Frau Scholl, die Begriffe Inklusion und Integration werden nicht selten synonym oder recht willkürlich verwendet. Lässt sich beides überhaupt voneinander trennen?
Im Grunde sind es durchaus zwei verschiedene Begriffe: Bei der Inklusion geht es darum, von vornherein eine Umgebung zu schaffen, die allen Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht. Bei der Integration wiederum wird eine vorhandene Umgebung so angepasst, dass beispielsweise Menschen mit Beeinträchtigungen sich genauso zugehörig fühlen, sprich integriert werden können – etwa an Arbeitsplätzen.
Idealerweise wird also beispielsweise Barrierefreiheit schon bei der Planung neuer Arbeitsstätten umgesetzt, sodass Inklusionsbetriebe entstehen. Oder es werden bestehende Arbeitsstätten so umgerüstet, dass Menschen mit Behinderung im Nachhinein dort integriert werden können.
Genau. Ich denke aber, dass die Trennschärfe der Begriffe hier gar nicht der maßgebliche Punkt ist. Viel wichtiger ist, dass Beeinträchtigungen von Mitarbeitenden generell berücksichtigt werden und die Betroffenen dies auch wahrnehmen. Aktuell beobachten wir bezüglich Inklusion beziehungsweise Integration immer noch ein großes Unwissen und eine große Unsicherheit bei den Betrieben – sowohl seitens der Arbeitgeber als auch bei den Mitarbeitenden, die oft gar nicht wissen, wie sie mit diesem Thema umgehen sollen.
Woran liegt dies nach Ihrer Einschätzung?
Ein Problem ist, dass rund 95 Prozent der Beeinträchtigungen für Außenstehende gar nicht sichtbar sind, besonders, wenn es sich um psychische Belastungen oder Erkrankungen handelt. Viele wissen zum Beispiel gar nicht, dass auch solche Belastungen unter Umständen als Schwerbehinderung eingestuft werden können, beispielsweise eine stark ausgeprägte Migräne. Diese Beeinträchtigungen sind manchmal, auch vom Arbeitgeber, schwer zu greifen und daher erleben wir zum Teil anfangs Unverständnis aufgrund von Unsicherheit. Auch darüber wollen wir aufklären.
Welche Maßnahmen kommen zum Beispiel in Frage, wenn Menschen aus solchen oder anderen gesundheitlichen Gründen ihren bisherigen Job nicht mehr ausüben können?
Manchmal reicht es schon aus, in dem jeweiligen Betrieb neue Aufgaben zu finden oder die Arbeit anders zu organisieren. In den Berufsförderungswerken ermöglichen wir zudem in mehr als 250 Berufsfeldern Umschulungen, so dass die jeweiligen Personen komplett neu qualifiziert werden. Früher hat dies vor allem klassische Berufe und Einschränkungen des Bewegungsapparats wie etwa den Dachdecker mit Rückenproblemen betroffen. Inzwischen aber zeigt sich, dass wir auch immer mehr in die psychische Problematik hineinrutschen und auch davon betroffene Beschäftigte oft ganz neu in das Arbeitsleben (re)integriert werden müssen.
Die Berufsförderungswerke haben bundesweit 28 Hauptstandorte mit eigenen Betriebsstätten, in denen Ausbildungen und Umschulungen für beeinträchtigte Menschen angeboten werden. Wo arbeiten diese Menschen anschließend?
Die BFW sind Experten für die Rückkehr ins Berufsleben. Das bedeutet, wir bilden nicht für unseren eigenen Bedarf aus, sondern mit dem Ziel, dass körperlich oder psychisch beeinträchtigte Menschen anschließend wieder auf dem ersten, also regulären Arbeitsmarkt tätig werden können – idealerweise sogar in ihrem ursprünglichen Betrieb. Daher kooperieren wir mit Unternehmen wie zum Beispiel Siemens: Wir bilden die Leute für die dortigen Arbeitsplätze aus, dafür stellen uns die Unternehmen zum Teil entsprechende Geräte oder Arbeitsmittel zur Verfügung. So können die Betroffenen dann tatsächlich oft auch wieder übernommen werden. Ein großer Teil unserer Rehabilitanden ist natürlich auch im Mittelstand tätig. Auch auf breiter Ebene tut sich einiges. So beschäftigen wir uns bereits seit einigen Jahren mit KI-Systemen zur Unterstützung der (Arbeits-)Inklusion, gefördert vom Bundesarbeitsministerium.
Wie können die BFW interessierte Unternehmen und ihre Arbeitsschutzakteure noch unterstützen?
Wir bieten unter anderem auch eine Präventionsberatung an, bei der sich klären lässt, wie ein Arbeitsplatz erhalten werden kann. Hier können wir aus einem großen Erfahrungsschatz schöpfen, weil wir zum Beispiel wissen, welche Arbeitsplätze frühzeitig zu Beeinträchtigungen bei den dort tätigen Menschen führen können – auch bezüglich psychischer Aspekte, Beispiel Migräne. Außerdem bieten die BFW berufsvorbereitende Maßnahmen wie etwa Assessments an. Dabei können Betroffene unter anderem herausfinden, was alles noch machbar ist mit den Fähigkeiten, die sie aktuell haben und wo ihre Stärken liegen. Das Angebot reicht bis zu kompletten Umqualifizierungen mit einem gänzlich neuen Abschluss. Es geht also nicht nur um die Rückkehr und BEM-Maßnahmen, sondern unsere Zielgruppe sind auch Menschen, die noch im Beruf sind, aber damit aufgrund ihrer Einschränkungen gerade nicht mehr klarkommen.
Wie können Sicherheitsverantwortliche und Sicherheitsbeauftragte herausfinden, ob es Mitarbeitende mit solchen Problemen gibt? Gerade die psychischen Belastungen sind den Leuten oft gar nicht anzumerken.
Die Zahl der Krankentage kann schon relativ aufschlussreich sein, die sollten Arbeitgeber also immer im Blick haben. Bei Auffälligkeiten ist es ratsam, das Gespräch mit den jeweiligen Mitarbeitenden zu suchen, um gemeinsam zu gucken: Woran liegt es, und was können wir machen, damit es Ihnen wieder besser geht? Dies kann ganz niedrigschwellig anfangen mit beispielsweise BGM-Maßnahmen. Kurz: Viele warten zu lange, bis sie aktiv werden. Dazu beitragen können übrigens auch die Angehörigen. Deswegen haben wir bei den BFW nun auch das Beratungsangebot: „wir.Neustarter“. Es richtet sich ganz konkret an die von Einschränkungen betroffenen Beschäftigten selbst, aber auch an ihre Familien. Denn oft ist es so, dass die Angehörigen schon etwas mitbekommen, während der Arbeitgeber noch ahnungslos ist.
Neben Ihrem Hauptjob bei den BFW engagieren Sie sich ehrenamtlich im Vorstand von Das Demographie Netzwerk e.V. (ddn). Wie hilft dieser Verband weiter?
Stichwort ist vor allem das „Netzwerk“. Weil wir gerade bei den Betrieben immer wieder erleben, wie entscheidend es ist, wechselseitig aus Erfahrungen schöpfen zu können. Deswegen haben wir auch eigene Formate zum unternehmerischen Austausch ins Leben gerufen. Diese Angebote sind auf unserer Homepage zu finden. Wir verlinken uns gegenseitig und erarbeiten gemeinsame Formate, um das Thema Integration bei Berufsunfähigkeit in die Öffentlichkeit zu tragen. Unser Auftrag ist – sowohl bei den Berufsförderungswerken als auch beim ddn –, relevante Aspekte für die Unternehmen aufzubereiten mit dem Ziel, die Menschen in die Arbeit zu bringen. Und das klappt auch ganz gut: Unsere Reintegrationsquoten liegen bei rund 80 Prozent.