In Unternehmen, die nach ISO 45001 zertifiziert sind, spielen Arbeits- und Gesundheitsschutz eine zentrale Rolle. Führungskräfte sind in dieser international anerkannten Norm stark in die Prozesse eingebunden; Arbeitsschutz wird „zur Chefsache“. Auch Ohris hat das Wohl der Mitarbeiter*innen im Fokus. Es ist das Managementsystem der Bayerischen Staatsregierung für mehr Gesundheit bei der Arbeit und Sicherheit technischer Anlagen. Doch unabhängig davon, ob und welche Zertifizierung vorliegt, sind Arbeitssicherheit und die Gesundheit der Mitarbeiter*innen bei den meisten Unternehmen integraler Bestandteil der Firmen-DNA geworden. Es wird weit mehr getan, als gesetzlich vorgesehen ist.
Qualifikation und Sensibilisierung
„Eine gelebte Sicherheitskultur ist der beste Garant für höchste Arbeitssicherheit“, sagt Oskar Hack, Corporate HSEQ-Director bei Bilfinger. Mit der Offensive „Zero is possible“ verfolgt das Unternehmen seit Jahren das Ziel, führend in der Unfallprävention zu sein – mit Erfolg. Vollständig eliminiert sind Unfälle bei Instandhaltungsarbeiten in der Prozessindustrie, dem Haupttätigkeitsfeld von Bilfinger, aber leider noch nicht. „Es handelt sich in der Regel um ungeplante Reparaturen, die bei laufendem Betrieb unter Zeitdruck und schwierigen Arbeitsbedingungen wie auf einer Ölplattform vorgenommen werden. Oft sind mehrere Gewerke involviert.“ Deshalb ist es wichtig, dass es eine zentrale Einheit gibt, die sämtliche Abläufe steuert. Sie muss alle potenziellen Gefährdungen im Auge haben und für die geplanten Arbeiten ihre Erlaubnis und Freigabe erteilen.
Doch man muss nicht auf Windkrafträder klettern, bei der Müllentsorgung arbeiten oder in der Chemieindustrie tätig sein. Auch in der Logistik oder fürs Büro gelten Qualifikation und Sensibilisierung der Vorgesetzten und Mitarbeiter*innen als wirksamster Hebel für mehr Sicherheit. „Maßnahmen und Vorkehrungen sind nichts wert, wenn sie nicht genau umgesetzt werden. Am besten besteht eine intrinsische Motivation“, sagt Hack.
Aufmerksamkeitsstarke Kampagnen
Passieren bei hohen Sicherheitsstandards dennoch Unfälle, kann das mit dem Verhalten der Mitarbeiter zu tun haben. „Die Maßnahmen sind umso erfolgreicher, je intensiver die Mitarbeiter eingebunden werden. Vor-Ort-Trainings funktionieren besser als Frontalunterricht“, so die Erfahrung von Hack. „Wenn möglich, vertieft man vorhandenes Wissen und übt die Abläufe direkt am Arbeitsplatz.“ Kampagnen müssen aufmerksamkeitsstark sein. Besonders gut angekommen sind Zeichentrick-Videos mit Avataren von realen Personen aus dem Unternehmen, bei denen für Schulungszwecke Unfälle nachgestellt wurden. Über einen Barcode gelangt man schnell zum Film.
Aktionstage zu Stolperfallen, Rutschen, Stürzen, Gefährdung durch Brand und Explosion, betriebliche Verkehrssicherheit oder Haut- und Handpflege dienen ebenfalls dazu, Arbeitsschutz erleb- und greifbar zu machen. Das erhöht die Motivation für sichere und gesunde Verhaltensweisen. Wiederholungen helfen, Handlungen positiv zu beeinflussen. Regelmäßige „Safety Shares“ oder „Health Moments“ am Anfang einer Sitzung bzw. Veranstaltung zu Themen wie richtiges Heben, Sicherheit auf Verkehrswegen oder Treppen steigen mit Handläufen, aber auch Zecken oder UV-Schutz sorgen für erhöhtes Bewusstsein im Kollegium.
Digitalisierung für mehr Arbeitssicherheit
Mögliche Risiken für die Mitarbeiter*innen können durch Safety Walks ermittelt werden. Wenn Führungskräfte regelmäßig mit den Kolleg*innen in Dialog treten und Arbeitsplätze sowie Laufwege auf mögliche Gefahren untersuchen, lassen sich viele Unfälle im Vorfeld verhindern. Wichtig ist, dass die Ergebnisse festgehalten werden. Dabei hilft eine HSEQ-App, die die Unternehmen nach ihren Bedürfnissen entwickeln. Mittels einer solchen App können alle Mitarbeiter*innen HSEQ-relevante Ereignisse inklusive Fotos unkompliziert in Smartphones oder Tablets erfassen beziehungsweise hochladen und an die HSEQ-Software weiterleiten. Dank der digitalen Systeme sind von der Gefährdungsbeurteilung bis zum Abschluss der Tätigkeit sämtliche Arbeitsschritte erfasst und können systematisch analysiert und ausgewertet werden. Auch das trägt zur Arbeitssicherheit bei.
Arbeitsplätze lassen sich heute auch per App in Bezug auf ergonomische Gefährdungen analysieren. Erste Erfahrungen hat Siemens Healthineers mit der TUMEKE-App gemacht. Mit dieser App filmt man den/die Mitarbeiter*innen zunächst am Arbeitsplatz, die Gesichter werden automatisch verpixelt. Dann wird mit KI ein ergonomisches Risikoprofil erstellt, auf dessen Grundlage man Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren kann. Ein Drittel der relevanten Arbeitsplätze sollen so über einen Zeitraum von drei Jahren evaluiert werden, um sie an die Bedürfnisse einer sich demographisch verändernden Belegschaft anzupassen.
Wirkungsvoll sind außerdem einfache Risiko-Wahrnehmungstrainings, indem man die Kolleg*innen mit offenen Augen in andere Abteilungen schickt oder Bilder von Situationen zeigt, die auf dem Gelände passiert sind.
Ergonomie Coaches …
Auch für die Gesunderhaltung von Mitarbeiter*innen in Büro und Homeoffice wird viel getan. „Wir bieten beispielsweise ein Body Mapping an, das es möglich macht, Verspannungen genau zu lokalisieren und dann effektiv zu behandeln“, sagt Dr. Katja Zander, Leitung Arbeitssicherheit Boehringer Ingelheim. Viele Büros sind mit höhenverstellbaren Schreibtischen und ergonomischen Stühlen ausgestattet. Wer in Smart- Working-Bereichen in Ruhe arbeiten muss, kann sich in „Quiet Zones“ zurückziehen. Fürs Homeoffice gibt es Checklisten, wie was eingestellt sein muss und wie Kabel verlegt sein müssen.
Bei Uvex haben sich Safety Engineer Tom Gramer und Kollegen zu Ergonomie Coaches für Bildschirmarbeitsplätze ausbilden lassen und daraus ein E‑Learning-Tool entwickelt. Die Mitarbeiter werden flächendeckend zu Problemen zum Beispiel im Hals-Nacken-Bereich abgefragt. Uvex stellt geteilte Tastaturen und ergonomische Mäuse zur Verfügung. Wer möchte, kann sich eine Bildschirmbrille anfertigen lassen.
Modern-Workplace-Berater …
Und die IT macht vieles einfacher. Die Frankfurter Entsorgungs- und Service GmbH hat ihr Unfallmeldesystem so digitalisiert, dass eine Unfallanzeige direkt an die Unfallkasse weitergeleitet werden kann. Die Anzeige ist einfach auszufüllen, persönliche Daten werden nach Eingabe der Personalnummer automatisch eingesetzt. Anhänge lassen sich unkompliziert hochladen. Eingeführt hat das der Modern-Workplace-Berater Julian Roth in enger Zusammenarbeit mit der IT-Fachabteilung Modern Workplace. Modern-Workplace-Berater beschäftigen sich damit, wie man mit gezieltem IT-Einsatz die Anforderungen an einen modernen Arbeitsplatz erfüllen kann.
… und Gesundheitslots*innen
Boehringer Ingelheim lässt immer mehr Mitarbeiter*innen zu Gesundheitslotsen ausbilden. Gesundheitslots*innen sind Ansprechpersonen zu Themen rund um Betriebliches Gesundheitsmanagement, sie begleiten alle darauf bezogenen Angebote. So lässt sich Gesundheitsförderung noch nachhaltiger im Betrieb etablieren. Sie fungieren als Vermittler zu den professionellen Beratungsstellen im Unternehmen, veranstalten aktive und achtsame Pausen im direkten Arbeitsumfeld, verteilen Newsletter, werben für Aktionen und Veranstaltungen, geben kleine Gesundheitsimpulse und helfen vor Ort, den Arbeitsplatz ergonomisch einzustellen.
Wegeunfälle vermeiden
Junge Menschen sind an Unfällen im Straßenverkehr wesentlich häufiger beteiligt als ältere. Um Berufseinsteiger*innen direkt für mögliche Risiken zu sensibilisieren, arbeitet Boehringer Ingelheim mit der Uni Jena und dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat an einem Gefährdungsanalysetool für Auszubildende und Duale Student*innen namens GUROM. Ursprünglich stand die Abkürzung für „Gefährdungsbeurteilung und Risikobewertung organisationaler Mobilität“. Das Online-Tool hilft dabei, Unfälle auf Arbeits- und Schul- sowie beruflichen Wegen und Fahrten zu verhindern. Befragungen der 431 Auszubildenen bei Boehringer Ingelheim ergaben, dass im Auto Ablenkung, Stress oder Ermüdung eine Rolle spielen, auf dem Rad oder zu Fuß sind es ungeeignetes Schuhwerk, Ablenkung und mangelnde Erkennbarkeit im Dunkeln. Um diese Gefahren zu minimieren, gibt es regelmäßige Fahrsicherheitstrainings, Stolperparcours und einen Präventionstag zu Verkehrssicherheit. Außerdem haben zwei Studenten ein virtuelles Spiel und ein Brettspiel für ihre Kolleg*innen entwickelt, die sich mit dem Thema Sichtbarkeit im Dunkeln und Ablenkung im Straßenverkehr beschäftigen.
Health & Wellbeing mit Entwicklungspotenzial
Berichte der Betriebskrankenkassen zeigen, dass psychische Erkrankungen, aber auch das Bewusstsein dafür zugenommen haben. Siemens Healthineers befragt seine Beschäftigten im Rahmen einer Mitarbeiterzufriedenheitsumfrage einmal monatlich auch zu Aspekten der psychischen Gesundheit. Darüber hinaus gibt es persönliche Gespräche zwischen Führungskräften und Mitarbeiter*innen. Je nach Bedarf werden dann zielgerichtet präventive Angebote zu Themen wie Stress, Sucht, Burn-out oder Work-Life-Balance initiiert.
Uvex sorgt mit VR-Brillen für die mentale Regeneration und mehr Resilienz am Arbeitsplatz. In einem Massagesessel sitzend können die Mitarbeiter*innen in eine andere Welt eintauchen, Delfinen beim Schwimmen zusehen oder fremde Länder erkunden.
Auch gesunder Schlaf, Ernährung und Sport sind bei Gesundheits-Events Thema. Bei den Global Health Days 2023 von Siemens Healthineers ging es virtuell und vor Ort um mentale Gesundheit, Ernährung und Sport. „Wer beim Run4Healtineers Charity-Lauf in Erlangen mitmachen wollte, sich aber noch nicht fit genug fühlte, hatte die Möglichkeit, an einem mehrmonatigen Lauf- und Fitnesstraining teilzunehmen“, erzählt Christian Reckziegel, Leiter ESH bei Siemens Healthineers.
Für mehr Respekt wirbt die Stadt Frankfurt gemeinsam mit der FES auf einer Straßenbahn und Müllfahrzeugen mit Silhouetten von unterschiedlichen Bürger*innen, Männer und Frauen in Orange, neben Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften. „Immer öfter werden Mitarbeiter*innen unserer Straßenreinigung und Entsorgen angehupt, beschimpft oder auch tätlich angegangen. Das können wir nicht akzeptieren, sie stehen im Dienste der Gesellschaft und leisten unverzichtbare Arbeit“, sagt FES-Geschäftsführer Dirk Remmert.
Speak-up-Kultur und Ideen-Wettbewerb
Eine offene Gesprächskultur, direkte Gespräche von Vorgesetzten mit ihren Mitarbeiter*innen werden deutlich forciert. Das Bewusstsein für Arbeitsschutz und Gesundheit wird „von oben“ vorgelebt. Bei Boehringer Ingelheim werden die Beschäftigten zu einer „Speak-up“-Kultur ermutigt und in die Arbeit der Sicherheitsfachkräfte einbezogen. Bei der FES besteht über ein digitales Ideenpool die Möglichkeit, Verbesserungsvorschläge einzureichen. Über die Mitarbeiter-App kann auch jede*r gewerbliche Mitarbeiter*in direkt einen Beitrag leisten. Dies schließt auch den Arbeitsschutz ein. Über diesen Kanal hat die Stabsstelle Arbeits- und Brandschutz bereits mehr als zwei Dutzend Verbesserungsvorschläge erhalten.
Seit zehn Jahren bereits prämiert Bilfinger Maßnahmen und Ideen von Mitarbeiter*innen, die den Arbeits- und Gesundheitsschutz verbessern. Das Unternehmen ist der Überzeugung, dass die Kolleg*innen meist am besten wissen, wo Risiken lauern und wie Abhilfe geschaffen werden kann. Im Laufe der Jahre sind weit über 1.000 Ideen eingegangen. Das heißt, die Bilfinger-Mitarbeiter*innen haben einen wesentlichen Beitrag zur nachhaltigen Reduzierung von Unfällen geleistet.
Letztlich kommt es darauf an, die verschiedenen Tools und Methoden aufeinander abzustimmen, um ein umfassendes Konzept zu haben. Die Basis aller Maßnahmen sind Schulungen und Kampagnen, die die Grundregeln vermitteln und für alle Mitarbeiter*innen und Führungskräfte gleichermaßen gelten.