Arbeitsplätze können nur sicher und gesund gestaltet werden, wenn bei der Gefährdungsbeurteilung auch Aspekte berücksichtigt werden, die aufgrund von Rollenzuschreibungen Einfluss auf die Arbeitssicherheit haben. Noch immer werden Frauen und Männern stereotype Eigenschaften zugeschrieben, die sich auf die Beurteilung der Arbeitsbedingungen auswirken können. Männer gelten als stärker und deshalb prädestiniert für schwere Arbeiten. Frauen dagegen als fürsorglich und einfühlsam, besser im Umgang mit Kindern.
Männer und Frauen sind unterschiedlich leistungsstark; das bedeutet jedoch nicht, dass Männer leistungsstärker als Frauen sind. Die Stärken beider Geschlechter liegen auf unterschiedlichen Gebieten. Dies gilt es anzuerkennen – nicht zu bewerten – und bei der Maßnahmenableitung zu berücksichtigen.
Die Beurteilung der Arbeitsbedingungen gemäß § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) zielt darauf ab, Gefährdungs- und Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz zu ermitteln, um Sicherheit und Schutz der Gesundheit der Beschäftigten zu sichern und zu verbessern.
Der Fokus liegt dabei auf dem Arbeitsplatz oder der Tätigkeit, nicht auf der individuellen Beanspruchung der Personen. In erster Linie soll der Arbeitsplatz oder die Tätigkeit, unabhängig davon, wer dort arbeitet, sicher und gesund gestaltet werden. Diese neutrale Betrachtung hilft, geeignete Schutzmaßnahmen abzuleiten.
Allerdings werden aufgrund biologischer Unterschiede zwischen Frauen und Männern beide Geschlechter von verschiedenen Belastungsfaktoren unterschiedlich beansprucht. Dies wird in gesetzlichen Vorgaben und im Regelwerk der DGUV berücksichtigt, zum Beispiel in der Merkmalmethode zur Beurteilung physischer Belastung durch das Handhaben schwerer Lasten. Individuelle Belastungssituationen erfordern spezifische Maßnahmen, die für einen Großteil der Beschäftigten ein hohes Schutzniveau bieten.
Es gibt jedoch Beschäftigte, die aufgrund ihrer körperlichen Konstitution oder ihres Alters stärker beansprucht werden. Um deren Gesundheit zu schützen, bedarf es einer individuellen Überprüfung, die frei von stereotypen Vorstellungen sein sollte. Daher ist es wichtig, dass die Gefährdungsbeurteilung arbeitsmedizinisch begleitet wird.
Geschlechterspezifische PSA
Die körperliche Konstitution spielt auch bei der Auswahl von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) eine wichtige Rolle, insbesondere für Frauen. In den letzten Jahren haben sich viele Hersteller darauf eingestellt, dass ihre PSA auch Frauen passen muss. So gibt es mittlerweile Sicherheitsschuhe auch in kleineren Größen.
Doch es herrscht noch die Meinung vor, dass Berufe, die so gefährlich sind, dass man PSA benötigt, Männerberufe sind. So werden die dort arbeitenden Frauen mit ihren Bedarfen häufig nicht berücksichtigt. Allein kleinere PSA zur Verfügung zu stellen, scheint nicht ausreichend.
Auch die Passform ist von großer Bedeutung. Schutzkleidung, zum Beispiel für die Feuerwehr, passt in kleinen Größen auch Frauen, doch die Passform kann unter Umständen die sichere Bewegung behindern und somit Unfälle begünstigen. Zu diesem Ergebnis kamen das Institut für Arbeitswissenschaft (IAW) und das Institut für Textiltechnik (ITA) der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.
Sie haben das Problem der Passform bei Feuerwehrkleidung und Sicherheitsstiefeln für Frauen aufgezeigt und wurden dafür im Jahr 2023 mit dem Förderpreis „Helfende Hand“ des Bundesinnenministeriums (BMI) ausgezeichnet [1].
Schutzkleidung nach DGUV
Es ist an dieser Stelle erwähnenswert, dass die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) in ihrer Information 205–014 „Auswahl von persönlicher Schutzausrüstung für Einsätze bei der Feuerwehr“, vom September 2016, basierend auf einer Gefährdungsbeurteilung geschlechtsspezifische Kriterien für die Auswahl definiert hat [2].
Ein Betrieb, der nun aufgrund dieser Gefährdungsbeurteilung passende Schutzkleidung für seine weiblichen Beschäftigten zur Verfügung stellen möchte, wird unter Umständen auf dem PSA-Markt Probleme bei der Beschaffung haben.
Lärm gefährdet auch Frauen
Es gibt derzeit kaum Erkenntnisse darüber, inwieweit bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen in den Betrieben spezifische Aspekte bezüglich Geschlechterrollen berücksichtigt werden. Nehmen wir das Beispiel Lärm. Lärmbereiche finden wir in der Regel in der Industrie oder im Handwerk, dort, wo mit wenigen Ausnahmen überwiegend Männer arbeiten.
Jeder Sicherheitsfachkraft war klar, dass Lärm zu messen, Lärmbereiche zu kennzeichnen und Lärmschutzmaßnahmen umzusetzen sind. Da sich gesetzliche Vorschriften und branchenspezifische Empfehlungen lange nur auf gehörschädigende Lärmpegel bezogen, kamen Lärmschutzmaßnahmen in erster Linie Männern zugute.
Dass auch in typischen Frauenberufen Lärm ein Gefährdungsfaktor sein kann, ist erst seit einigen Jahren ein Thema. Wir wissen heute, dass in Kindertagesstätten je nach baulichen Gegebenheiten durchaus Pegel im gehörschädigenden Risikobereich liegen können. Für die Beschäftigten in den Kindertagesstätten beeinträchtigt Lärm die Kommunikation mit den Kindern und wirkt sich so negativ auf die Psyche der Erzieherinnen und Erzieher aus.
Dieser Erkenntnis wird jetzt zum Glück im technischen Regelwerk mit der Arbeitsstättenregel ASR A 3.7 vom Mai 2018 Rechnung getragen. Sie informiert über Maßnahmen bei gesundheitsschädlichen Lärmpegeln unterhalb der gehörschädigenden Schwelle von 80 dB(A) (A‑bewerteter Schalldruckpegel in Dezibel).
Davon profitieren nun auch die betroffenen Berufsgruppen, in denen, wie zum Beispiel in der Verwaltung, überwiegend Frauen arbeiten. Im Hinblick auf gehörschädigende Lärmbelastung ist ansonsten anzunehmen, dass Frauen und Männer gleichermaßen beansprucht werden.
Maschinen – Männersache?
Die ergonomische und sichere Bedienbarkeit von Arbeitsmitteln wie kraftbetriebenen Handgeräten, Maschinenteilen oder Werkzeugen ist noch weitestgehend auf die Bedürfnisse von Männern ausgerichtet. Dies ist so, weil Berufe im Handwerk und in der Industrie immer noch als typisch männlich gelten. Egal ob Griffe, Hebel, Kurbeln oder sonstige elektronische Schalteinrichtungen: Wenn diese nicht für kleinere Frauenhände bedienbar sind, kann oft auch nicht die erforderliche Kraft aufgebracht werden. Dann heißt es wieder: „Frauen sind einfach nicht so stark.“
Nicht das Geschlecht ist hier ausschlaggebend, sondern das Hebelgesetz. Wir erinnern uns an den Physikunterricht: Die Kraftwirkung hängt dabei vom Abstand des Angriffspunkts zur Drehachse ab. Die richtige Gestaltung der Bedienelemente macht es möglich, dass sie von allen ergonomisch bedient werden können. Nur kleinere Handmaschinen mit Strasssteinen anzubieten, ist keine Maßnahme, um das Schutzziel auch für Frauen zu erreichen.
Auch bei Bedienarbeitsplätzen auf Kraftfahrzeugen oder Baumaschinen gibt es noch Nachholbedarf beim Design von sicherheitsrelevanten Bedienplätzen. Bei Unfällen mit einem Auto zum Beispiel sind Frauen oft von anderen Unfallfolgen betroffen.
Ein Grund dafür ist, dass das Design der Elemente zum Fahrzeugführen für Männer konzipiert ist und deren Sicherheit mittels Crashtest-Dummys getestet wird. Die Dummies sind jedoch männlichen Körpermaßen nachempfunden und bilden daher die Unfallfolgen von Männern ab. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass diese Fahrzeugtests nichts über die Sicherheit für Frauen aussagen.
Es sieht fast so aus, als befänden sich unsere Vorstellungen des Designs von Gebrauchsgegenständen gedanklich noch in den 1960er-Jahren des letzten Jahrhunderts, als nur sehr wenige Frauen einen Führerschein besaßen. Zum Glück bemängelte die schwedische Ingenieurin Astrid Linder diesen Zustand und entwickelte 2022 „Eva“, einen weiblichen Crashtest-Dummy. Mit Hilfe von Eva sollten die Fahrzeugtests nun auch die Unfallfolgen für Frauen besser ermitteln können [3].
Unterschiede in Traumabewältigung
Insbesondere hinsichtlich psychischer Belastungsfaktoren spielen stereotype Zuschreibungen bei der Einschätzung der Belastungsfolgen eine Rolle. So sind Beschäftigte im Rettungsdienst, in der Feuerwehr und der Polizei sowie in der Bundeswehr bei ihren Einsätzen häufig mit Extremsituationen konfrontiert. Schwere Verletzungssituationen und schwierige Einsatzbedingungen auf der einen Seite sowie aggressives Verhalten gegenüber Einsatzkräften beanspruchen nicht nur die Psyche hochgradig, sondern gefährden die Einsatzkräfte direkt.
Weiblichen Einsatzkräften wird zugestanden, dass sie nach dem Ereignis emotional aufgewühlt sind, weinen und das Bedürfnis nach Zuwendung haben. Von männlichen Einsatzkräften dagegen wird in der Regel erwartet, dass sie psychisch und physisch stabil sind und Stärke zeigen. Das hat zur Folge, dass sie unter Umständen nach einer traumatisierenden Erfahrung nicht adäquat betreut werden oder aber eine Traumabewältigung aus Scham ablehnen.
Es hängt vom Individuum ab, wie es mit traumatischen Ereignissen umgeht, und das hat nichts mit einem Geschlecht oder der gesellschaftlich zugeordneten Rolle zu tun. Frauen hingegen könnten sich bevormundet fühlen, wenn ihnen Bewältigungsstärke abgesprochen wird. Bei der Beurteilung der Einsatztätigkeiten muss dies berücksichtigt werden. Abgeleitete Maßnahmen müssen sich nach den individuellen Bedürfnissen richten.
Wie wichtig Genderaspekte bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen sind, hat auch eine Projektgruppe des Länderausschusses für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) erkannt. Diese hatte bereits im Jahr 2012 einen Bericht zum Thema Geschlechtersensibilität im Arbeitsschutz als Informationsgrundlage für die Arbeitsschutzbehörden vorgelegt [4].
In diesem Bericht wird die Notwendigkeit einer auch geschlechterspezifischen Beurteilung der einzelnen Gefährdungen bekräftigt. Unfallversicherungsträger bestätigten auf Nachfrage, dass nur bei sehr typischen Belastungen auf die unterschiedlichen Belange von Männern und Frauen geachtet wird.
Um die Gesundheit der Beschäftigten zu schützen und besser noch zu fördern, hilft stereotypes Denken nicht weiter. Nur wenn die individuellen Stärken und Schwächen von Personen im Mittelpunkt stehen, kann die Wirksamkeit von Arbeitsschutzmaßnahmen erfolgreich sein. Vielleicht ist das auch ein Weg, mehr Beschäftigte für gesundheitsförderliche Maßnahmen zu erreichen. Yoga und Pilates sind kein „Frauengedöns“, und was spricht gegen gemischte Fußballteams?
Quellen:
[1] Besserer Schutz für Feuerwehrfrauen – RWTH AACHEN UNIVERSITY Institut für Arbeitswissenschaft – Deutsch (rwth-aachen.de); zuletzt besucht am 18.03.2024.
[2] DGUV Information 205–014 Auswahl von persönlicher Schutzausrüstung für Einsätze bei der Feuerwehr, 2016.
[3] Crashtest-Dummies: Der erste echte weibliche Dummy kommt aus Schweden, DLF Nova (deutschlandfunknova.de); zuletzt besucht am 18.03.2024.
[4] LASI-Projektgruppe „Zielgruppen- und Geschlechteraspekte im Arbeits- und Gesundheitsschutz“: Geschlechtersensibilität bei Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, Bericht, September 2012.
Referentin für Arbeitsschutz bei der Arbeitskammer des Saarlandes