1 Monat GRATIS testen, danach für nur 3,90€/Monat!
Startseite » Gesundheitsschutz » Unternehmenskultur »

Geschlechtergerechte Gefährdungsbeurteilung

Sichere Arbeitsplätze: Berücksichtigung von Rollenzuschreibungen
Geschlechtergerechte Gefährdungsbeurteilung

Geschlechtergerechte Gefährdungsbeurteilung
Foto: © Eva Ankarberg/VTI
Geschlechterg­erechter Arbeitss­chutz: Arbeit­splätze kön­nen nur sich­er und gesund gestal­tet wer­den, wenn auch Aspek­te bei der Gefährdungs­beurteilung berück­sichtigt wer­den, die auf­grund von Rol­len­zuschrei­bun­gen Ein­fluss auf die Arbeitssicher­heit haben.

Arbeit­splätze kön­nen nur sich­er und gesund gestal­tet wer­den, wenn bei der Gefährdungs­beurteilung auch Aspek­te berück­sichtigt wer­den, die auf­grund von Rol­len­zuschrei­bun­gen Ein­fluss auf die Arbeitssicher­heit haben. Noch immer wer­den Frauen und Män­nern stereo­type Eigen­schaften zugeschrieben, die sich auf die Beurteilung der Arbeits­be­din­gun­gen auswirken kön­nen. Män­ner gel­ten als stärk­er und deshalb prädes­tiniert für schwere Arbeit­en. Frauen dage­gen als für­sor­glich und ein­fühlsam, bess­er im Umgang mit Kindern.

Män­ner und Frauen sind unter­schiedlich leis­tungsstark; das bedeutet jedoch nicht, dass Män­ner leis­tungsstärk­er als Frauen sind. Die Stärken bei­der Geschlechter liegen auf unter­schiedlichen Gebi­eten. Dies gilt es anzuerken­nen – nicht zu bew­erten – und bei der Maß­nah­menableitung zu berücksichtigen.

Die Beurteilung der Arbeits­be­din­gun­gen gemäß § 5 Arbeitss­chutzge­setz (Arb­SchG) zielt darauf ab, Gefährdungs- und Belas­tungs­fak­toren am Arbeit­splatz zu ermit­teln, um Sicher­heit und Schutz der Gesund­heit der Beschäftigten zu sich­ern und zu verbessern.

Der Fokus liegt dabei auf dem Arbeit­splatz oder der Tätigkeit, nicht auf der indi­vidu­ellen Beanspruchung der Per­so­n­en. In erster Lin­ie soll der Arbeit­splatz oder die Tätigkeit, unab­hängig davon, wer dort arbeit­et, sich­er und gesund gestal­tet wer­den. Diese neu­trale Betra­ch­tung hil­ft, geeignete Schutz­maß­nah­men abzuleiten.

Allerd­ings wer­den auf­grund biol­o­gis­ch­er Unter­schiede zwis­chen Frauen und Män­nern bei­de Geschlechter von ver­schiede­nen Belas­tungs­fak­toren unter­schiedlich beansprucht. Dies wird in geset­zlichen Vor­gaben und im Regel­w­erk der DGUV berück­sichtigt, zum Beispiel in der Merk­mal­meth­ode zur Beurteilung physis­ch­er Belas­tung durch das Hand­haben schw­er­er Las­ten. Indi­vidu­elle Belas­tungssi­t­u­a­tio­nen erfordern spez­i­fis­che Maß­nah­men, die für einen Großteil der Beschäftigten ein hohes Schutzniveau bieten.

Es gibt jedoch Beschäftigte, die auf­grund ihrer kör­per­lichen Kon­sti­tu­tion oder ihres Alters stärk­er beansprucht wer­den. Um deren Gesund­heit zu schützen, bedarf es ein­er indi­vidu­ellen Über­prü­fung, die frei von stereo­typen Vorstel­lun­gen sein sollte. Daher ist es wichtig, dass die Gefährdungs­beurteilung arbeitsmedi­zinisch begleit­et wird.

Geschlechterspezifische PSA

Die kör­per­liche Kon­sti­tu­tion spielt auch bei der Auswahl von per­sön­lich­er Schutzaus­rüs­tung (PSA) eine wichtige Rolle, ins­beson­dere für Frauen. In den let­zten Jahren haben sich viele Her­steller darauf eingestellt, dass ihre PSA auch Frauen passen muss. So gibt es mit­tler­weile Sicher­heitss­chuhe auch in kleineren Größen.

Doch es herrscht noch die Mei­n­ung vor, dass Berufe, die so gefährlich sind, dass man PSA benötigt, Män­ner­berufe sind. So wer­den die dort arbei­t­en­den Frauen mit ihren Bedar­fen häu­fig nicht berück­sichtigt. Allein kleinere PSA zur Ver­fü­gung zu stellen, scheint nicht ausreichend.

Auch die Pass­form ist von großer Bedeu­tung. Schutzk­lei­dung, zum Beispiel für die Feuer­wehr, passt in kleinen Größen auch Frauen, doch die Pass­form kann unter Umstän­den die sichere Bewe­gung behin­dern und somit Unfälle begün­sti­gen. Zu diesem Ergeb­nis kamen das Insti­tut für Arbeitswis­senschaft (IAW) und das Insti­tut für Tex­til­tech­nik (ITA) der Rheinisch-West­fälis­chen Tech­nis­chen Hochschule Aachen.

Sie haben das Prob­lem der Pass­form bei Feuer­wehrklei­dung und Sicher­heitsstiefeln für Frauen aufgezeigt und wur­den dafür im Jahr 2023 mit dem Förder­preis „Helfende Hand“ des Bun­desin­nen­min­is­teri­ums (BMI) aus­geze­ich­net [1].

 

Einzelne Belastungssituationen werden bei Frauen und Männern unterschiedlich gewichtet
Einzelne Belas­tungssi­t­u­a­tio­nen wer­den bei Frauen und Män­nern unter­schiedlich gewichtet.
Foto: Nat­taw­it — stock.adobe.com

Schutzkleidung nach DGUV

Es ist an dieser Stelle erwäh­nenswert, dass die Deutsche Geset­zliche Unfal­lver­sicherung (DGUV) in ihrer Infor­ma­tion 205–014 „Auswahl von per­sön­lich­er Schutzaus­rüs­tung für Ein­sätze bei der Feuer­wehr“, vom Sep­tem­ber 2016, basierend auf ein­er Gefährdungs­beurteilung geschlechtsspez­i­fis­che Kri­te­rien für die Auswahl definiert hat [2].

Ein Betrieb, der nun auf­grund dieser Gefährdungs­beurteilung passende Schutzk­lei­dung für seine weib­lichen Beschäftigten zur Ver­fü­gung stellen möchte, wird unter Umstän­den auf dem PSA-Markt Prob­leme bei der Beschaf­fung haben.

Lärm gefährdet auch Frauen

Es gibt derzeit kaum Erken­nt­nisse darüber, inwieweit bei der Beurteilung der Arbeits­be­din­gun­gen in den Betrieben spez­i­fis­che Aspek­te bezüglich Geschlechter­rollen berück­sichtigt wer­den. Nehmen wir das Beispiel Lärm. Lärm­bere­iche find­en wir in der Regel in der Indus­trie oder im Handw­erk, dort, wo mit weni­gen Aus­nah­men über­wiegend Män­ner arbeiten.

Jed­er Sicher­heits­fachkraft war klar, dass Lärm zu messen, Lärm­bere­iche zu kennze­ich­nen und Lärm­schutz­maß­nah­men umzuset­zen sind. Da sich geset­zliche Vorschriften und branchen­spez­i­fis­che Empfehlun­gen lange nur auf gehörschädi­gende Lärm­pegel bezo­gen, kamen Lärm­schutz­maß­nah­men in erster Lin­ie Män­nern zugute.

Dass auch in typ­is­chen Frauen­berufen Lärm ein Gefährdungs­fak­tor sein kann, ist erst seit eini­gen Jahren ein The­ma. Wir wis­sen heute, dass in Kindertagesstät­ten je nach baulichen Gegeben­heit­en dur­chaus Pegel im gehörschädi­gen­den Risikobere­ich liegen kön­nen. Für die Beschäftigten in den Kindertagesstät­ten beein­trächtigt Lärm die Kom­mu­nika­tion mit den Kindern und wirkt sich so neg­a­tiv auf die Psy­che der Erzieherin­nen und Erzieher aus.

Dieser Erken­nt­nis wird jet­zt zum Glück im tech­nis­chen Regel­w­erk mit der Arbeitsstät­ten­regel ASR A 3.7 vom Mai 2018 Rech­nung getra­gen. Sie informiert über Maß­nah­men bei gesund­heitss­chädlichen Lärm­pegeln unter­halb der gehörschädi­gen­den Schwelle von 80 dB(A) (A‑bewerteter Schall­druck­pegel in Dezibel).

Davon prof­i­tieren nun auch die betrof­fe­nen Beruf­s­grup­pen, in denen, wie zum Beispiel in der Ver­wal­tung, über­wiegend Frauen arbeit­en. Im Hin­blick auf gehörschädi­gende Lärm­be­las­tung ist anson­sten anzunehmen, dass Frauen und Män­ner gle­icher­maßen beansprucht werden.

Geschlechterg­erechter Arbeitsschutz

Maschinen – Männersache?

Die ergonomis­che und sichere Bedi­en­barkeit von Arbeitsmit­teln wie kraft­be­triebe­nen Handgeräten, Maschi­nen­teilen oder Werkzeu­gen ist noch weitest­ge­hend auf die Bedürfnisse von Män­nern aus­gerichtet. Dies ist so, weil Berufe im Handw­erk und in der Indus­trie immer noch als typ­isch männlich gel­ten. Egal ob Griffe, Hebel, Kurbeln oder son­stige elek­tro­n­is­che Schal­tein­rich­tun­gen: Wenn diese nicht für kleinere Frauen­hände bedi­en­bar sind, kann oft auch nicht die erforder­liche Kraft aufge­bracht wer­den. Dann heißt es wieder: „Frauen sind ein­fach nicht so stark.“

Nicht das Geschlecht ist hier auss­chlaggebend, son­dern das Hebelge­setz. Wir erin­nern uns an den Physikun­ter­richt: Die Kraftwirkung hängt dabei vom Abstand des Angriff­spunk­ts zur Drehachse ab. Die richtige Gestal­tung der Bedi­enele­mente macht es möglich, dass sie von allen ergonomisch bedi­ent wer­den kön­nen. Nur kleinere Hand­maschi­nen mit Strasssteinen anzu­bi­eten, ist keine Maß­nahme, um das Schutzziel auch für Frauen zu erreichen.

Auch bei Bedi­en­ar­beit­splätzen auf Kraft­fahrzeu­gen oder Bau­maschi­nen gibt es noch Nach­holbe­darf beim Design von sicher­heit­srel­e­van­ten Bedi­en­plätzen. Bei Unfällen mit einem Auto zum Beispiel sind Frauen oft von anderen Unfall­fol­gen betroffen.

Ein Grund dafür ist, dass das Design der Ele­mente zum Fahrzeugführen für Män­ner konzip­iert ist und deren Sicher­heit mit­tels Crasht­est-Dum­mys getestet wird. Die Dum­mies sind jedoch männlichen Kör­per­maßen nachemp­fun­den und bilden daher die Unfall­fol­gen von Män­nern ab. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass diese Fahrzeugtests nichts über die Sicher­heit für Frauen aussagen.

Es sieht fast so aus, als befän­den sich unsere Vorstel­lun­gen des Designs von Gebrauchs­ge­gen­stän­den gedanklich noch in den 1960er-Jahren des let­zten Jahrhun­derts, als nur sehr wenige Frauen einen Führerschein besaßen. Zum Glück bemän­gelte die schwedis­che Inge­nieurin Astrid Lin­der diesen Zus­tand und entwick­elte 2022 „Eva“, einen weib­lichen Crasht­est-Dum­my. Mit Hil­fe von Eva soll­ten die Fahrzeugtests nun auch die Unfall­fol­gen für Frauen bess­er ermit­teln kön­nen [3].

Unterschiede in Traumabewältigung

Ins­beson­dere hin­sichtlich psy­chis­ch­er Belas­tungs­fak­toren spie­len stereo­type Zuschrei­bun­gen bei der Ein­schätzung der Belas­tungs­fol­gen eine Rolle. So sind Beschäftigte im Ret­tungs­di­enst, in der Feuer­wehr und der Polizei sowie in der Bun­deswehr bei ihren Ein­sätzen häu­fig mit Extrem­si­t­u­a­tio­nen kon­fron­tiert. Schwere Ver­let­zungssi­t­u­a­tio­nen und schwierige Ein­satzbe­din­gun­gen auf der einen Seite sowie aggres­sives Ver­hal­ten gegenüber Ein­satzkräften beanspruchen nicht nur die Psy­che hochgr­a­dig, son­dern gefährden die Ein­satzkräfte direkt.

Weib­lichen Ein­satzkräften wird zuge­s­tanden, dass sie nach dem Ereig­nis emo­tion­al aufgewühlt sind, weinen und das Bedürf­nis nach Zuwen­dung haben. Von männlichen Ein­satzkräften dage­gen wird in der Regel erwartet, dass sie psy­chisch und physisch sta­bil sind und Stärke zeigen. Das hat zur Folge, dass sie unter Umstän­den nach ein­er trau­ma­tisieren­den Erfahrung nicht adäquat betreut wer­den oder aber eine Traum­abe­wäl­ti­gung aus Scham ablehnen.

Es hängt vom Indi­vidu­um ab, wie es mit trau­ma­tis­chen Ereignis­sen umge­ht, und das hat nichts mit einem Geschlecht oder der gesellschaftlich zuge­ord­neten Rolle zu tun. Frauen hinge­gen kön­nten sich bevor­mundet fühlen, wenn ihnen Bewäl­ti­gungsstärke abge­sprochen wird. Bei der Beurteilung der Ein­satztätigkeit­en muss dies berück­sichtigt wer­den. Abgeleit­ete Maß­nah­men müssen sich nach den indi­vidu­ellen Bedürfnis­sen richten.

Wie wichtig Gen­deraspek­te bei der Beurteilung der Arbeits­be­din­gun­gen sind, hat auch eine Pro­jek­t­gruppe des Län­der­auss­chuss­es für Arbeitss­chutz und Sicher­heit­stech­nik (LASI) erkan­nt. Diese hat­te bere­its im Jahr 2012 einen Bericht zum The­ma Geschlechtersen­si­bil­ität im Arbeitss­chutz als Infor­ma­tion­s­grund­lage für die Arbeitss­chutzbe­hör­den vorgelegt [4].

In diesem Bericht wird die Notwendigkeit ein­er auch geschlechter­spez­i­fis­chen Beurteilung der einzel­nen Gefährdun­gen bekräftigt. Unfal­lver­sicherungsträger bestätigten auf Nach­frage, dass nur bei sehr typ­is­chen Belas­tun­gen auf die unter­schiedlichen Belange von Män­nern und Frauen geachtet wird.

Um die Gesund­heit der Beschäftigten zu schützen und bess­er noch zu fördern, hil­ft stereo­types Denken nicht weit­er. Nur wenn die indi­vidu­ellen Stärken und Schwächen von Per­so­n­en im Mit­telpunkt ste­hen, kann die Wirk­samkeit von Arbeitss­chutz­maß­nah­men erfol­gre­ich sein. Vielle­icht ist das auch ein Weg, mehr Beschäftigte für gesund­heits­förder­liche Maß­nah­men zu erre­ichen. Yoga und Pilates sind kein „Frauengedöns“, und was spricht gegen gemis­chte Fußballteams?

Quellen:
[1] Besser­er Schutz für Feuer­wehrfrauen – RWTH AACHEN UNIVERSITY Insti­tut für Arbeitswis­senschaft – Deutsch (rwth-aachen.de); zulet­zt besucht am 18.03.2024.
[2] DGUV Infor­ma­tion 205–014 Auswahl von per­sön­lich­er Schutzaus­rüs­tung für Ein­sätze bei der Feuer­wehr, 2016.
[3] Crasht­est-Dum­mies: Der erste echte weib­liche Dum­my kommt aus Schwe­den, DLF Nova (deutschlandfunknova.de); zulet­zt besucht am 18.03.2024.
[4] LASI-Pro­jek­t­gruppe „Ziel­grup­pen- und Geschlechteraspek­te im Arbeits- und Gesund­heitss­chutz“: Geschlechtersen­si­bil­ität bei Sicher­heit und Gesund­heit bei der Arbeit, Bericht, Sep­tem­ber 2012.


Autorin: Heike-Rebec­ca Nickl
Ref­er­entin für Arbeitss­chutz bei der Arbeit­skam­mer des Saarlandes
 
Foto: pri­vat
Unsere Webi­nar-Empfehlung
Newsletter

Jet­zt unseren Newslet­ter abonnieren

Webinar-Aufzeichnungen

Webcast

Jobs
Sicherheitsbeauftragter
Titelbild Sicherheitsbeauftragter 5
Ausgabe
5.2024
LESEN
ABO
Sicherheitsingenieur
Titelbild Sicherheitsingenieur 5
Ausgabe
5.2024
LESEN
ABO
Special
Titelbild  Spezial zur A+A 2023
Spezial zur A+A 2023
Download

Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de