellen, Kolleginnen und Kollegen auf Fehlverhalten wie „Schutzausrüstung nicht getragen“ aufmerksam zu machen. Trotz Selbstverpflichtungsregeln in der Kommunikation zu und über Sicherheit ist es in den meisten Unternehmen immer noch üblich, in dieser Hinsicht ein eher ambivalentes Feedback zu senden: Das Nichttragen von PSA wird als Fehler angesehen.
Das Feedback richtet sich dann oft gegen die Person in Form von Vorwürfen oder Kritik – allzu oft nach dem Motto: Der Schuldige wurde gefunden und muss jetzt dafür „büßen“.
In offenen Fehlerkulturen ist jedoch ein anderes Feedback erwünscht, das sich nicht gegen eine Person richtet. Hier wird nicht nach „Schuld“ gesucht, hier wird das sichere Verhalten gefördert, das im betrieblichen Alltag als selbstverständlich gelten soll. Dies ist eindeutig ein besserer Weg. Er erfordert jedoch ein anderes Verständnis von Sicherheitskultur und der Einbindung der Sicherheitsbeauftragten.
Verhaltensbedingter Ansatz
Je nach Studie und Quelle sind zwischen 80 und weit über 90 Prozent aller Arbeitsunfälle verhaltensbedingt. Sicherheitsbeauftragte setzen zur Reduzierung von Unfallzahlen schon länger beim Verhalten an – gerade, wenn es um die Verwendung von PSA geht. Sie sprechen regelmäßig mit den Kollegen über ihr PSA-Verhalten und versuchen, es mit einer positiven Verstärkung in die richtigen Bahnen zu lenken.
Dazu wird eine angenehme Basis benötigt. „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“ lautet ein Sprichwort, das auch in diesem Kontext beherzigt werden sollte. Es bedeutet: Nicht nur der Inhalt eines Gesprächs ist entscheidend, sondern auch dessen Form inklusive Tonfall und Körpersprache.
Wie lässt sich nun ein Gespräch mit einem verhaltensorientierten Ansatz beginnen – etwa, wenn jemand ohne Schutzbrille angetroffen wird? Ein möglicher Einstieg wäre: „Mir ist aufgefallen, dass du deine Schutzbrille nicht trägst. Ich mache mir Gedanken über deine Sicherheit. Darf ich fragen, warum du sie nicht trägst?“
Je nach Person und Situation können das auch schwierige Gespräche werden. Auch ihre besondere Stellung macht es für Sicherheitsbeauftragte nicht einfach, diese Art von „Aufklärungsgesprächen“ zu führen. Bei all ihren Handlungen sollten sie folgende Punkte im Hinterkopf behalten:
- Niemand möchte sich bewusst verletzen.
- Sicherheitsbeauftragte sind nicht weisungsbefugt. Sie sollten ihre rechtliche Position kennen und entsprechend agieren, sich beispielsweise nicht als Führungskraft aufspielen.
- Menschen handeln nicht immer logisch und reagieren auf gute beziehungsweise richtige Hinweise und Argumente nicht automatisch mit Begeisterung und Akzeptanz.
- Die Aufgabe der Sicherheitsbeauftragten ist es, Kolleginnen und Kollegen anzusprechen beziehungsweise auf etwas aufmerksam zu machen. Es kommt vor, dass sich jemand nicht richtig verstanden und manchmal sogar angegriffen fühlt. Es ist jedoch auch Teil ihrer Aufgabe, damit gut beziehungsweise gekonnt umzugehen. Dies hilft ihnen auch, der gedanklichen „Moralapostel/Besserwisser-Spirale“ zu entkommen.
Wann sollten Sibe handeln?
In der Regel gibt es keine festgelegten Eskalationsstufen, wann was passieren muss. Es sind stets individuelle situative Entscheidungen, wenn Sicherheitsbeauftragte andere auf ihre nicht getragene PSA ansprechen beziehungsweise diesen Umstand wahrnehmen. Auch der persönliche Werkzeugkasten an Handlungsmöglichkeiten und ‑optionen bezieht sich immer auf die Besonderheiten der handelnden Personen und die vorgefundenen betrieblichen Situationen.
Wichtig: Hier agieren Menschen mit Menschen. Das läuft nicht immer richtig oder falsch, sondern wird eher als erfolgreich oder nicht erfolgreich beziehungsweise hilfreich oder nicht hilfreich empfunden. Die jeweils gewählten realen Handlungsoptionen müssen nicht zwangsläufig theoretisch untermauert oder „pädagogisch wertvoll“ sein.
Trotz allem: Die stärksten Werkzeuge von Sicherheitsbeauftragten sind das Gespräch beziehungsweise der persönliche Kontakt. Grundsätzlich zählt: gut zuhören, ausreden lassen, Verständnis aufbringen und sich in die Position des anderen zu versetzen. Sicherheitsbeauftragte sollten sich immer fragen, warum sich eine Person so verhält, wie sie sich verhält, um zielgerichtet agieren zu können.
Argumente entkräften
Wie und womit bekommen Sicherheitsbeauftragte ihr Gegenüber zu packen? Sibe bringen dafür einiges mit: Motivation und das kollegiale Verhältnis, Vertrauen und den Wunsch beziehungsweise die Hoffnung auf eine positive Veränderung bei den Kollegen. Zunächst sollten sie versuchen, in einem persönlichen Gespräch die vorgebrachten Gründe gegen das Tragen der PSA mit lösungsorientierten Argumenten zur Akzeptanzerhöhung zu entkräften. Auf die folgenden beispielhaften Mitarbeiterargumente gegen PSA könnten sie zum Beispiel so reagieren:
- Die Schutzbrille lag zu weit weg.
- „Ich finde es gut, dass du so ehrlich und direkt antwortest. In vielen Fällen ist wie hier Bequemlichkeit das Motiv. Gut, dass du es erkannt hast und nun entsprechend gegensteuern kannst.“
- Die Schutzbrille passte nicht über meine Alltagsbrille.
- Ich habe die Schutzbrille getragen, aber trotzdem kam es zu einer Augenverletzung, weil sie nicht richtig anlag.“
- Ich konnte durch die Brille schlecht sehen, habe sie deshalb abgenommen und ohne sie weitergearbeitet.
- „Es gibt eine große Auswahlmöglichkeit an Produkten für eine Vielzahl von Anwendungsfällen. Da ist bestimmt auch für dich etwas dabei. Ich nehme gerne gemeinsam mit dir Kontakt zur Sifa, dem Werksarzt oder Vorgesetzten auf.“
- „Moderne Schutzbrillen sind in aller Regel bequem, leicht und beschlagen kaum. Sie bieten zudem einen guten Schutz. Hilfe und Rat geben dir gern die Sifa, der Werksarzt oder dein Vorgesetzter.“
Generelle Ablehnung
In nahezu allen untersuchten Betrieben mit Augenverletzungen war eine Schutzbrille vorhanden, die zum Unfallzeitpunkt jedoch nicht getragen wurde. Dazu passt das Zitat eines befreundeten Sicherheitsbeauftragten: „Es sind doch eigentlich mündige Mitarbeiter – und trotzdem verhalten sie sich wie Kinder, wenn es um PSA geht.“
Aus meiner Erfahrung beruht die Nichtanwendung von PSA oft auf genereller Ablehnung: Es wird wohl immer Mitarbeitende geben, die Anforderungen bezüglich Arbeitssicherheit kennen, diese aber nicht umsetzen wollen. Hinter diesem „nicht wollen“ steckt jedoch keinesfalls böse Absicht. Wie schon erwähnt: Niemand verletzt sich absichtlich.
Doch wie kommt man diesem „nicht wollen“ bei? Bei allen anderen Beweggründen ist es einfacher, gute Lösungsmöglichkeiten zu finden (siehe nachfolgende Tabelle 1). Die Punkte „nicht wissen“ und „nicht können“ lassen sich durch Schulungen, Trainings, Unterweisungen etc. beheben.
Kommt also das Argument „Ich war mir der Gefährdung meiner Augen durch die Arbeit nicht bewusst“, sollten Sicherheitsbeauftragte in diese Richtung denken und aktiv werden. Beim Aspekt „nicht wollen“ geht es hingegen um eine Bewusstseins- oder Motivationsfrage.
Anreize zum Motivwechsel setzen
In der Erklärung von Verhalten nehmen Motive eine zentrale Rolle ein. Dahinter steht das Bedürfnis nach einer bestimmten Sache oder einem bestimmten Zustand. Diese werden angestrebt, weil sie angenehme emotionale Konsequenzen, sogenannte „Affekte“, mit sich bringen. Menschen unterscheiden sich dadurch, wie wichtig ihnen verschiedene Motive sind. Man unterscheidet zudem explizite Motive (eigene Bedürfnisse, Wünsche und Ziele) und implizite Motive (Prägungen im frühen beziehungsweise vorsprachlichen Kindesalter).
Anhand ihrer persönlichen Motive lässt sich das Verhalten von Menschen am besten erklären. Bestimmte Situationsfaktoren, also das aktuelle unmittelbare Umfeld im Moment des Verhaltens, sprechen die persönlichen Motive an. Oft braucht es also einen spezifischen Anreiz, um noch schlafende Motive zu wecken.
In Tabelle 1 werden primär leicht erkennbare Motive genannt, die hinter einer Ablehnung stecken können. Aus diesen Motiven lassen sich Kriterien für die Lösung ableiten. Die Kunst besteht darin, persönliche Motive wie etwa mangelnder Tragekomfort, Bequemlichkeit, Unterschätzung der Gefährdung oder Behinderung bei der Arbeitsausführung zu erkennen und gezielt „schlafende“ Bedürfnisse als Motive für eine Verhaltensänderung zu adressieren.
Ein Beispiel: Wenn jemand etwas nicht kann oder nicht wahrnimmt, dann ist es ein guter Anreiz, die Neugier auf dieses Unbekannte als Motiv zu wecken. Diese wird dann durch eine Schulung, ein Training einen Workshop oder ein Seminar befriedigt. Auf diese Weise ersetzt die Freude an der neuen Herausforderung und persönlichen Weiterentwicklung das zunächst vorrangige Motiv „nicht können“.
Ein weiteres Beispiel: Erleben Mitarbeitende das Tragen von PSA als Belastung oder Behinderung und sehen deshalb aus Bequemlichkeitsgründen davon ab, werden die Gründe für das Tragen der PSA zunächst immer dem Bedürfnis nach körperlichem Wohlbefinden untergeordnet. Hier könnte das noch schlafende Bedürfnis nach mehr Sicherheit als Motiv adressiert werden, um die persönliche Motiv-Hierarchie zu verändern, denn nach dem sozialpsychologischen Modell des Psychologen Abraham Maslow, der sogenannten „Bedürfnispyramide“, hat jeder Mensch ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit.
Wenn dies gelingt, überlagert das geweckte Sicherheitsbedürfnis künftig das ursprünglich dominante Motiv der körperlichen Bequemlichkeit: „Ich erkenne jetzt, dass ich aus reiner Bequemlichkeit zu wenig auf mich achte. Das tut mir nicht gut und ich will mich nicht weiter gefährden.“
Wen habe ich vor mir?
Daraus folgt: Wer Menschen zu einer Verhaltensänderung motivieren möchte, sollte bei ihren Einstellungen oder Motiven ansetzen, denn beide steuern das Verhalten. Sicherheitsbeauftragte sollten sich also wie beschrieben zunächst fragen, wen sie vor sich haben und bei welcher Tätigkeit sie die Person gerade antreffen. Sie selbst befinden sich stets in einer Situation von Freiwilligkeit und ohne Zwang. Das ist bei ihrem Gegenüber womöglich nicht so.
Positive und negative Verstärker
Eine andere Handlungsmöglichkeit besteht in positiven oder negativen Verstärkern. Ein positiver Verstärker ist ein Reiz, der die gewünschte Reaktion attraktiver macht. Somit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für eine Wiederholung des richtigen Verhaltens. Ein positiver Verstärker könnte zum Beispiel eine in Aussicht gestellte Belohnung sein: „Wenn du die Brille stets trägst, kannst du bei der Verlosung unter allen nachweislichen Verwendern einen Gutschein für dein positives Verhalten und deine Vorbildfunktion gewinnen.“
Ein negativer Verstärker stabilisiert das gewünschte Verhalten, indem eine unerwünschte Nachwirkung ausbleibt. Wichtig: Es handelt sich hierbei nicht um eine Bestrafung! Ein Beispiel für einen negativen Verstärker wäre: „Wenn ich sehe, dass du die Brille regelmäßig trägst, komme ich nicht wieder vorbei und nerve dich mit meinen Fragen oder Ratschlägen.“
Die Motivationskeule
Wenn man anderen auf die Sprünge helfen möchte, die aus einer inneren Überzeugung etwas tun beziehungsweise nicht tun, ist das stets eine Herausforderung. Um auf sie einwirken zu können, sollten Sicherheitsbeauftragte nach Motiven, Anreizen oder Verstärkern suchen, die bei ihnen wirksam sind beziehungsweise erfolgreich oder hilfreich sein könnten.
Doch viele Sicherheitsbeauftragte kennen auch das: Sie klären auf, diskutieren, versuchen zu überzeugen, motivieren und nutzen Aspekte der Lernpsychologie. Alle Hindernisse, die Arbeitssicherheitsvorgaben einzuhalten, wurden ausgeräumt. Und dennoch kommt es zu keiner Verhaltensänderung. In dieser Situation hilft dann wohl nur noch eins: die „Motivationskeule“.
Von Anreizen war bereits die Rede. Vom Wortstamm her steckt darin das Verb reizen. Eine Person zu reizen bedeutet, sie entweder zu einer bestimmten Reaktion zu verlocken oder sie ganz einfach in Aufregung zu versetzen. Die folgenden Beispiele zum Klassiker „ohne Schutzbrille im Einsatz“ können mit etwas Kreativität und Fantasie auch auf andere Persönliche Schutzausrüstungen übertragen werden. Sie stammen aus eigenen Erfahrungen und den Berichten von befreundeten Sicherheitsbeauftragten. Bei der Verwendung dieser Praxistipps ohne erhöhten pädagogischen Anspruch ist allerdings „Fingerspitzengefühl“ gefragt:
- Nur auf nonverbale Zeichen setzen: beim Vorbeigehen auf die Augen zeigen oder mit einer Schutzbrille winken.
- Anleihe aus dem Film Casablanca: „Kennst du den berühmtesten Trinkspruch aus der Filmwelt? In ‚Casablanca‘ sagt Rick – Humphrey Bogart – zu Ilsa – Ingrid Bergman – ‚Ich schau dir in die Augen, Kleines!‘ Ich möchte diesen Satz für dich ergänzen: Ich schau dir in die Augen und sehe keine Schutzbrille.“
- Die schwarze Augenklappe: Einem Mitarbeiter, der trotz wiederholter positiver Ansprache/Motivation keine Schutzbrille trägt, eine schwarze Augenklappe reichen mit den Worten: „Bitte schön, die brauchst du bald“. Im real zugrundeliegenden Fall entwickelte sich daraufhin zunächst ein kritisches Gespräch. Zu guter Letzt tauschte der Betroffene jedoch die Augenklappe freiwillig gegen die ebenfalls mitgebrachte Schutzbrille. Alternativ kann auch der Sicherheitsbeauftragte selbst die Augenklappe tragen und das Gespräch suchen nach dem Motto: „Das ging bei mir wohl doch ins Auge.“
- Einen sarkastisch eingefärbten Witz zu den ungeschützten Augen machen: „Hast ja zwei – wozu beide nutzen.“ oder „Bald kannst du dauerhaft eins zukneifen.“
- Speziell für Fußballfans „Dann musst du dir den Scheiß, den deine Mannschaft spielt, nicht mehr zu 100 Prozent ansehen.“
- Drastische Plakate: Aussagekräftige Poster zum Augenschutz in Arbeitsplatznähe so aufhängen, dass sie nicht zu übersehen sind. In anderen Ländern stehen hierfür tendenziell stärkere Schockmotive zur Verfügung.
- Authentische Darstellung: Einen zuvor am Auge verletzten Kollegen zur Unterstützung mitnehmen und zusammen mit ihm das offene Gespräch suchen.
- Storytelling: Die traurige Story vom Vater mit den dauerhaft verletzten Augen erzählen, der sein neugeborenes Kind nicht mehr sehen konnte, weil er vor der Geburt nicht achtsam genug zu sich selbst war und nun blind ist. Die Botschaft dahinter: Schäden an den Augen durch Fremdkörper, Gefahrstoffe oder durch optische, elektrische und thermische Gefährdungen sind nicht selten irreversibel und führen zu viel Leid.
- Frage der Evolution: „Kennst du das Darwin Prinzip: ‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘ oder ‚Lernen durch Schmerz‘? Die Klugen im Arbeitsschutz werden gesund mit beiden Augen weiterleben.“
Führungskraft einschalten
Hilft alles nichts, müssen sich Sicherheitsbeauftragte ab einem gewissen Zeitpunkt Verstärkung holen, sprich, „die höhere Spielkarte besorgen, um einen Stich zu landen“. Bewusst dauerhaftes Missachten von PSA-Vorschriften ist ein Fall für die zuständige Führungskraft mit ihren weiterreichenden Werkzeugen und Kompetenzen. Dann geht es nicht mehr über die Schiene „als Kollege rate ich dir“.