Was bedeutet Nachhaltigkeit?
Ob das Reinigen von Parkbänken im Stadtwald oder der Austausch von Baumwolle in Geweben mit regenerierter Zellulose von abgeholzten Bäumen, beides sind beworbene Nachhaltigkeits- und CSR-Initiativen. Doch was müssen wir uns unter Nachhaltigkeit vorstellen? In der von der deutschen Akademie der Technikwissenschaften herausgegebenen Publikation „Circular Economy Roadmap für Deutschland“ wird dieser Weg von der linearen Wirtschaft zur zirkulären Wirtschaft sehr gut beschrieben. Wohl gemerkt, die Begrifflichkeit zirkuläre Wirtschaft ist hier anders zu verstehen als die aktuelle Nutzung der deutschen Begrifflichkeit Kreislaufwirtschaft. Zirkuläre Wirtschaft heißt, weg von der Konsumlogik des Produzierens, Nutzens und Wegwerfens, hin zur Nutzung im Kreislauf. Ein sehr ähnliches Modell wurde von der holländischen Agentur für Umweltbewertung entwickelt. Dieses 10R-Modell unterteilt den Weg in 10 einzelne Stufen: R9 bis R0. R9 ist das uns bekannte Produzieren, Nutzen, Wegwerfen und Verbrennen von Abfall, wo hingegen R0 für die komplette Vermeidung von Produkten steht. In der Betrachtung von nachhaltiger Schutzausrüstung möchte ich diese Stufe R0 erst einmal außen vor lassen.
Bewertung einzelner Nachhaltigkeitsstufen
Der Vorteil dieses holländischen Modells ist die hierarchische Unterteilung der einzelnen Maßnahmen und erlaubt somit nicht nur dem Techniker eine Bewertung einzelner Nachhaltigkeitsstufen. An dieser 10R-Systematik ist interessant, dass sämtliche Maßnahmen, die zu einer Lebenszeitverlängerung beitragen, deutlich besser eingestuft werden als ein einfaches Downcycling oder das Verwenden bereits ausrangierter Produkte. Die Wiederverwendung und die Reparatur stehen hier ganz oben. Das langlebige und reparaturfähige Teil steht somit in der Hierarchie über einem Downcyclingprodukt, wie zum Beispiel ein Gewebe, bei dem die Fasern aus Plastikflaschen oder abgeholzten Bäumen gewonnen wurden. Dieses Modell hilft, die einzelnen Maßnahmen gegeneinander abzuwägen und zu priorisieren. Es ist eine bessere Differenzierung möglich.
Vergleichsgrundlage für nachhaltige Schutzausrüstung
Wenn wir Maßnahmen zur Nachhaltigkeit gegeneinander abwägen wollen, dann benötigen wir einen Vergleichsmaßstab. Verstehen wir darunter Kreislauffähigkeit um jeden Preis? Oder ist zum Beispiel der CO2-Fußabdruck, wie er jetzt in dem neuen Entwurf zur Batterieverordnung für große Batterien festgelegt wird, das Maß der Dinge? Hierzu ein Beispiel. Es gibt medizinische Masken aus reinem Polypropylen, einem thermoplastischen unpolaren Kunststoff. Die Maske wird einmal benutzt und dann in der Regel entsorgt. Die entsorgte Maske lässt sich wieder in den Kreislauf bringen und zu einer neuen Maske recyceln. Die andere medizinische Maske ist innen und außen aus 100 Prozent Polyester und hat eine Polyestermembran. Sie lässt sich 100-mal waschen, desinfizieren und autoklavieren. Danach kann das Polyester auch wieder in einen Kreislauf gebracht und wiederverwendet werden. Die Frage ist, wie vergleiche ich diese beiden Produkte? Welche Annahmen muss ich treffen, damit der Vergleich zulässig ist? Nicht nur die einfache singuläre Nutzung ist zu betrachten, sondern es ist auch die Nutzungsdauer und die Art der Nutzung mitzubetrachten.
EU: Schutzbekleidung soll leicht sein
Die PSA-Verordnung (EU) 2016/425 legt unter anderem die materiellen Anforderungen an PSA fest. In den grundlegenden Anforderungen im Anhang II der Verordnung heißt es in 1.3.2: „Unbeschadet ihrer Festigkeit und Wirksamkeit müssen PSA so leicht wie möglich sein.“ Was macht der findige Entwickler in der Textilindustrie? Er mischt diverse Faserarten zu einem nicht trennbaren Composite und erreicht sein Ziel – eine hohe Schutzfunktion bei möglichst geringem Gewicht. Er erreicht sein Ziel und das ist gut. Was er aber nicht hat, ist ein kreislauffähiges Produkt. Diese einfache, zentrale und mehr als berechtigte Forderung nach einer leichten PSA steht diametral im Gegensatz zu einer möglichen Kreislauffähigkeit des Produktes und damit zu einer nachhaltigen Schutzausrüstung.
Protektoren nur mit Hose zertifizierbar
Ein weiteres Beispiel: In den grundlegenden Anforderungen 1.3.4 heißt es „Schutzkleidung mit abnehmbaren Protektoren stellt eine PSA dar und ist im Rahmen eines Konformitätsbewertungsverfahren als eine Kombination zu bewerten.“ Die Konsequenz dieser Forderung ist, dass aus einer Hose herausnehmbare Kniepolster immer nur in einer Kombination von Hose und Kniepolster zertifiziert werden können. Bei den vielen verfügbaren Kniepolstern und den hunderttausenden von unterschiedlichen Hosen müssten bei einer sachgerechten Verwendung mehrere Millionen Zertifizierungen vorhanden sein. Hier sei die Frage erlaubt, welcher Zufall dazu geführt hat, dass ein A4-Blatt in einen C4-Umschlag passt? Am Rande sei erwähnt, dass diese grundlegende Anforderung sich im Abschnitt I befindet, also für sämtliche PSA gilt. Da ist dem Gesetzgeber wohl ein Fehler unterlaufen. Davon abgesehen ist die deutsche Sprachversion nicht unbedingt mit der englischen Sprachversion deckungsgleich.
Gedruckte Herstellerinformation verursacht Papiermüll
PSA-VO Erwägungsgründe 18 und Artikel 8 Absatz 7 verpflichten den Hersteller jeder PSA, eine Herstellerinformation ausgedruckt der kleinsten Verpackungseinheit beizulegen. Dies führt dazu, dass wir jedes Jahr tonnenweise Papier bedrucken mit dem einzigen Zweck, es direkt ungelesen in den Papierkorb zu werfen. Im aktuellen Entwurf zur Maschinenverordnung gibt es hier einen kleinen Lichtblick. Digitale Betriebsanleitungen sollen für B2B-Maschinen zukünftig grundsätzlich erlaubt sein. Es stellt sich nur die Frage, wie viele Jahre es dauert, bis dieser Lichtblick die PSA-Verordnung erreicht.
Zuordnung von Konformitätsbewertungsverfahren
Die Zuordnung der Konformitätsbewertungsverfahren wird in Art. 19 der PSA-Verordnung festgelegt. Die Module A, B, C, C2 und D werden in den entsprechenden Anhängen der PSA-Verordnung ausführlich beschrieben. Der Hersteller kann seine technischen Unterlagen weitestgehend EDV-gestützt verwalten. Aber stellen wir uns vor, eine Baumusterprüfung könnte auf einer zentralen Datenbank basierend durchgeführt werden. Allein nur die zentrale Verwaltung von Prüfzeugnissen zur Zertifizierung für sämtliche notifizierten Stellen wäre ein immenser Zeitgewinn. Die Möglichkeit einer EDV-gestützten Baumusterprüfung war schon im Frühjahr 2020 eine Idee des damaligen BMWi (jetzt BMWK). Diese Idee weiter zu verfolgen ist wünschenswert, da es eine Kostenentlastung für den Anwender bedeutet.
Die Umsetzung europäischen Rechts
Durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) wurden die Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften geändert und die europäische politische Zusammenarbeit eingerichtet. Daraus folgend haben wir 1989 zum einen die PSA-Richtlinie bekommen und zum anderen die Richtlinie über die Mindestanforderungen für Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit am Arbeitsplatz. Aus der PSA-Richtlinie (deutsche Umsetzung 8. ProdSV) wurde später die PSA-Verordnung. Die Richtlinie 89/656/EWG wurde hingegen sehr feingliedrig in die deutsche Gesetzgebung übertragen. Sie findet sich im Arbeitsschutzgesetz, der Arbeitsstättenverordnung und der PSA-Benutzerverordnung wieder. Wenn wir jetzt den normativen Bereich zu diesen Gesetzen widerspiegeln, dann haben wir über 200 harmonisierte Normen für den PSA-Produktbereich und eine einzige Norm (DIN ISO 45001 – Managementsysteme für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit), die sich mit der Risikoanalyse am Arbeitsplatz beschäftigt. In dieser Norm wird zu persönlicher Schutzausrüstung nur gesagt, dass „geeignete Schutzausrüstung auszuwählen“ ist. Der Weg zur richtigen Schutzausrüstung wird hier nicht ausreichend beschrieben. Im Bereich der Anwendung von PSA gibt es keine praktikable, nutzbare Standardisierung für den Sicherheitsbeauftragten, der eine Gefährdungsanalyse am Arbeitsplatz durchführen soll. In der PSA-Produktnormung gibt es die sog. SUCAM-Dokumente (Selection, Use, Care and Maintenance) und auch die deutschen Berufsgenossenschaften bieten hervorragende Hilfestellungen zur Durchführung einer Gefährdungsanalyse. Beides sind teilweise gute Hilfsmittel – sie haben aber keinen einheitlichen Ansatz. Die Thematik Nachhaltigkeit wird ebenfalls nicht berücksichtigt.
Multifunktionsprodukte überzeugen im Verkauf
Ein Vertriebsmitarbeiter, der seine Produkte nicht kennt, handelt nach dem bekannten Prinzip „Wer nichts weiß, redet über ‘n Preis“. Übertragen auf den Vertriebsmitarbeiter, der PSA-Produkte verkauft, lautet die Devise „Mein Produkt erfüllt neun Normen, deines nur acht; mein Produkt ist besser als deines“. Trifft nun dieser Vertriebsmitarbeiter auf einen Sicherheitsbeauftragten, der sich bei der Gefährdungsanalyse nicht ganz sicher ist, so wird dem Produkt mit dem breiteren Spektrum der Vorzug gegeben. Multifunktionsprodukte nehmen mittlerweile eine signifikante Marktstellung ein. Kaum ein Hersteller von Schutzkleidung kann sich diesem Trend entziehen.
Sind Multifunktionsprodukte nachhaltige Schutzausrüstung?
Um diese Mehrfacheigenschaften zu erreichen, werden diverse Fasern nicht trennbar gemischt und entziehen sich damit der Kreislauffähigkeit. Dieser Teufelskreis für die Nachhaltigkeit lässt sich nur durchbrechen, indem die Verantwortlichen für die Gefährdungsanalyse so ausgebildet werden, dass sie wissen, welche wesentlichen Schutzfunktionen sie benötigen.
Europäische Beschränkungen von Chemikalien
Der Schutz des Menschen (am Arbeitsplatz) und der Schutz der Umwelt sind kein Widerspruch. Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit erzeugt hier ein neues Spannungsfeld. Viele PSA-Produkte büßen ihre Nachhaltigkeit durch die fortschreitende Beschränkung von Chemikalien ein (REACH und POP-VO). Das sehr sensible Thema der Fluorcarbone oder der organischen Fluorchemie ist hier ein sehr gutes Beispiel. Fluorcarbone haben nichts in der Umwelt zu suchen. Sie sind persistent und bioakkumulativ. Aufgrund ihrer überragenden technischen Eigenschaften und breiten Verfügbarkeit werden sie vielfach eingesetzt. Sie sind mittlerweile im menschlichen Blut nachweisbar und wurden inzwischen in entlegenen Gebieten wie der Arktis und der Antarktis nachgewiesen. Eine Reduzierung der umweltbelastenden Mengen ist dringend notwendig. Auf der anderen Seite haben sie einzigartige Eigenschaften für Schutzprodukte und deren Lebensdauer.
Reduzierte Lebensdauer nachhaltiger Schutzausrüstung
Warnschutzkleidung mit einer Hybridfluorcarbon-Soil-Release-Ausrüstung hat eine doppelt so lange Lebensdauer. Verzichten wir im Chemikalienschutz Typ 6 auf die Fluorcarbone, dann reden wir nach aktuellem Stand über den Faktor einer 3- bis 10-fach geringeren Lebensdauer. Gleichzeitig verlieren wir die Schutzfunktion gegenüber Chemikalien mit geringer Oberflächenspannung.
Chemikalienpolitik
Wenn wir die teilweise ideologisch geführte Diskussion über die Beschränkung dieser Chemikalien außer Acht lassen, dann müssen wir die folgende Frage vernunftbasiert beantworten. Können wir bei der Produktion, dem Nachrüsten und der Entsorgung sicherstellen, dass sich diese infrage stehenden Chemikalien nicht in der Umwelt ablagern können? Ergänzend zu der oben genannten Thematik der Multifunktionsprodukte müssen wir uns auch selbstkritisch hinterfragen: Muss jede Multifunktionsbekleidung auch Chemikalienschutz haben? Mit einer Fokussierung in der Auswahl von PSA auf die wesentlichen Schutzfunktionen lassen sich die Mengen an diesen infrage stehenden Substanzen reduzieren. Die Reduzierung der Mengen kann ein Weg sein, sie dort zu behalten, wo sie (über)lebenswichtig sind.
Nachhaltige Schutzausrüstung bedeutet: Weniger ist mehr
Der Einsatz von downgecycelten Rohstoffen, wie zum Beispiel Fasern aus Plastikflaschen, Meereskunststoffabfällen oder abgeholzten Bäumen, ist gut im Sinne der Nachhaltigkeit. Besser ist die Nutzung von langlebigen und reparaturfähigen Produkten, die spezifisch auf den jeweiligen Einsatz abgestimmt sind. Letztendlich ist die reale Kreislauffähigkeit von PSA aufgrund der unterschiedlichsten gesetzlichen Anforderungen noch in weiter Ferne.
Was kann der Sicherheitsbeauftragte oder die Sicherheitsfachkraft heute schon bei der Auswahl von PSA im Sinne der Nachhaltigkeit unternehmen?
- Langlebige und reparaturfähige PSA auswählen.
- Bei der Auswahl von PSA ist die Fokussierung auf wenige Schutzfunktionen ein großer Schritt, wenn nicht gar der wesentliche Schritt in Richtung Kreislauffähigkeit.
Weniger ist mehr.
SUCAM-Dokumente
- DIN-Fachbericht CEN/TR 15321:2006–07: Leitfaden für Auswahl, Gebrauch, Pflege und Instandhaltung von Schutzkleidung; Deutsche Fassung CEN/TR 15321:2006
- DIN-Fachbericht CEN/TR 14560:2003: Leitfaden für Auswahl, Gebrauch, Pflege und Instandhaltung von Schutzkleidung gegen Hitze und Flammen; Deutsche Fassung CEN/TR 14560:2003
- ISO/TR 2801:2007–02: Schutzkleidung gegen Hitze und Flammen – Allgemeine Empfehlungen für die Auswahl, Pflege und Verwendung von Schutzkleidung
- DIN CEN/TR 15419:2019–08; DIN SPEC 19431:2019–08 Schutzkleidung – Empfehlungen für die Auswahl, die Verwendung, die Pflege und die Bereithaltung von Schutzkleidung gegen Chemikalien; Deutsche Fassung CEN/TR 15419:2017
- PD CEN/CLC/TR 16832:2015–04–30:Selection, use, care and maintenance of personal protective equipment for preventing electrostatic risks in hazardous areas (explosion risks)
- DIN CEN/TR 17330:2020–01: Anleitungen für die Auswahl, Anwendung, Pflege und Erhaltung von Schutzkleidung gegen schlechtes Wetter, Wind und Kälte
10R-Modell der zirkulären Wirtschaft
- R0: Refuse – Ablehnen
- R1: Rethink – Umdenken
- R2: Reduce – Reduzieren
- R3: Reuse – Wiederverwenden
- R4: Repair – Reparieren
- R5: Refurbish – Auffrischen
- R6: Remanufacture – Refabrikation
- R7: Repurpose – Weiterverwendung
- R8: Recycle – Recycling
- R9: Recover – Rückgewinnung
Quelle: www.circular-economy.swiss/10re/
Webinar zu PSA und Nachhaltigkeit
„Sicher, bequem, kreislauffähig: Kann Schutzkleidung alles können?“ unter diesem Titel hatte die Si-Akademie am 11.10. zum Webinar geladen. Referent war Wolfgang Quednau, der Autor des obigen Fachbeitrags, der als Experte für Textilchemie, Textilkennzeichnung und Zertifizierung von PSA seit vielen Jahren internationale Unternehmen der Textil- sowie Chemieindustrie berät. Er hat die Kreislauffähigkeit von Schutzkleidung kritisch beleuchtet und Tipps zum Nutzen langlebiger und reparaturfähiger Produkte gegeben. Die Teilnehmenden erfuhren, wie eine fachlich fundiert durchgeführte Gefährdungsbeurteilung mit Fokussierung auf wenige Schutzfunktionen einen Mehrwert für Sicherheit und Umwelt schafft. Das Webinar fand leider bereits kurz vor Redaktionsschluss statt. Interessierte können die Aufzeichnung dennoch auch im Nachhinein kostenlos anfordern.
Autor:
Wolfgang Quednau
Geschäftsführender Gesellschafter der BTTA GmbH