Ziel des Forschungsprojekts „J‑AGS“ – Jugend-Arbeits- und Gesundheitsschutz – war es, geeignete Strategien zum Erwerb von Schlüsselkompetenzen für gesundheitsgerechtes beziehungsweise gesundheitsförderliches Arbeiten in der betrieblichen Ausbildung zu erproben. Im Kern ging es darum, die Auszubildenden für Arbeitssicherheit und Gesundheit zu sensibilisieren und ihre Eigenverantwortung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz zu fördern – durch direkte Einbindung der Berufseinsteiger/innen und ihrer betrieblichen Ausbilder/innen. Das Projekt wurde von der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) finanziert und von der Arbeitsgruppe Wissen-Denken-Handeln der TU Dresden in Kooperation mit einem Pilotunternehmen umgesetzt.
Hintergrund für das von der Berufsgenossenschaft geförderte Forschungsprojekt ist, dass in den Branchen Handel und Warenlogistik junge Beschäftigte – Berufsanfänger/innen und Auszubildende – im Vergleich mit anderen Altersgruppen die höchsten Unfallquoten aufweisen. Auch branchenübergreifende Unfallstatistiken und Untersuchungen weisen auf ein erhöhtes Risiko für Arbeitsunfälle und Verletzungen in der Gruppe der jungen Beschäftigten hin.
Kompetenzen frühzeitig erwerben
Als Ursachen hierfür werden in der Literatur häufig die mangelnde Berufserfahrung und eine fehlerhafte Wahrnehmung beziehungsweise Einschätzung von arbeitsbedingten Gefahren aufgeführt. Das heißt, Risiken werden aus Mangel an Erfahrung nicht erkannt
beziehungsweise nicht richtig eingeschätzt. Ein Schlüssel zum Erlernen arbeits- und gesundheitsschutzgerechten Verhaltens in der Berufsausbildung liegt demnach in der Bewusstseinsbildung für Gefährdungen und der Sensibilisierung für Arbeitsschutz und Gesundheit. Dabei spielt der frühzeitige Erwerb von AGS-Schlüsselkompetenzen für gesundheitsgerechtes beziehungsweise ‑förderliches Arbeiten eine zentrale Rolle. Um diese Kompetenzen zu erwerben beziehungsweise einsetzen zu können, ist die arbeits- und gesundheitsgerechte Gestaltung der betrieblichen Berufsausbildung ebenso notwendig.
Diskussionen, Befragungen, Workshops
Für die Umsetzung des Forschungsvorhabens wurde eine breite Methodenvielfalt genutzt, die an den spezifischen Bedürfnissen der Zielgruppe ansetzte. Neben Analysen des internationalen Forschungsstandes und Statistiken zum Unfallgeschehen junger Beschäftigter aus den Branchen Handel und Warenlogistik wurden sowohl Begehungen vor Ort, Fokusgruppendiskussionen mit den AGS-Beteiligten als auch Online-Befragungen und Workshops mit den Auszubildenden durchgeführt. Auf diese Weise wurden diese aktiv in den AGS ihrer Berufsausbildung eingebunden und erhielten so die Möglichkeit, eigene Gestaltungsvorschläge zur Verbesserung anzubringen.
Wo besteht Handlungsbedarf?
Als ein Ergebnis des Projekts wurden zwei Checklisten erarbeitet. Checkliste 1 wird von den Auszubildenden ausgefüllt. Sie dient dazu, die Situation des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in der Berufsausbildung aus ihrer Sicht zu ermitteln. Checkliste 2 stimmt inhaltlich mit Checkliste 1 überein, richtet sich jedoch an die Ausbilder/innen. Beide Listen greifen jeweils fünf AGS-Themenbereiche mit jeweils drei AGS-Aspekten auf. Diese Ansatzpunkte wurden in Anlehnung an das Konzept der Arbeitsfähigkeit ausgewählt, das der finnische Wissenschaftler Juhani Ilmarinen zusammen mit dem deutschen Arbeitsmediziner Jürgen Tempel entwickelt hat und unter dem Namen „Haus der Arbeitsfähigkeit“ bekannt ist (siehe Kasten auf Seite 33). Das ermöglichte eine übersichtliche Strukturierung der Fragen und Inhalte.
Empfehlungen für Maßnahmen
Beide Checklisten dienen dazu, Handlungsbedarfe sowie Interventionsschwerpunkte im AGS am Ausbildungsplatz sichtbar zu machen. Damit wird eine Grundlage zur Ableitung ganzheitlicher AGS-Maßnahmen geschaffen. In Unterstützung dazu enthält eine im Rahmen des Projekts entwickelte Broschüre für jedes aufgeführte Thema Maßnahmen-Empfehlungen, so etwa zum Punkt Partizipation (siehe Kasten unten).
Workshop zur Kompetenzförderung
Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus der Online-Befragung und den Fokusgruppendiskussionen wurde zudem ein Workshop-Konzept entwickelt, das an der betrieblichen Ausbildungssituation ansetzt und die Verbesserung des gelebten Arbeitsschutzes in der Berufsausbildung nachhaltig unterstützt. Die Auszubildenden werden im Workshop für ein gesundheitsbewusstes Handeln sensibilisiert, um die täglichen Herausforderungen in der Ausbildung gesund und leistungsfähig bewältigen zu können. Sie erhalten die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zur Arbeitssicherheit und Gesundheit zu diskutieren sowie eigene Vorschläge zur Gestaltung des betrieblichen AGS anzubringen. Das Vorgehen beinhaltet somit sowohl die Förderung von Arbeits- und Gesundheitsschutzkompetenzen als auch die Optimierung der AGS-Gestaltung.
Unmittelbares Feedback gewünscht
Im Rahmen des Workshops können also von Auszubildenden konkrete Präventionsbedarfe und Präventionsmaßnahmen erarbeitet werden. Die Auszubildenden des Pilotunternehmens lobten beispielsweise, dass es für Rückmeldungen feste Termine, so zum Beispiel vor dem Wechsel in eine neue Abteilung, gibt. Dennoch wünschten sie sich auch im Arbeitsalltag, das heißt unmittelbar bei der Ausführung der Arbeitstätigkeiten, ein Feedback. Denn wenn sie nicht direkt auf Fehler hingewiesen würden, hätten sie die Befürchtung, dass dies zum Beispiel zu Verletzungen führen könne. Zur Verbesserung schlugen die Auszubildenden mehr direktes Feedback im Arbeitsalltag und sofortige Rückmeldung bei Fehlern vor.
Erfolgsfaktor aktive Beteiligung
Die Erprobung des entwickelten Ansatzes im Pilotunternehmen zeigte, dass die aktive Beteiligung von Auszubildenden am betrieblichen AGS ein geeignetes Vorgehen zur Sensibilisierung ihres Gefährdungs- und Gesundheitsbewusstseins darstellt. Die intensive Beschäftigung mit den betriebsspezifischen AGS-Bedingungen ermöglichte zudem, geeignete Gestaltungsempfehlungen zur Verbesserung des AGS in der Berufsausbildung abzuleiten. Dabei wurde deutlich, dass nicht nur der geringe Erfahrungsschatz der jungen Menschen Grund für die erhöhte Unfallgefahr ist. Vielmehr spielen Aspekte der Arbeitsaufgabe und der Arbeitsorganisation wie zum Beispiel Informationslücken und Zeitdruck ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch daran sollten sich die Gestaltungsmaßnahmen zur Verbesserung der Situation orientieren.
Projekt ausgerollt
Im Pilotunternehmen wurden diese wichtigen Aspekte gemeinsam mit dem J‑AGS-Projektteam der TU Dresden herausgearbeitet. Die Umsetzung und Nachhaltigkeit der daraus resultierenden Gestaltungsmaßnahmen wurde durch die Mitwirkung der ausbildenden Personen und weiteren AGS-Beteiligten im Unternehmen gesichert. Das Pilotunternehmen übertrug das Vorgehen zudem auf weitere Niederlassungen, um auch dort den AGS von Auszubildenden zu stärken. Langfristig sollen dadurch Arbeitsunfälle und Berufserkrankungen von jungen Beschäftigten vermieden und damit verbundene Kosten für Ausfallzeiten verringert werden. Für die Übertragung des Vorgehens auf andere Unternehmen werden sowohl die Checklisten und die Gestaltungsempfehlungen als auch das Handlungskonzept zur Durchführung eines AGS-Workshops durch die BGHW bereitgestellt.
Auch Nicht-Auszubildende einbinden
Wichtig bleibt zu erwähnen, dass die Analyse der Sekundärdaten aus den Branchen Handel und Warenlogistik zeigte, dass unter den jungen Beschäftigten Nicht-Auszubildende ein höheres Unfallrisiko aufweisen als Auszubildende. In der Gruppe der Nicht-Auszubildenden sind besonders viele geringfügig Beschäftigte, die möglicherweise aufgrund ihrer begrenzten Arbeitszeit nur ungenügend in die betriebliche AGS-Kommunikation eingebunden sind. Diese Ergebnisse verweisen darauf, dass nicht nur Auszubildende, sondern auch Personen in anderen Beschäftigungsverhältnissen aktiv am AGS beteiligt werden sollten. So starten alle Berufsanfänger/innen sicher ins Berufsleben.
Autoren: Stefanie Hobrack-Zscheich, BGHW
Anne Steputat-Rätze, TU Dresden
Dr. Ulrike Pietrzyk, TU Dresden
Ausgangspunkt für die Checklisten
Die Checklisten für betriebliche Auszubildende und Ausbilder/innen entstanden in Anlehnung an das Konzept der Arbeitsfähigkeit (Ilmarinen & Tempel, 2002): Die vier Themenbereiche Arbeit, Werte, Kompetenz und Gesundheit wurden um den Bereich Sicherheit ergänzt. Zu jedem Komplex werden drei Aspekte abgefragt, sodass insgesamt 15 Fragen zu beantworten sind.
Quelle: Abschlussbericht des J‑AGS-Projekts der TU Dresden: Pietrzyk U. et al. (2019): „Start ins Berufsleben mit arbeits- und gesundheitsschutzgerechtem Verhalten – (Jugend-)Arbeits- und Gesundheitsschutz (J‑AGS) bei Auszubildenden und Praxisausbildern der Branche Handel und Warenlogistik“
Gestaltungstipps zum Thema Partizipation
Die Auszubildenden berichten, dass sie nicht die Möglichkeit haben, sich aktiv in Themen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes einzubringen. Die empfohlenen Maßnahmen zur Verbesserung dieses Aspekts lauten:
- Durchführung der Auszubildenden-Workshops entsprechend dem Handlungskonzept für Ausbilder/innen in der Branche Handel und Warenlogistik
- Aktive Einbindung durch Übertragung von Aufgaben zum Thema AGS (zum Beispiel Beteiligung an Arbeitsplatzbegehungen und an der Gefährdungsbeurteilung)
- Auszubildenden-Vertretung in den ASA-Kreis aufnehmen (mit Rotation der Vertretungspersonen, damit alle Berufseinsteiger/innen die Arbeit und Inhalte kennenlernen)
- Erste-Hilfe-Kurse
Quelle: Broschüre „Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Ausbildung. Beispiele für Gestaltungsempfehlungen“