Das Interesse an Exoskeletten ist seit Jahren groß und immer mehr Anbieter drängen auf den Markt. Doch der große Boom bleibt bislang aus. Ob die faszinierenden neuen Arbeitsmittel den hochgesteckten Erwartungen auch auf Dauer im Arbeitsalltag gerecht werden, ist noch unklar, ebenso viele Fragen zu Risiken und Nebenwirkungen.
Dieser Beitrag wirft aus unterschiedlichen Perspektiven einen bewusst kritischen Blick auf – so die gängige Definition – „am Körper getragene Assistenzsysteme“. Ziel ist nicht, die Skepsis zu schüren oder vom Kauf abzuraten.
Doch es gilt, die Nutzungskriterien und Einsatzmöglichkeiten nüchtern zu betrachten, um vor Fehlkäufen zu bewahren. Denn nur wenn Träger, Aufgabe und das gewählte Modell zusammenpassen, kann ein Exoskelett seinen Nutzen voll ausspielen.
Dass ein vom IFA-Institut der DGUV vorgelegter Entwurf zur Gefährdungsbeurteilung ganze 32 Seiten umfasst, macht deutlich, dass auch Arbeitsschützer sich vor einem Einsatz – besser noch vor dem Kauf – intensiv mit diesen technischen Hilfsmitteln befassen müssen.
Aktiv oder passiv
Die Idee kraftverstärkender und bewegungsunterstützender Maschinen zum Anziehen ist nicht neu. Seit den 1960er Jahren wurden viele Dutzend unterschiedlicher Typen von Exosuits und Roboteranzügen entwickelt.
Ursprünglich meist für das Militär oder die medizinischen Rehabilitation entwickelt, kommen seit einigen Jahren immer mehr Modelle für industrielle Arbeitsplätze auf den Markt. Sie sollen die Muskelkraft verstärken, die Haltung korrigieren und ihren Träger bei körperlich anstrengenden Arbeiten entlasten.
Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal der aktuellen Exoskelett-Generation ist die Art ihrer Energieversorgung:
Aktive Exoskelette benötigen für ihren Antrieb eine externe Energiequelle. Das ist meist ein elektrischer Akku, der kleine Elektromotoren antreibt. Daneben gibt es Modelle, die mit Druckluft und pneumatischen Zylindern arbeiten oder (seltener) eine Hydraulik nutzen.
Passive Exoskelette fungieren selbst als Energiespeicher. Die Energie einer Bewegung des Trägers wird als Federspannung oder Spannkraft eines Gummis zwischengespeichert und in der umgekehrten Richtung wieder abgegeben.
Die gespeicherte mechanische Energie bewirkt dabei eine Kraftersparnis, die typischerweise als Hebehilfe genutzt wird, etwa beim Anheben über Kopf. Hier spannt das Absenken der Arme Federn oder Gummis, welche dann beim nächsten Anheben die Muskelkraft unterstützen und den Träger des Exoskeletts so entlasten.
Bei passender Einstellung kann auch das Halten einer Last oder eines Werkzeugs in genau der benötigten Höhe durch die Spannkraft ausgeglichen werden, so dass die Arme weniger ermüden. Bei länger andauernden Montagearbeiten kann dies die Arbeit deutlich erleichtern.
Beide Varianten haben ihre Vor- und Nachteile. Aktive Modelle bieten durch ihre eigene Energieversorgung eine größere Dynamik und sind vielseitiger einsetzbar, dabei ist ihr Gewicht jedoch höher. Bei Tätigkeiten mit gleichförmigen Bewegungsfolgen, etwa wiederholtem Anheben von Lasten, können die leichteren, passiven Exoskelette völlig ausreichen. Ihre Leistung bleibt jedoch durch die Vorspannung des Systems begrenzt.
Exoskelett ist nicht gleich Exoskelett
Weitere Einteilungen beziehen sich darauf, an welchen Körperregionen das Exoskelett getragen und genutzt wird. Das kann der ganze Körper sein, der Oberkörper, der Bereich von Rumpf und Beinen oder auch einzelne Gliedmaßen. So gibt es Exoskelette, die an eine Kopfstütze erinnern, an Handgelenkbandagen, an überdimensionierte Gürtel oder an Knieschoner.
Damit unterscheiden sich auch die Funktionen. Ein Exoskelett kann als Gehhilfe dienen, die Wirbelsäule entlasten oder die Kraft von Schultern und Oberarmen unterstützen. Ein Hersteller wirbt gar mit dem kleinsten Exoskelett der Welt, das – nur wenige cm groß – als Schutz und zur Entlastung über den Daumen gestülpt wird. Für Baustellen und Industrie sind Bauarten typisch, die im Bereich von Schultern, Rücken und Armen ansetzen.
Einsatzbereiche und Nutzung von Exoskeletten
Viele neuere Modelle wurden entwickelt, um bei physisch anstrengenden Tätigkeiten zu unterstützen wie
- einseitig belastende Bewegungen, etwa häufiges Bücken, Heben, Halten
- monotone Aufgaben mit gleichförmig wiederholten Bewegungsfolgen, zum Beispiel beim Bewegen von Lasten
- Arbeiten in ergonomisch ungünstigen Körperhaltungen, beispielsweise Überkopfarbeiten mit erhobenen Armen
- Je nach Modell soll das Exoskelett nicht nur seinen Träger entlasten und Ermüdung vorbeugen, sondern auch eine gesunde Körperhaltung bei Hebetätigkeiten fördern. Die akut entlastenden Effekte sind messbar und nachgewiesen, eine langfristige Schutzwirkung vor Muskel-Skelett-Erkrankungen muss sich noch zeigen.
Nicht zu vergessen ist das Potenzial zur Inklusion, wenn Exoskelette körperliche Einschränkungen ausgleichen. Durch immer smartere Modelle können zum Beispiel Beinamputierte oder Gelähmte wieder das Gehen lernen oder Menschen nach Schlaganfall oder Hand-Verletzung wieder kraftvoll zupacken.
Auch und gerade vor dem Hintergrund alternder Belegschaften ist das riesige Potenzial für Exoskelette als arbeitserleichternde und entlastende Hilfsmittel nicht zu leugnen.
Einsatzgrenzen und Risiken
Die Entlastungspotenziale durch Exoskelette wurden meist unter Laborbedingungen und mit einer geringen Zahl von Probanden nachgewiesen. Unter realistischen Arbeitsbedingungen können viele weitere, im Folgenden aufgelistete Aspekte hinzukommen, die vielleicht noch nicht alle in Wissenschaft und Konstruktion auf dem Schirm haben.
Gesundheitsgefahren
- Welche Verletzungsrisiken bestehen durch Quetschen, Scheren, Einklemmen oder Verlust der Balance?
- Wie wird verhindert, dass das Nutzen eines Exoskeletts zu Fehlhaltungen führt oder mühsam eintrainierte ergonomische Bewegungsabläufe wieder verlernt werden?
- Bewirkt die Entlastung einen Rückgang der Muskulatur?
- Kann ein – dank Exoskelett mögliches – länger andauerndes Über-Kopf-Arbeiten das Herz-Kreislauf-Systems belasten?
Kommt es beim Tragen eines Exoskelettes zu Schmerzen, Taubheitsgefühlen oder anderen unerwarteten Reaktionen, sollte derjenige das Exoskelett ablegen und die Situation mit einem Arzt abklären.
Bei Druckstellen, Scheuerstellen oder Durchblutungsstörungen ist – gemeinsam mit dem Hersteller – zu prüfen, ob das Modell, die Größe, die Einstellungen usw. passend gewählt wurden.
Tragekomfort
- Wie hoch ist das Eigengewicht des Modells?
- Inwiefern ist eine Individualisierung möglich, zum Beispiel durch Einstelloptionen auf die eigenen Körpermaße, versetzbare Polster-Elemente usw.?
- Wie fühlt sich das Tragen an, spontan und nach mehreren Stunden?
- Kommt es zu Schwitzen? Juckreiz? Verspannungen? Druckstellen durch hartschalige Elemente?
- Ist das Modell problemlos mit der arbeitsüblichen Kleidung kombinierbar?
- Sind bei Tragegeboten für PSA ungünstige Wechselwirkungen möglich, könnte eine Schutzfunktion vermindert werden? Lässt sich das Modell problemlos mit Helm, Gehörschutz, Handschuhen usw. kombinieren?
- Sind bei unter dem Exoskelett zu tragender Warnkleidung die reflektierenden Mindestflächen noch erkennbar wie (nach DIN EN ISO 20471) vorgeschrieben?
- Ist eine ausreichende Mobilität gegeben, wenn das Modell nicht über Akkus, sondern über Steckdosen oder das Druckluftsystem des Gebäudes versorgt wird?
- Erfüllt das Modell Hygieneanforderungen, zum Beispiel bezüglich leichter Reinigung, Annehmen von Gerüchen, Anhaften von Schmutz und Staub? Lassen sich Polster und textile Elemente entnehmen und sind diese waschbar?
Diese kritischen Aspekte sind den Herstellern bekannt. Vielfach gibt es bereits clevere Lösungen – von atmungsaktiven Gurtmaterialien bis zu Exoskeletten, die über eigene Reflektoren verfügen. Dennoch gilt es, genau hinzuschauen und gegebenenfalls konkret nachzufragen.
Technische Sicherheit
- Welche Risiken bestehen bei Fehlfunktionen und Störungen?
- Wie reagiert das System bei einem Ausfall der Energieversorgung, wenn der Akku versagt oder der Drucklufttank?
- Ist das Modell robust genug für die zu erwartenden Einsatzbedingungen, zum Beispiel Hitze, Kälte, Feuchte, Schmutz, Staub, Öle, Fette usw.?
- Werden sämtliche Anforderungen an die Elektrosicherheit erfüllt? Sind alle stromführenden Leitungen so verlegt, dass sie bei allen Bewegungen vor Beschädigungen geschützt sind?
- Inwiefern können sich die Leitungen und Kabel (Strom, Druckluft) handgeführter Werkzeuge oder Maschinen in der Mechanik des Exoskeletts verfangen und gequetscht oder beschädigt werden?
Wichtig ist auch, zu prüfen, ob der Hersteller in der Betriebsanleitung eine bestimmungsgemäße Verwendung angibt und inwiefern diese mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmt.
Notfallsituationen
- Wie kann der Träger eines Exoskeletts in einem Notfall reagieren, etwa bei Feueralarm oder Gasalarm? Kann man mit Exoskelett flüchten oder muss man es zunächst ausziehen beziehungsweise abschnallen und wie lange dauert dies im Ernstfall?
- Inwiefern steigen mit Exoskelett die Risiken für einen Verlust des Gleichgewichts, für Stolpern und Hinfallen?
- Was passiert bei einem SRS-Unfall mit Exoskelett, inwiefern nehmen die Verletzungsgefahren zu?
- Welche Erste-Hilfe-Maßnahmen nach einem Unfall werden verzögert oder verhindert? Inwiefern könnten ein Retten und Bergen beeinträchtigt werden?
Gebrauchstauglichkeit von Exoskeletten
- Wie hoch ist der Zeitaufwand für das An- und Ablegen?
- Inwiefern lässt sich das Modell passend zur jeweiligen Aufgabe einstellen, zum Beispiel (bei einem passiven System) die gewünschte Vorspannkraft gezielt wählen?
- Muss das Exoskelett zum Einstellen abgelegt werden?
- Werden alle Bewegungsradien unterstützt, die bei einer typischen Tätigkeit erforderlich sind?
- Welche Nebentätigkeiten werden mit angelegtem Exoskelett behindert oder unmöglich gemacht (Treppensteigen, Telefonieren, Notizen machen, heruntergefallene Gegenstände vom Boden aufheben usw.)?
- Inwiefern ist eine Nutzung sinnvoll, wenn der Träger zwischen Exoskelett-Tätigkeiten immer wieder einen Stapler nutzen muss, eine Leiter, eine Arbeitsbühne usw.?
- Lassen sich alle benötigten Handwerkzeuge problemlos einsetzen, auch solche, die man normalerweise am Körper abstützt?
- Muss der Träger das Exoskelett jedes Mal ablegen, wenn er die Toilette aufsuchen, etwas essen, trinken oder eine Zigarette rauchen will?
- Ist das Modell – sofern erforderlich – outdoor-tauglich und auch bei Nässe, Kälte, Hitze, Staub und Schmutz einsatzfähig?
Die Werbeversprechen für das An- und Ablegen von Exoskeletten beginnen inzwischen bei „binnen 20 Sekunden“, unterscheiden sich aber teils deutlich unter den Modellen.
Cybersecurity und Datenschutz
- Ist sichergestellt, dass das Exoskelett nicht primär als Anlass dient, Lastgewichte oder Taktraten zu erhöhen und die Leistung zu steigern?
- Ist transparent, welche Parameter die eingebauten Sensoren erfassen, wie diese gespeichert und analysiert werden, wer darauf Zugriff hat usw.?
- Ist sichergestellt, dass die erhobenen Daten nicht zu einer (unzulässigen) Überwachung der Arbeitsleistung missbraucht werden?
- Wie werden (vernetzte) Exoskelette vor Missbrauch, etwa einer „Fernsteuerung“ durch Hacker geschützt?
Nutzungseinschränkungen
Nicht jeder wird jedes Modell verwenden können. Vor einer Anschaffung sollte man genau prüfen, welche Teile der Belegschaft möglicherweise von der Nutzung ausgeschlossen sind, zum Beispiel Mitarbeitende,
- die besonders groß, klein, schwer oder leicht sind?
- die schwanger sind oder zu jung?
- mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen?
- mit Herzschrittmachern oder anderen Implantaten?
- mit Bluthochdruck oder Durchblutungsstörungen?
- mit Vorerkrankungen von Skelett, Muskulatur oder Haut, etwa Narben, Ekzemen oder Krampfadern?
Last, but not least bleibt der Kostenfaktor. Der Markt ist dynamisch und eine vergleichende Übersicht schnell veraltet. Umso wichtiger wird der Aspekt, ob der Lieferant ein testweises Nutzen erlaubt, mit fairen und transparenten Rückgabeoptionen. Dann kann man selbst das Tragegefühl erleben, die Zeit für das An- und Ausziehen stoppen und alle Einsatzszenarien durchprobieren.
Fazit aus Sicht des Arbeitsschützers
Passend zum Bedarf ausgewählt, individuell eingestellt und für geeignete Tätigkeiten genutzt, kann ein Exoskelett seinen Träger deutlich entlasten – ein Gewinn für den betrieblichen Gesundheitsschutz. Betriebe, in denen körperlich schwer gearbeitet wird oder gar Muskel-Skelett-Erkrankungen bereits für Ausfälle sorgen, sollten für die neuen Arbeitshilfen aufgeschlossen sein.
Doch auch bei einem auf den ersten Blick erfolgreichen Einsatz von Exoskeletten gilt es für Arbeitsschützer (und Arbeitnehmervertreter!), hinsichtlich der folgenden Punkte wachsam zu bleiben:
Freiwilligkeit: Das Nutzen eines Exoskeletts sollte stets freiwillig bleiben. Wer sich unwohl fühlt, darf nicht zum Tragen gedrängt werden.
Einsatzzweck: Das Exoskelett darf nur für den Zweck eingesetzt werden, für den es designt und konstruiert wurde. Jegliches Experimentieren mit neuen Aufgaben und ohne Abstimmung mit dem Hersteller ist tabu, ebenso eigenmächtige technische Veränderungen.
TOP-Rangfolge: Exoskelette gelten als technische Hilfsmittel, können aber auch als PSA betrachtet werden. Eine Zuordnung in das bewährte TOP-Schema ist somit nicht ganz eindeutig. Davon unabhängig sollte jedoch bei physisch anstrengenden, monotonen oder einseitig belastenden Tätigkeiten der erste Schritt nicht der Ruf nach Exoskeletten sein.
Zunächst ist stets zu klären, inwiefern die Tätigkeit leichter und der Arbeitsplatz weniger gesundheitsbelastend gestaltet werden können, etwa durch einen Hubtisch oder den Umstieg auf kleinere Gebinde.
Leistungsdruck: Wenn der versprochene oder erhoffte Produktivitätsgewinn dazu führt, dass die Taktrate erhöht wird und beispielsweise die doppelte Zahl an Kisten zu stapeln ist als zuvor, wird der gesundheitspräventive Effekt schnell ad absurdum geführt.
Arbeits- plus Maschinensicherheit
Durch Miniaturisierung, Automatisierung, Vernetzung und nicht zuletzt künstliche Intelligenz entwickeln sich die digitalen Technologien so rasant, dass jede Prognose nach kurzer Zeit überholt wird. Auch Exoskelette werden weiter optimiert. Ein Steuern per Sprache ist bereits möglich, Gedankensteuerung der nächste Schritt.
Erste „smarte“ Exoskelette analysieren in Echtzeit alle Bewegungen und erkennen eigenständig, wo und wann ihr Träger welche Art der Kraftunterstützung benötigt. Die nächste Modellgeneration könnte nebenbei die Vitaldaten ihres Trägers kontrollieren, vor Gefahren warnen, Alleinarbeiter überwachen usw.
Mehr Mensch oder mehr Maschine?
Damit verwischen auch die Grenzen zwischen Exoskeletten und kollaborierenden Robotern. Wie wird in der Fabrik der Zukunft die menschenähnliche Maschine noch vom maschinell optimierten Menschen unterscheidbar sein?
Und warum sollte sich in durchautomatisierten Produktionsumgebungen mit immer autonomer agierender Robotik noch ein Mensch aus Fleisch und Blut in einen Elektrokraftanzug quetschen?
Die Zukunft wird zeigen, welche Lösungen und Konzepte sich durchsetzen werden. Absehbar ist schon heute, dass Arbeitsschutz, Maschinensicherheit und Cybersecurity enger zusammenwachsen. Es bleibt spannend.
Betriebsarzt einbinden!
Im Gegensatz zu Hubtisch oder Flaschenzug verbleibt mit Exoskelett das volle Lastgewicht auf dem Körper, es wird lediglich anders verteilt. Was zum Beispiel die Schultern entlastet, muss vom unteren Rücken getragen werden.
Welche langfristige Folgen diese Lastumverteilung bei häufigem Arbeiten mit Exoskeletten hat, etwa auf die Körperhaltung oder die Belastung für Knie und Oberschenkel, kann noch kaum abgeschätzt werden.
Wer die Geräte regelmäßig nutzt, sollte dies daher mit seinem Arzt oder Betriebsarzt besprechen. Dieser kann durch gezielte Tests von Kraft und Beweglichkeit unerwünschte Effekte überwachen.