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Der vorliegende Artikel beschreibt die Konsequenzen einer weitgehend personenzentrierten Ursachenforschung bei Arbeitsunfällen. Gleichzeitig unterstreicht er die Bedeutung einer systemzentrierten Perspektive für die Schaffung eines effektiven Sicherheits- und Präventionsmanagements im Sinne eines gesundheitsorientierten Unternehmens. Simulationsmodelle spielen hier eine bedeutende Rolle.
Dr. Fabian-Simon Frielitz, Stefan Koch
Laut der International Labour Organization kommt es weltweit zu 317 Mio. Arbeitsunfällen mit 2,3 Mio. Todesfällen jährlich. Der wirtschaftliche Schaden wird auf vier Prozent des Bruttoweltprodukts (BWP) geschätzt [1]. Die Arbeitsunfähigkeit in Deutschland führt nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zu einem volkswirtschaftlichen Produktionsausfall in Höhe von 53 Mrd. Euro. Gleichzeitig ergeben sich mit einer durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit von 14,1 Tagen je Arbeitnehmer für das Jahr 2012 insgesamt 521,6 Mio. Arbeitsunfähigkeitstage [2].
Paradigmenwechsel im Arbeitsschutz
Unternehmen wissen um die humanitäre, wirtschaftliche und rechtliche Bedeutung von Arbeitssicherheit, da Produktionsstillstände, Lieferverzögerungen, interner und externer Imageverlust, Strafzahlungen u.ä. zu wirtschaftlichen Folgen weit über die eigenen Unternehmensgrenzen hinaus führen können. Das Arbeitsschutzgesetz mit seinen verschiedenen Verordnungen bildet dabei die Grundlage für die Konzeptionierung eines effektiven Sicherheits- und Präventionsmanagements am Arbeitsplatz. Bisher haben allerdings nur 20 Prozent aller Betriebe Maßnahmen zur Gesundheitsförderung umgesetzt [3]. Dass sich dieses Engagement für die Unternehmen auszahlt, wurde mehrfach belegt [3, 4]. Demnach ergibt sich ein Return-on- Investment (ROI) für betriebliche Gesundheitsförderung zwischen 1:2 und 1:6.
In diesem Kontext gilt es allerdings, den Arbeitsschutz genauer zu definieren, da sich der traditionelle Arbeitsschutz weg von mechanischen sowie körperlichen Gefährdungsfaktoren durch Automatisierung und Mechanisierung von Arbeitsprozessen und hin zu psycho-physiologischen Faktoren wandelt, die vermehrt in den Bereichen Arbeitsorganisation, Arbeitszeit und Sozialbeziehungen auftreten oder aus dem Arbeitsumfeld entstehen, z.B. durch Informations- und Kommunikationstechnologien. Sicherheit und Gesundheit im Unternehmen werden nicht mehr nur unter dem Blickwickel von Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit allein betrachtet, sondern zunehmend unter dem Aspekt der Prävention mit dem Ziel, vorausschauend und ganzheitlich für die Gesundheit der Beschäftigten zu sorgen. So stand auch der 20. Weltkongress für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit im Rahmen des Globalen Forums Prävention unter dieser Thematik [5].
Das europäische Arbeitsschutzrecht und das deutsche Arbeitsschutzgesetz von 1996 enthalten bereits den Präventionsgedanken. Darüber hinaus wurde 2013 der Versuch unternommen, ein eigenes Präventionsgesetz zu verabschieden zur Stärkung der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung in Deutschland. Gerade vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, welcher eine längere Lebensarbeitszeit erwarten lässt, nimmt die Prävention eine immer bedeutsamere Rolle für Unternehmen ein. Das setzt jedoch Sensibilität für das Thema in den Betrieben voraus, welche nur dann entstehen kann, wenn notwendiges Fachwissen über Arbeitsabläufe vorhanden ist, wenn Gefahren bei der Interaktion von Mensch und Maschine bewusst wahrgenommen werden und technische Rahmenbedingungen im Unternehmen regelmäßig überprüft sowie physische und psychische Belastungen, die auf die Belegschaft einwirken, erfasst und dokumentiert werden.
Präventionsstrategie: Einfluss der betrieblichen Gesundheitsförderung
Auch die betriebliche Gesundheitsförderung [6] hat einen nachhaltigen Einfluss auf die Präventionsstrategie eines Unternehmens und stößt zunehmend auf großes Interesse, da es sich um ein geeignetes Instrument handelt, auf die gesundheitliche Beanspruchung der Belegschaft angemessen und rechtzeitig zu reagieren. Hierdurch wird Lebensqualität erhalten und gefördert sowie Gesundheitsbewusstsein gestärkt mit dem Ziel, Gesundheitsressourcen zu schonen, um die zur Verfügung stehende Arbeitskraft im Unternehmen effektiv zur Wertschöpfung bündeln und abrufen zu können. Gleichzeitig trägt dies auch zur Entlastung der Sozialsysteme bei.
Hierfür müssen Handlungsstrategien entwickelt werden, die einer umfassenden Gestaltung der Beziehung Mensch-Organisation-Arbeit dienen. Dabei sollte nicht allein die klassische Pathogenese im Vordergrund stehen, sondern gerade auch die Salutogenese nach Antonovsky, welche die Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden vorsieht. Zudem sollten die Leitlinien der Luxemburger Deklaration [7] bei der Umsetzung betrieblicher Gesundheitsförderung Berücksichtigung finden (siehe Abb. 1).
Dabei können einige Aspekte der bisherigen Präventionspraxis in Frage gestellt werden, da bereits bei der Risikoanalyse, der Basis einer erfolgreichen Präventionsstrategie, oftmals von falschen Grundannahmen ausgegangen wird. So werden Unfälle in vielen Unternehmen nach wie vor meist auf menschliches Versagen zurückgeführt, ohne das systemimmanente Framework zu hinterfragen, welches es dem Mitarbeiter überhaupt erst ermöglicht einen Fehler zu machen. So zeigt Abbildung 2 einige Faktoren, welche das Sicherheitsverhalten eines Mitarbeiters beeinflussen können. Hierbei kann vereinfachend unterstellt werden, dass das Sicherheitsverhalten des Mitarbeiters die einzige lineare Einflussgröße darstellt.
Simulation als Analyse- und Illustrationsinstrument
Grundsätzlich kann jedoch angenommen werden, dass ein Mitarbeiter nicht willentlich sich selbst oder anderen Schaden zufügt. Daher muss die Präventionsstrategie an den systemspezifischen Schwachstellen ansetzen. Die klassische quantitative Risikoanalyse (QRA) ist hierbei nur bedingt zielführend, da damit lediglich lineare Ursachen-Wirkungsbeziehungen dargestellt werden können. Die systemdynamische Simulation als betriebswirtschaftliches Analyseinstrument bietet dagegen sowohl die Möglichkeit Ursachen-Wirkungs- als auch Rückkopplungsbeziehungen und Kreisläufe abzubilden und zu untersuchen. Da es grundsätzlich keine ideale, sondern nur eine temporär- und lokal- optimale Präventionsstrategie geben kann, erlaubt die Simulation zudem eine ressourcensparende Untersuchung von möglichen Alternativ- und Zukunftsszenarien. Im Rahmen der laufenden Untersuchung wird die systemdynamische Simulationssoftware „Vensim“ von Ventana Systems für die Modellierung genutzt [9].
Viele Mitarbeiter sind sich der Konsequenzen ihres Handelns nicht bewusst, da selbst gutgemeinte Handlungen ungewollte Folgen auf das Gesamtsystem haben können. So kann ein Mitarbeiter sich beispielsweise nicht vorstellen, dass lokal-rationales Verhalten nicht zu einem kollektiv-optimalen Ergebnis führen muss. Gerade das Abbilden von Rückkopplungsbeziehungen und Kreisläufen ist deshalb ein wichtiger Aspekt bei der Findung einer optimalen Präventionsstrategie und erlaubt zudem, Mitarbeitern die Folgen ihres Handelns nachvollziehbar zu vermitteln.
Abbildung 3 zeigt auszugsweise eine Erweiterung des Grundmodells zu system-relevanten Einflussgrößen sowie Rückkopplungsbeziehungen und Kreisläufen. Kennzahl für die Bewertung ist dabei nicht die Verletzungsrate, sondern das Ausmaß der Verletzung, da dieses neben der Anzahl der tatsächlichen Verletzungen auch Rückschlüsse über die Länge des Ausfalls des Mitarbeiters, die damit verbundenen Kosten etc. zulässt [10].
Handlungsempfehlungen für das Management
Die Vermeidung von Gesundheitsschäden ist ein Teil der sozialen Verantwortung von Unternehmen und trägt dem Gedanken unternehmerischer Nachhaltigkeit Rechnung. Die Investition in Arbeitssicherheit, Arbeits- und Gesundheitsschutz kann nur dann effektiv greifen, wenn eine systemzentrierte Präventionsstrategie implementiert wird. Die nach wie vor weit verbreitete personenzentrierte Perspektive schließt die Findung und Implementierung einer optimalen humanitären und ökonomischen Präventionsstrategie allerdings aus, da die systemimmanenten Ursachen unangetastet bleiben [13].
Der professionelle Einsatz der Simulation kann dazu beitragen, Gefahren durch einen systemzentrierten Ansatz zu identifizieren und deren Ursachen rechtzeitig zu begegnen. Regelmäßige quantitative und qualitative Erhebungen helfen, das Simulationsmodell noch genauer an die unternehmerische und sozio-kulturelle Realität anzupassen. Dies kann allerdings nur dann gelingen, wenn im Unternehmen interdisziplinär eine ganzheitliche betriebliche Gesundheitsförderung und systemzentrierte Präventionsstrategie verfolgt wird.
Literatur
- 1. International Labour Organisation (2014): Safety and health at work, in: http://www.ilo.org/global/topics/safety-and-health-at-work/lang–en/index.htm, 09.04.2014.
- 2. BAuA (2012), http://www.baua.de/de/Informationen-fuer-die-Praxis/Statistiken/Arbeitsunfaehigkeit/pdf/Kosten-2012.pdf?__blob=publicationFile&v=2, 09.04.2014.
- 3. Institut für Betriebliche Gesundheitsförderung (2014): Betriebliche Gesundheitsförderung für gesunde Unternehmen, in: http://www.bgf-institut.de, 09.04.2014.
- 4. Meiler, R. (2010): Prävention als kontinuierlicher Verbesserungsprozess – Ein integriertes betriebliches Gesundheitsmanagement, S. 30, in: Kroll, D.; Dzudzek, J. (Hrsg.): Neue Wege des Gesundheitsmanagements – „Der gesunderhaltende Betrieb“, Das Beispiel Rasselstein, 1. Auflage, Wiesbaden.
- 5. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (2014): XX. Weltkongress für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2014 – Globales Forum Prävention, https://www.safety2014germany.com/de/home/home.html, 09.04.2014.
- 6. legaldefiniert in § 20a I Satz 1 SGB V.
- 7. Unternehmensnetzwerk zur betrieblichen Gesundheitsförderung in der Europäischen Union e.V. (2014): Die Luxemburger Deklaration zur betrieblichenGesundheitsförderung in der EU, in: http://www.luxemburger-deklaration.de/fileadmin/rsdokumente/dateien/LuxDekl/Luxemburger_Deklaration_09–12.pdf, 09.04.2014.
- 8. DeJoy, D. M. et al. (2004): Creating safer workplaces: assessing the determinants and role of safety climate, in: Journal of Safety Research 35 (1), S. 81–90.
- 9. Ventana Systems Inc. (2015): Vensim Software, URL: http://www.vensim.com/ensim-software, 18.02.2015
- 10. Shannon, H. S.; Mayr, J.; Haines, T. (1997): Overview of the relationshipbetween organizational and workplace factors and injury rates, in: Safety Science 26 (3), S. 201–217.
- 11. Vredenburgh, A. G. (2002): Organizational safety, in: Journal of Safety Research 33 (2), S. 259–276.
- 12. Hofmann, D. A.; Jacobs, R.; Landy, F. (1995): High reliability process industries: Individual, micro, and macroorganizational influences on safetyperformance, in: Journal of SafetyResearch 26 (3), S. 131–149.
- 13. Holden, R. J. (2009): People or Systems? To blame is human. The fix is to engineer, in: Professional Safety 54 (12),S. 34–41.
Autoren
Dr. Fabian-Simon Frielitz, LL.M., M.A., MBA, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Themenschwerpunkt „Prävention“
Stefan Koch, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Operations Management, Institut für Unternehmensentwicklung der Leuphana Universität Lüneburg
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