Herr Dr. Poppelreuter, Warum sollten sich Unternehmen gezielt mit den verschiedenen Suchtformen auseinandersetzen? Verlangen stoffungebundene Süchte wie Spielsucht, Kaufsucht, Online-Sucht und Arbeitssucht nach einer anderen Herangehensweise als die klassischen Suchtformen wie etwa der Alkoholismus?
Der Hauptgrund für diese Unterteilung ist, dass mit den verschiedenen Suchtformen auch unterschiedliche Bedarfe beziehungsweise unterschiedliche Konsequenzen einhergehen. Auch wenn der Suchtbegriff in der Nomenklatur der medizinischen Manuale offiziell gar nicht vorkommt, gelten Alkoholismus, Drogenabhängigkeit oder Nikotinkonsum landläufig als klassische Süchte. Es gibt also zum einen diese klassischen Abhängigkeits- oder Missbrauchsproblematiken mit psychoaktiven Substanzen. Zum anderen kennen wir, tatsächlich auch schon länger, missbräuchliches exzessives Verhalten, das auch ohne Substanzkonsum Suchtcharakter annehmen kann – etwa, wenn eine Person exzessiv spielt oder arbeitet.
Nun höre ich momentan von vielen Unternehmen, mit denen ich zusammenarbeite, dass sie den Alkoholkonsum im Betrieb weitgehend im Griff haben, Drogen vom Arbeitsplatz fernhalten können und auch den Nichtraucherschutz hinbekommen. Sie haben jedoch ein Problem mit permanentem Online-Gaming und ‑Gambling. Andere Unternehmen erkennen, dass sie mit Workaholics ein Thema haben. Deswegen gibt es auch zunehmend Betriebsvereinbarungen, die nicht nur auf den Umgang mit den sozusagen klassisch suchterkrankten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abzielen, sondern auch die nicht stoffgebundenen Suchtformen mehr und mehr in den Fokus rücken.
Das heißt, die nicht stoffgebundenen Suchtformen am Arbeitsplatz beschäftigen zunehmend Unternehmen, weil sie im Umgang mit ihnen weniger erfahren sind?
Genau. In der Tat ist es so, dass man zum Thema Alkohol und Drogen gewisse Standards, Routinen und auch diagnostische Systeme entwickelt hat, um diese Suchtformen zu erkennen und entsprechend zu handeln. Diese Erfahrungen haben wir bei den stoffungebundenen Suchtformen noch nicht in diesem Ausmaß. Man kann jedoch vieles aus dem einen in den anderen Bereich übertragen. Wenn es beispielsweise um die arbeitsrechtliche Behandlung von Auffälligkeiten am Arbeitsplatz geht, dann ist ganz klar: Wer alkoholisiert am Arbeitsplatz erscheint, begeht eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung. Jemand, der permanent an seinem Smartphone während der Arbeit daddelt, begeht aber auch eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung – im Sinne der Arbeitszeiterschleichung oder wie man das auch immer nennen will. Insofern hat man da auch Anleihen von dem einen in den anderen Bereich, aber es tut schon not, sich einmal mit der Frage zu beschäftigen: Kann es tatsächlich sein, dass Menschen suchthaft spielen oder suchthaft arbeiten? Das leuchtet vielen noch nicht oder noch nicht hinreichend ein. Aber so ähnlich war es beim Alkohol ja auch: Alkoholismus als Erkrankung ist in unserer Gesellschaft noch gar nicht so lange anerkannt.
Umgang mit stoffungebundenen Verhaltenssüchten am Arbeitsplatz
Womöglich kommt jetzt etwas Neues ins Spiel: In Sachen Cannabis wurde eine Wende in der deutschen Drogenpolitik eingeleitet. Sehen Sie in dieser Hinsicht Schwierigkeiten auf die Betriebe zukommen?
Jede Form von Substanz, die das Bewusstsein verändert, spielt natürlich eine Rolle und ist ein Problem. Nun bricht nicht der Untergang des Abendlandes an, wenn wir den Cannabiskonsum legalisieren; Alkohol ist ja auch schon seit Jahrtausenden eine legale Droge in unserer Gesellschaft. Aber klar kommen damit neue Probleme auf die Unternehmen zu, weil Cannabis andere Symptomatiken evoziert. Der Alkohol macht eine Fahne – zumindest, wenn ich zu viel getrunken habe. Beim Cannabis sind es andere Merkmale körperlicher Natur, die möglicherweise Hinweise auf einen übermäßigen Konsum geben. Insofern werden die Firmen herausgefordert sein.
Vergleichsweise unproblematisch erscheint der Umgang mit Nikotin. An Arbeitsplätzen herrscht Rauchverbot, aber es gibt in der Regel Orte für Rauchpausen. Ist damit alles getan?
Beim Rauchen ist es so, dass es eine gesamtgesellschaftliche Ächtung erfahren hat. Das macht es den Betrieben natürlich leichter, das Rauchverbot durchzusetzen. Verbote allein reichen jedoch nicht aus. Wichtig ist auch das Thema Sensibilisierung, also Aufklärung und Hilfestellung anzubieten – und zwar nicht nur für betroffene Personen, sondern auch für Führungskräfte und Kollegen, die entsprechende Auffälligkeiten wahrnehmen und adressieren müssen beziehungsweise sollen.
Zudem brauchen Unternehmen ein ganz klares Konzept dafür, wie man mit Abhängigkeitsfällen in den eigenen Reihen umgeht. Das schlägt sich in der Regel in den schon erwähnten Betriebsvereinbarungen nieder. Diese dienen zum einen zur Wahrnehmung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber den Beschäftigten, zum anderen aber auch zum Erhalt der unternehmerischen Handlungsspielräume. Alkoholerkrankte sind ja zunächst einmal unkündbar, weil aus Krankheitsgründen nicht gekündigt werden darf. Hier sieht der Gesetzgeber aber Spielraum für den Arbeitgeber vor, wenn bestimmte Regeln eingehalten werden, also zum Beispiel mehrere Gespräche geführt, Abmahnungen angekündigt und erteilt sowie adäquate Hilfsangebote gemacht wurden. Die Firmen sollten also besonderen Wert darauf legen, dass es eine Regelung oder eben Betriebsvereinbarung dazu gibt, wie in solchen Fällen verfahren wird – und genau das Gleiche sollte man auch für die stoffungebundenen Süchte anstreben.
Bei den stoffungebundenen Süchten am Arbeitsplatz ist es jedoch ungleich schwerer zu erkennen, wann die Grenze zur Abhängigkeit überschritten ist. Nehmen wir mal die Arbeitssucht: Besonders fleißige und engagierte Mitarbeitende sind ja zunächst einmal gern gesehen.
Sie sprechen hier ein ganz schwieriges Thema an. Hier ist wieder die Diagnostik gefragt. Ab wann kann man sagen, dass jemand arbeitssüchtig ist? Es gibt aber einige Symptomatiken, auf die man hilfsweise zurückgreifen kann. So spielt es natürlich immer eine Rolle, wie viele Stunden jemand arbeitet. Ein quantitatives Kriterium allein reicht zwar bei Weitem nicht aus, aber wenn ich feststelle, dass Mitarbeitende ständig deutlich mehr Stunden arbeiten als im Arbeitsvertrag vereinbart ist, Urlaubstage zurückgeben oder verfallen lassen und auch zu unüblichen Zeiten arbeiten, ist das zumindest ein Hinweis darauf, dass hier das Verhältnis von Arbeit und sonstigen Lebensbereichen aus der Balance geraten ist. Der Arbeitgeber braucht an dieser Stelle aber keine Diagnose, sondern muss nicht zuletzt aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingungen intervenieren: Das Arbeitszeitgesetz sagt ja ganz klar, dass es eine wöchentliche Höchstarbeitszeit gibt, die allenfalls für bestimmte, sehr beschränkte Zeiträume überschritten werden darf.
Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass das Arbeitszeitgesetz eines der am häufigsten gebrochenen Gesetze in unserer Republik ist. Für viele ist es ein Anreiz, Überstunden zu machen, weil diese bezahlt oder an anderer Stelle ausgeglichen werden. Oder sie stellen einfach ein zwingendes Erfordernis dar, weil immer mehr Arbeit von den Beschäftigten oder weniger Beschäftigten erledigt werden muss. Die Arbeitszeit ist demnach kein eindeutiges Kriterium, aber ich würde als Arbeitgeber immer darauf schauen.
Zudem würde ich mich fragen: Hat der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin auch noch andere Lebensbereiche, in denen er/sie sich betätigt? Welche sonstigen Belastungen gibt es im privaten Umfeld? Wie ist die Qualität der Arbeit? Delegieren Führungskräfte noch beziehungsweise arbeiten die Beschäftigten noch im Team? Workaholics neigen ja zu isoliertem Arbeiten, weil sie glauben, dass nur sie es richtig machen oder um die Kontrolle zu behalten.
Also es gibt weiche Kriterien, B‑Belege nennen wir das in der Diagnostik oder vielleicht auch nur C‑Belege, aber keinen schlagenden Beweis für eine Erkrankung. Bei Sucht und Abhängigkeit muss man sich immer aus verschiedenen Mosaiksteinchen ein Bild zusammensetzen. Das ist die große Herausforderung.
Auch diese Unsicherheit, ob wirklich eine Suchterkrankung vorliegt, macht es für die Kolleginnen und Kollegen schwer, eine Person darauf anzusprechen. Viele befürchten, eine Abfuhr zu bekommen.
Diese Sorge ist verständlich und nachvollziehbar. Aber was ist die Alternative? Wenn ich viel Zeit mit den Kolleginnen und Kollegen verbringe und dadurch Veränderungen wahrnehme, sollte ich das auch zum Ausdruck bringen. Da geht es zunächst einmal um konkrete Beobachtungen. Ich beschreibe also, was ich wahrgenommen habe und wie das auf mich wirkt. Zum Beispiel: Ich nehme wahr, dass du in den letzten Wochen regelmäßig montags zu spät zum Dienst erscheinst und erstmal einen etwas übernächtigten oder desorientierten Eindruck machst. Das wirkt auf mich so, als ob du schlecht geschlafen hast, als ob du viel gefeiert hast, als ob du Probleme hast. Und dann kann ich ergänzen: Ich fände es besser, wenn es uns gelänge, montagmorgens wieder pünktlich in die Arbeitswoche zu starten. Also Wahrnehmung, Wirkung und Wunsch zum Ausdruck bringen.
Das kann zwei positive Folgen haben: Erstens merkt die betroffene Person, dass ihr Verhalten nicht unbemerkt bleibt – ein erster Anreiz für eine Verhaltensänderung. Unter Umständen versucht sie auch, sich besser zu tarnen. Aber dadurch, dass Öffentlichkeit für Probleme geschaffen wird, werden diese überhaupt erst behandelbar.
Der zweite positive Effekt ist: Die Person, die das Problem anspricht, übernimmt eine wichtige Rolle, die viele Kolleginnen und Kollegen nicht unbedingt anzunehmen bereit sind. Für viele ist Weggucken angesagt, aber je früher eine Problematik angegangen wird, desto besser. Das große Problem bei Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen am Arbeitsplatz ist ja, dass sie meist erst durch einen Zwischenfall offenkundig werden – durch einen Unfall oder wenn ein Projekt an die Wand gefahren wird. Dann sagen plötzlich viele, das war ja klar, das haben wir schon lange befürchtet.
Wir wissen nicht zuletzt aus der Forschung, dass es Jahre oder Jahrzehnte dauern kann, bis eine Suchterkrankung am Arbeitsplatz thematisiert wird. In dieser Zeit verfestigen sich die Sucht und Abhängigkeit und der Weg zurück wird immer schwieriger. Das für den Arbeitgeber noch entscheidendere Problem ist: Wenn jemand ständig mehr oder weniger alkoholisiert am Arbeitsplatz erscheint, stellt das natürlich ein immenses Sicherheitsrisiko dar.
Die Suchtproblematik wird uns wohl auch in Zukunft begleiten. Rechnen Sie eher mit einer steigenden oder fallenden Tendenz?
Sucht und Rausch sind nach meinem Dafürhalten originäre Bestandteile menschlichen Daseins. Es ist schon immer so gewesen, dass der Mensch den Rausch sucht – entweder über die Einnahme von Substanzen oder durch bestimmte Verhaltensweisen. Es gibt den Liebesrausch; auch das Betrachten von Kunstwerken oder das Hören von Musik kann höchste Glücksgefühle auslösen. Dieses Bedürfnis wird auch durch die Sucht bedient. Das heißt, wir werden sie nicht los, weil Menschen eben nicht nur kognitive Denker sind, sondern auch Emotionen haben. Unser ganzes menschliches Dasein hat auch etwas mit Entgrenzung zu tun, mit einem über sich selbst Hinausgehen und Hinauswachsen.
Im Arbeitsbereich bekommen wir es derzeit verstärkt mit der Suchtproblematik zu tun, weil immer neue Verhaltensmuster mit suchthaftem Charakter entstehen. Eine Rahmenbedingung dafür ist die Digitalisierung. Die ständige Verfügbarkeit von Wettspielen auf dem Smartphone kann zum Beispiel dazu verleiten, sich permanent damit zu beschäftigen. Einige Unternehmen haben insbesondere mit jungen Leuten, die mehr oder weniger nur noch am Handy hängen, ein Thema. Da wird noch nicht einmal gezockt, aber permanent im Freundeskreis oder in irgendwelchen Netzwerken gechattet. Die Mitarbeitenden sind also ständig abgelenkt. Dabei haben sie als Arbeitnehmer vertraglich zugesichert, dass sie ihre Arbeitskraft zu 100 Prozent in den Dienst der Arbeitsstelle stellen und dafür geht ihr Arbeitgeber bestimmte Verpflichtungen ein. Wir bekommen inzwischen einige Anfragen in diese Richtung.
DGUV-Positionspapier zur geplanten Freigabe von Cannabis
„NULL Alkohol und NULL Cannabis bei Arbeit und Bildung“
Zur aktuellen Debatte um die Legalisierung von Cannabis hat die gesetzliche Unfallversicherung Position bezogen und mit Forderungen an die Politik verknüpft. „Cannabis, Alkohol und andere Suchtmittel können die Sicherheit am Arbeitsplatz gefährden. Wir treten dafür ein, Alkohol und Cannabis am Arbeitsplatz und in Bildungseinrichtungen gleich zu behandeln. In beiden Fällen muss ein Konsum, der zu Gefährdungen führen kann, ausgeschlossen sein“, erklärte Dr. Stefan Hussy, Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbandes der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. (DGUV).
Auf ihrer Website hat die DGUV dazu das Positionspapier „NULL Alkohol und NULL Cannabis bei Arbeit und Bildung. Zur Entkriminalisierung von Cannabis in Deutschland – Folgen für Arbeitsplätze, Arbeitsunfälle, Bildungseinrichtungen und die gesetzliche Unfallversicherung“ veröffentlicht, das einige bislang nur wenig betrachtete Auswirkungen der geplanten Legalisierung von Cannabis auf die Arbeitswelt und Bildungseinrichtungen in den Blick nimmt. Darin heißt es: „Cannabiskonsum darf nicht dazu führen, dass man sich selbst oder andere gefährdet. Hierüber besteht Konsens. Schwierigkeiten gibt es jedoch bei der Frage, wie im Verdachtsfall eine Beeinträchtigung des Reaktionsvermögens durch Cannabis festgestellt werden kann. Die gesetzliche Unfallversicherung fordert deshalb von den politisch Verantwortlichen:
- Die Entkriminalisierung von Cannabis muss mit der Förderung von Forschungsprojekten verbunden werden, um evidenzbasierte Kriterien für eine Beeinträchtigung des Verhaltens- und Reaktionsvermögens durch den Konsum von Cannabis zu identifizieren.
- Die Debatte über die „Freigabe“ von Cannabis darf nicht dazu führen, dass die Wirkung von Cannabis verharmlost wird. Die Entkriminalisierung von Cannabis ist daher mit öffentlichkeitswirksamen Informationskampagnen zu verbinden, die über die Wirkung von Cannabis aufklären und insbesondere klar auf die damit verbundenen Risiken für Sicherheit und Gesundheit hinweisen.“
Betriebliche Suchtprävention ist schon seit langem Thema der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen. Sie unterstützen Unternehmen und Einrichtungen mit Beratung und Informationen zu Auswirkungen des Konsums von Betäubungsmitteln und damit auch von Cannabis. Mit Blick auf die geplanten gesetzlichen Änderungen werden sie die bestehenden Aktivitäten ausbauen – auch im Zusammenspiel mit anderen Akteurinnen und Akteuren in der betrieblichen und schulischen Prävention.
Das Positionspapier kann in voller Länge im Internet aufgerufen werden.
www.dguv.de (Webcode:dp1320340)