Arbeiten 4.0 und die Digitalisierung der Arbeitswelt ist in aller Munde. Der Tenor der Kommentare und Erwartungen reicht vom Arbeitsplatzverlust bis zur Wettbewerbsstärkung und zum wirtschaftlichem Aufschwung. Welche Prognosen sich bewahrheiten, bleibt abzuwarten. Bis dahin muss der Wandel der Arbeitsbedingungen und ‑formen so menschengerecht wie möglich gestaltet werden. Die gesetzliche Unfallversicherung kann und will hier eine zentrale Rolle spielen.
Die gesetzliche Unfallversicherung ist seit dem 1. Oktober 1885 eine feste Größe in der deutschen Sozialversicherungslandschaft. Sie hat zwei Weltkriege überdauert und die Deutsche Einheit gemeistert. Sie stärkt heute immer noch erfolgreich, ja vielleicht sogar erfolgreicher als in ihren Anfängen die Sicherheit und Gesundheit der Menschen bei der Arbeit. Dies ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass sie auf Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft immer sensibel reagiert hat und zu Veränderungen bereit war.
Veränderungen beobachten
In besonderer Weise gilt dies für die Prävention: Um Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren mit allen geeigneten Mitteln zu verhüten, wie es Paragraph 1 des Sozialgesetzbuches VII als eine Aufgabe für die Unfallversicherung definiert, müssen die Bedingungen, unter denen Arbeit stattfindet, permanent beobachtet werden: Was verändert sich? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten? Welche Maßnahmen sind erforderlich, um etwaigen Negativfolgen vorzubeugen oder sie bestmöglich abzumildern? Diese Fragen begleiten uns von jeher und so stellen wir sie uns selbstverständlich auch mit Blick auf den aktuellen Wandel der Arbeitswelt.
Dabei hilft ganz wesentlich die sozialpartnerschaftliche Organisation der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Vertretun-gen von Arbeitgeber- und Beschäftig-tenseite bringen ihre praktischen und branchenspezifischen Erfahrungen aus den Betrieben im Rahmen der Selbstverwaltung ein. Daneben greifen die Aufsichtspersonen der Unfallversicherungsträger regelmäßig aktuelle Fragen im betrieblichen Arbeitsschutzalltag auf und tragen sie weiter in die Gremien und Institute, die darauf Antworten für die Praxis geben können.
Risikobeobachtung als neues Instrument
Tatsächlich hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Spitzenverband und Interessenvertretung von Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, bereits vor geraumer Zeit damit begonnen, den beobachtenden Blick über die Gegenwart und den aktuellen Präventionsbedarf hinaus zu weiten: Mit der Installation eines mit vielen Partnern weltweit zusammenarbeitenden Risikoobservatoriums entstand 2011 ein Instrument zur systematischen Vorausschau auf Veränderungen und Herausforderungen der Zukunft. Das Ziel: proaktives Präventionshandeln. Und die Ergebnisse der ersten Befragungsrunde bestätigen, was uns heute Medien und soziale Netzwerke unermüdlich verkünden: Digitalisierung durchdringt alle Bereiche unseres Lebens und schafft eine Arbeitswelt 4.0 mit teils völlig neuen Rahmenbedingungen für den Arbeitsschutz. Vernetzung, Erreichbarkeit und Kontrolle durch Computer und Informationstechnologien, eng verknüpft mit zunehmender Arbeitsverdichtung, sind die Themen, die die Präventionsarbeit von Berufsgenossenschaf-ten und Unfallkassen in den kommenden Jahre in besonderem Maße fordern werden und dies bereits tun.
Strukturwandel ist die Folge
Digitalisierung hat viele Gesichter und vielfältige Auswirkungen auf die Sicherheit, Gesundheit und das Wohlbefinden von Beschäftigten. Der Einsatz digitaler Technologie ist mehr als nur neue Technik. Er greift in die sozio-ökonomischen Arbeitsbedingungen ein und schafft damit weit mehr als nur den Bedarf nach ein paar neuen Sicherheitsanforderungen. Digitalisierung beginnt früh, bereits im Schulalltag: Informationsflut und Überforderung können so schon die ganz Jungen unter unseren Versicherten betreffen. Digitaler Wandel erfasst nicht nur die Produktion, sondern alle Bereiche wirtschaftlichen Handelns, von der Entwicklung über die Planung bis hin zum Management. Digitalisierung macht mobil und flexibel und erlaubt nahezu durchgehendes Arbeiten, daheim ebenso wie unterwegs auf dem Weg zum Arbeitsplatz oder zum nächsten Termin. Arbeitsverdichtung, Entgrenzung der Arbeit und eine gestörte oder fehlende Work-Life-Balance sind mögliche Folgen. Gleichzeitig wecken Möglichkeiten der digitalen Verhaltens- und Leistungskontrolle Befürchtungen und erhöhen den Druck auf Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
Neue Gefahren und Anforderungen
Innovative Fertigungstechniken und Arbeitsmethoden, Stichwort kollaborieren-de Roboter, können neue Unfallgefahren schaffen. Oder sie generieren bislang unbekannte Gefahrstoffbelastungen — man denke an die Nanotechnologie. Zunehmende Vernetzung, ob von Produktionssystemen oder Arbeitsplätzen generell, erhöht das Risiko von Datenangriffen oder ‑manipulation. Digitalisierung verdrängt manuelle Tätigkeiten und begünstigt Bewegungsarmut, einseitige körperliche oder mentale Belastungen oder Kombinationen aus beidem. Digitale Medien und Arbeitsverfahren stellen wachsende Anforderungen an Qualifikationsinhalte und ‑methoden, aber auch an die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen, was insbesondere im Zusammenhang mit der wachsenden Zahl älterer Erwerbstätiger eine besondere Herausforderung darstellt. Digitale Technologien schaffen schließlich auch völlig neue Formen der Arbeit, wie Crowd- und Clickworking, für die sich weit mehr als die Frage nach der Erfüllung des gesetzlichen Präventionsauftrages stellt. Hier geht es ganz grundsätzlich darum, neu zu überlegen, wer in Deutschland unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht.
Chancen des digitalen Wandels
Auf den ersten Blick mögen potenzielle Negativfolgen für die Beschäftigten überwiegen. Wir dürfen aber nicht außer Acht lassen, dass sich mit dem digitalen Wandel auch ein großes Potenzial verknüpft, Arbeit künftig sicherer, gesünder, flexibler und auch integrativer zu gestalten. Die Möglichkeiten reichen von intelligenter Sicherheitstechnik und virtuellem Engineering über medizinische Innovationen für Diagnose und Behandlung bis zu digitalen Qualifikationshilfen.
Der Exkurs macht deutlich: Es gibt viel zu tun für die gesetzliche Unfallversiche-rung. Und: Technologischer Fortschritt beschert uns vielfältige Möglichkeiten, die Zukunft des Arbeitsschutzes aktiv zu gestalten. Dass wir das nicht nur verstanden haben, sondern bereits zu einem Teil unseres Tagesgeschäftes gemacht haben, belegen folgende Beispiele.
Revolution der Produktion
Digitalisierung der Arbeitswelt bedeutet auch Digitalisierung der Industrie, also Vernetzung und Automatisierung von Produktionsprozessen (oft als Industrie 4.0 bezeichnet). Die gesetzliche Unfallversicherung setzt sich seit langem mit ihren Forschungsinstituten und Prüfstellen für die funktionale Sicherheit von Systemen und Automatisierungstechnik ein. In enger Abstimmung mit der Industrie entstanden und entstehen so praxistaugliche berührungslose Sensortechnologien, Sicherheitsantriebe und ‑steuerungen, die den jeweiligen Stand der Technik abbilden.
Kollaborierende Roboter
Ein viel zitierter Schritt in Richtung (teil)automatisierte Fertigung ist der Einsatz von Robotern, die im direkten Kontakt mit dem Menschen arbeiten. Dass die Arbeit mit solchen kollaborierenden Robotern in konkreten industriellen Anwendungsfällen inzwischen gefahrlos stattfinden kann, dafür hat die gesetz-liche Unfallversicherung die Voraussetzungen geschaffen und entsprechende Anforderungen definiert: technologische, medizinische, biomechanische, prüftechnische, ergonomische und arbeitsorganisatorische.
Einsatz von CPS
Datenbrillen und sogenannte cyber-physische Systeme (CPS), die Verknüp-fung von Software-Komponenten mit mechanischen und elektronischen Teilen über ein Datennetz, gewinnen zunehmend an Bedeutung in der betrieblichen Praxis. Auf Seiten der Unfallversicherung wurde deshalb bereits mit einer Sicherheitsbewertung begonnen, aber auch mit der Untersuchung möglicher Anwen-dungsfelder im Arbeitsschutz. Gleiches gilt für am Körper tragbare Computersysteme, die physiologische Messdaten erfassen (Wearables). Sie sind eines von vielen aktuellen Produkten des digitalen Fortschritts. Ob die Geräte auch für den Einsatz an Arbeitsplätzen zu Arbeitsschutzzwecken geeignet sind, ist eine Frage, der wir ebenfalls nachgehen.
Mobile IT-Arbeit
Den großen Themenbereich der mobilen IT-gestützten Arbeit bearbeitet die Unfallversicherung bereits seit mehreren Jahren: Belastungsbeschreibungen, Handlungsanleitungen, Gestaltungsempfehlungen für mobile IT-gestützte Arbeit oder Positivlisten mit sicheren Produkten sind konkrete Ergebnisse, die der Praxis inzwischen zur Verfügung stehen. Weitere Arbeiten laufen, beispielsweise zur Ablenkung durch mobile Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT).
Nanotechnologie und 3D-Drucker
Die Freisetzung speziell hergestellter Nanopartikel in modernen Produktionsverfahren ist nicht erst seit gestern ein Präventionsthema für Berufsgenossenschaf-ten und Unfallkassen. Informationen zur gesundheitlichen Wirkung, zur Messung und zu Schutzmaßnahmen finden Betriebe bereits seit 2014 auf dem Nano-Portal der DGUV unter nano.dguv.de/home. Um die immer noch zahlreichen ungeklärten Fragen zum Thema anzugehen, beteiligt sich die Unfallversicherung mit ihren Forschungsinstituten seit Jahren an internationalen Projekten und arbeitet zurzeit mit am Aufbau einer internationalen Expositions-Datenbank.
3D-Drucker finden immer größere Verbreitung. Derzeit fehlen Untersuchungen aus Deutschland, die eine Aussage treffen über mögliche gesundheitliche Gefährdungen durch Emissionen aus diesen Geräten. Ein aktuelles Projekt der DGUV will diese Wissenslücke schließen.
Dynamische Arbeitsstationen
Bewegungsmangel und Folgeerkrankun-gen durch eine Ausweitung von Bildschirmarbeit gewinnen an Bedeutung. Hier hat die Unfallversicherung bereits erste Ergebnisse zur Wirksamkeit und Eignung dynamischen Arbeitsstationen vorgelegt. Zurzeit läuft ein Praxisprojekt zur Implementierung dynamischer Büroarbeitsplätze in einem Mitgliedsbetrieb. Für 2016 ist eine betriebliche Inter-ventionsstudie geplant, die konkrete Empfehlungen zum Einsatz dynamischer Arbeitsstationen liefern wird.
Förderung einer Kultur der Prävention
Neue, durch Digitalisierung flexibilisierte Arbeitsformen und ‑orte werden den Beschäftigten in Zukunft mehr Selbstverantwortung für sicheres und gesundes Arbeiten abverlangen. Hier kann die Förderung einer Präventionskultur in den Unternehmen und Einrichtungen hilfreich sein. Deshalb hat die DGUV gemeinsam mit ihren Trägern eine langfristige deutschlandweite Kampagne beschlossen, die ab 2017 die Entwicklung einer Präventionskultur befördern soll.
Fazit
Die Liste der Initiativen ließe sich noch ein Weilchen fortsetzen. Die genannten Beispiele aber belegen bereits: Wir, will heißen die gesetzliche Unfallversicherung, sind am Ball. Und: Präventionsforschung spielt angesichts der Herausforderungen der neuen Arbeitswelt eine zentrale Rolle. Sie muss finanziell und personell so gut ausgestattet sein, dass sie neue Risiken möglichst frühzeitig und rasch identifizieren und bewerten kann – angesichts der Schnelllebigkeit unserer Zeit und der Komplexität vieler Entwicklungen ein Muss.
Aber auch geeignete Qualifizierung, Kommunikation und vor allem Abstimmung und Kooperation mit anderen beteiligten Akteuren im sozialpolitischen Raum sind notwendig, um menschgerechtes Arbeiten auch in Zukunft sicher zu stellen. Denn eines ist klar: Veränderungen in der Arbeitswelt werden nicht nur bestimmt von technologischem Fortschritt, Digitalisierung und Vernetzung. Demographische Einflüsse, Wertewandel und Globalisierung sind nicht minder wichtige Faktoren, die sich gegenseitig in ihren Effekten beeinflussen und zu einem komplexen Ganzen zusammenwirken. Wo die gesetzliche Unfallversicherung wichtige Handlungsfelder und Leitfragen für den Arbeitsschutz der kommenden Jahre sieht, hat sie in ihrer Kommentierung des BMAS-Grünbuchs „Arbeiten 4.0“ auf den Punkt gebracht. Dass sie die Zukunft der Arbeit aktiv mitgestalten will, steht außer Frage. Dass sie es kann, auch.
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