Was bedeutet es, einen schwerbehinderten jungen Mann auszubilden? Mit dieser Frage beschäftigte sich Axel Lüdecke, Geschäftsführer der Aster Europe GmbH in Darmstadt, bei einer Beratung mit Yücel Akdeniz vom Unternehmens-Netzwerk Inklusion. Der suchte eine Ausbildungsstelle für Sascha U., der aufgrund einer Körperbehinderung schwerbehindert ist. Das Unternehmen ist eine Tochter der Meccanotecnica Gruppe, weltmarktführende Herstellerin von automatischen Fadenheftmaschinen und ‑anlagen für die industrielle Produktion von Büchern. Hier sah er eine Chance.
Ausbildung mit Schwerbehinderung
Damit sich beide Seiten sicher waren, konnte Aster Europe den potenziellen Auszubildenden im Rahmen eines Praktikums kennenlernen. Begleitet wurde dieses vom Unternehmens-Netzwerk Inklusion, das umfassend zu behinderungsrelevanten Fragen sowie finanziellen Förderleistungen und Unterstützungsmöglichkeiten informierte. Das Inklusions-Netzwerk ist ein bundesweites operierendes Projekt, das von Mitgliedern der Bundesarbeitsgemeinschaft ambulante berufliche Rehabilitation (BAGabR) e. V., einem Zusammenschluss wirtschaftsnaher Bildungseinrichtungen, durchgeführt und begleitet wird. Weil Sascha U. bei dem Praktikum überzeugte, konnte er in dem Unternehmen anschließend eine Ausbildung beginnen. Finanziell besonders gefördert wird diese durch Lohnkostenzuschüsse zur Ausbildungsvergütung sowie durch eine besondere Prämie nach dem hessischen Perspektivprogramm zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen schwerbehinderter Menschen (HePAS II).
Zur Frage, was letztlich ausschlaggebend für diese Entscheidung war, sagt Lüdecke: „Neben der fachlichen Eignung des Bewerbers war es ganz wichtig, dass ein kompetenter Ansprechpartner den gesamten Prozess begleitet hat.“ Nach seiner Einschätzung ist es wesentlich, dass Arbeitgeber unterstützt werden, wenn es um die Beantragung von Fördermöglichkeiten geht, aber auch dabei, wie sie mit Beschäftigten umgehen sollen oder können, die eine Behinderung haben. Dies half bei der Umsetzung, genauso wie die weitere Unterstützung nach der Einstellung des jungen Mannes. Von diesem Beispiel berichtet die Initiative „Inklusion gelingt!“ der Spitzenverbände der Wirtschaft BDA, DIHK und ZDH.
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Was bedeutet Inklusion?
Menschen mit Behinderung können und sollten an allen Lebensbereichen teilhaben. So ist auch der Begriff „Inklusion“ immer häufiger zu hören, oftmals bezogen auf den pädagogischen Bereich: In Inklusionsklassen lernen Schüler mit und ohne Handikap gemeinsam. Aber es gibt etwa auch Inklusionshotels, in denen eine Behinderung keine Einschränkung bedeutet. Ein Umdenken vollzieht sich auch in der Arbeitswelt. Viele Unternehmen erkennen die Einsatzmöglichkeiten von Beschäftigten mit Behinderung und haben bereits barrierefreie Arbeitsplätze eingerichtet.
Inklusion und Arbeit: Mit anpacken trotz Handikap
Eine Behinderung ist oft nicht gleichzusetzen mit Arbeitsunfähigkeit. Im Gegenteil ist es für alle Beteiligten von Vorteil, die vorhandenen Qualifikationen zu nutzen – und auch für Arbeitgeber gerade in Zeiten des Fachkräftemangels eine Chance. „Barrierefreiheit“ ist dabei das Schlüsselwort. Sind Arbeitsplätze entsprechend gestaltet, steht dem auch wortwörtlich nichts mehr im Weg.
Wenn beispielsweise ein Informatiker aufgrund eines Motorradunfalls im Rollstuhl sitzt, kann er seine EDV-Kompetenzen nach wie vor uneingeschränkt einbringen, vorausgesetzt, es ist ihm möglich, sich im Betrieb zu bewegen. Es sollte also die Qualifikation ausschlaggebend für die Beschäftigung sein und nicht die gesundheitliche Einschränkung im Vordergrund stehen. Darauf bezieht sich das Neunte Buch Sozialgesetzbuch „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“. Natürlich gibt es Grenzen, abhängig von der Art und dem Grad der Behinderung sowie dem Beruf und Arbeitsumfeld. Oft aber werden die Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft.
Die Definition von „Behinderung“
Auf das Berufsleben bezogen, liegt eine Behinderung vor, wenn „die körperliche Funktion, die geistige Fähigkeit oder die psychische Gesundheit eines Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und dadurch Einschränkungen am Arbeitsplatz bestehen.“ So definiert es die Technische Regel für Arbeitsstätten (ASR) V3a.2 „Barrierefreie Gestaltung von Arbeitsstätten“. Dazu gehören Einschränkungen wie eine Gehbehinderung, Lähmung und Schwerhörigkeit, aber auch Kleinwüchsigkeit und erhebliche Krafteinbußen durch Muskelerkrankungen sowie eine Seheinschränkung, die so stark ist, dass sie sich mit Sehhilfen nicht kompensieren lässt. Von einer Schwerbehinderung ist die Rede, wenn der Grad der Behinderung mindestens 50 beträgt.
Das neue Teilhabestärkungsgesetz
Wie aber können Arbeitgeber Unterstützung finden? Durch das Teilhabestärkungsgesetz wurden mit Wirkung zum 1. Januar 2022 sogenannte „Einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber“ gesetzlich eingeführt. Diese sollen Arbeitgeber bei der Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung informieren, beraten und unterstützen. Sie übernehmen insofern eine „Lotsenfunktion“, wenn es um die Personalgewinnung, Stellung von Förderanträgen und letztlich Einstellung von Menschen mit Behinderung geht.
Wie dies je nach Bundesland unterschiedlich aussehen kann, zeigt sich am Beispiel Bayern: Hier wurden die Integrationsfachdienste mit der flächendeckenden Einrichtung sowie Wahrnehmung von Aufgaben beauftragt. Wie das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales mitteilt, sind die Einheitlichen Ansprechstellen dabei allerdings personell und organisatorisch von den Integrationsfachdiensten abgegrenzt. Um die Kontaktaufnahme möglichst zu vereinheitlichen und für Arbeitgeber zu erleichtern, wurde in Bayern eine einheitliche und kostenfreie Telefonnummer (0800/9040001) sowie ein bayernweit einheitlicher Internetauftritt eingerichtet.
Bei den Integrationsfachdiensten wiederum handelt es sich um die Dienste Dritter, die bei der Durchführung der Maßnahmen zur Teilhabe im Arbeitsleben eingebunden werden und vor Ort bei allen Fragen rund um die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen unterstützen. Dabei stehen sie den Menschen mit Behinderung und den Arbeitgebern mit ihren (sozialpädagogischen) Fachkenntnissen zur Verfügung.
Rechtsgrundlagen und Handlungshilfen zu Inklusion und Arbeit
- Teilhabestärkungsgesetz
- Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG)
- Neuntes Buch Sozialgesetzbuch Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX / § 81 Abs. 4 Nr. 4)
- Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)
- Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV)
- DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“
- Technische Regeln für Arbeitsstätten, vor allem: ASR V3a.2 „Barrierefreie Gestaltung von Arbeitsstätten“ und ihre Anhänge,
ASR A1.3 „Sicherheits- und Gesundheitsschutzkennzeichnung“, ASR V3 „Gefährdungsbeurteilung“ - Relevante DGUV Vorschriften, Regelungen und Informationen, zum Beispiel DGUV Information 208–010 „Verschlüsse für Türen und Notausgänge“, DGUV Information 250–001 „Berufliche Beurteilung bei Epilepsie und nach erstem epileptischen Anfall“
- Relevante Normen, zum Beispiel DIN 18040 „Barrierefreies Bauen“
Autorin:
Christine Lendt
Fachautorin und freie Journalistin