Wer in früheren Zeiten als Fachkraft für Arbeitssicherheit mit der Gestaltung ergonomischer Arbeitsplätze befasst war, dürfte den Begriff Ergonomie primär mit der Verbesserung von ungünstigen Körperhaltungen zur Verringerung von Muskel- und Skeletterkrankungen verbunden haben. Aus heutiger Sicht ist dies keine falsche Aussage, doch verbindet man in Expertenkreisen nicht mittlerweile viel mehr mit diesem Begriff?
Ein Blick in die Online-Enzy-klopädie „Wikipedia“ liefert folgende Definition: „Ziel der Ergonomie ist es, die Arbeitsbedingungen, den Arbeitsablauf, die Anordnung der zu greifenden Gegenstände (Werkstück, Werkzeug, Halbzeug) räumlich und zeitlich optimiert anzuordnen sowie die Arbeitsgeräte für eine Aufgabe so zu optimieren, dass das Arbeitsergebnis (qualitativ und wirtschaftlich) optimal wird und die arbeitenden Menschen möglichst wenig ermüden oder gar geschädigt werden, auch wenn sie die Arbeit über Jahre hinweg ausüben.“1
Von dieser Definition ausgehend, ist der Begriff Ergonomie also weit mehr als „nur“ die Verringerung oder Vermeidung von Haltungs- und Bewegungsschäden. Für eine Fachkraft für Arbeitssicherheit können sich demnach mindestens folgende Aufgaben bei der ergonomischen Betrachtung eines Arbeitsplatzes ergeben:
- Betrachtung der Arbeitsbedingungen,
- Betrachtung der Arbeitsabläufe,
- Betrachtung der Arbeitsmittel,
- Betrachtung der Arbeitsergebnisse,
- Betrachtung der körperlichen Ein- und Auswirkungen,
- Betrachtung der Altersstruktur (Demografie).
Aus dieser Aufgabenbeschreibung geht hervor, dass eine Fachkraft für Arbeitssicherheit das Thema Ergonomie nicht allein bearbeiten kann. Hier sind weitere Fachleute, zum Beispiel aus der Arbeitsmedizin, gefragt.
Gefährdungsbeurteilung
Dieser interdisziplinäre Ansatz wird auch im Merkblatt A 017 „Gefährdungsbeurteilung – Gefährdungskatalog“ der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI)2 deutlich: Die Beschreibungen gehen über eine klassische, physikalisch-ergonomische Betrachtung hinaus. So werden beispielsweise in Kapitel 3 „Gefährdungen durch ergonomische Faktoren“ folgende Belastungsfaktoren aufgeführt:
- schwere körperliche Arbeit,
- einseitig belastende körperliche Arbeit,
- Beleuchtung,
- Klima,
- Informationsaufnahme,
- Wahrnehmungsumfang,
- erschwerte Handhabbarkeit von Arbeitsmitteln,
- Steharbeitsplätze,
- Bildschirmarbeitsplätze.
Der Begriff Ergonomie wird in dem Merkblatt mit folgender Zielbeschreibung erläutert: „Ziel ist die menschengerechte Gestaltung der Arbeit zur Verbesserung von
- Gesundheitsschutz,
- Sicherheit,
- Leistungsfähigkeit,
- Wohlbefinden und
- Zufriedenheit
- der Beschäftigten.“3
Ergonomie bei B. Braun
Trifft diese Definition — nach heutigem Verständnis — nicht eher den Begriff des Gesundheitsmanagements und nicht allein den Begriff Ergonomie? Oder ist Ergonomie ein wesentlicher Bestandteil des Gesundheitsmanagements? Bei diesen Fragen lohnt sich ein Blick in die betriebliche Praxis. Die B. Braun Melsungen AG definiert ihr betriebliches Gesundheitsmanagement mit dem systematischen und nachhaltigen Bemühen um
- Verhältnisprävention, das heißt die gesundheitsförderliche Gestaltung und Optimierung von Arbeitsbedingungen und Prozessen sowie
- Verhaltensprävention, das heißt die gesundheitsförderliche Optimierung von persönlichen Ressourcen und Kompetenzen.
Damit wird Ergonomie Bestandteil eines ganzheitlichen Systems, das bei B. Braun den Namen Fit@B.Braun trägt. Die Inhalte dieses Systems umfassen dabei auch Themen wie zum Beispiel
- psychische Gesundheit,
- Betriebliches Eingliederungsmanage-ment (BEM),
- Suchtprävention und
- Betriebliche Sozialarbeit.
Ein sogenanntes Ergo-Programm (die Bezeichnung ist abgeleitet von dem Begriff Ergonomie) steht für die Entwicklung eines nachhaltigen, modularen Arbeitsplatzprogramms zur Verbesserung der Gesundheit und zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Beschäftigten. Das Grundprogramm besteht dabei aus den vier Modulen
- Arbeitsplatzanalyse,
- Teamworkshop,
- individuelle Arbeitsplatzberatung und
- Ausgleichsübungen.
Arbeitsplatzanalyse
Das Modul Arbeitsplatzanalyse beinhaltet die umfassende ergonomische Betrachtung bestimmter Arbeitsplätze. Im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung ergeben sich bereits mehrere Handlungsfelder. Ein Beispiel ist die Anwendung der Leitmerkmalmethode beim Heben und Tragen von Lasten. Natürlich spielt die klassische physikalische Ergonomie hier eine wichtige Rolle, zum Beispiel bei der Bereitstellung von geeigneten Hebehilfen. Aber das allein reicht eben nicht aus. Es versteht sich von selbst, dass gerade bei bestehenden Arbeitsplätzen nicht alle Verbesserungspotenziale technisch umgesetzt werden können, vor allem weil es hierbei immer um eine Investitionsentscheidung geht. So wird der Faktor Mensch stets eine große, wenn nicht sogar entscheidende Rolle spielen.
Teamworkshop
Im Modul Teamworkshop werden Kenntnissen in der Ergonomie an die Beschäftigten vermittelt. Dies geschieht in Kleingruppen in Anwesenheit eines externen Spezialisten, in der Regel eines Physiotherapeuten. Gleichzeitig erfolgt die abteilungs- oder bereichsspezifische Erarbeitung ergonomischer Problemstellungen. Hierbei spielen die Beschäftigten als Erkenntnisquelle eine besondere Rolle, denn sie wissen, an welcher Stelle körperliche Beschwerden bestehen.
Individuelle Arbeitsplatzberatung
Die individuelle Arbeitsplatzberatung stellt eine persönliche Zuwendung und Hilfe für jeden Beschäftigten aus einem betroffenen Arbeitsbereich dar. Sie steigert die Motivation für das Ergo-Programm und trägt dazu bei, dass das Erlernte im Arbeitsalltag umgesetzt wird. Zudem können individuelle Problemstellungen besprochen werden.
Ausgleichsübungen
Mit der Festlegung von Ausgleichsübungen sollen insbesondere Muskel- und Skeletterkrankungen verringert und vermieden werden. Zudem wird das ergonomische Verständnis und Verhalten in den Köpfen der Beschäftigten verankert. Ziel ist die Installation eines eigenständigen täglichen Trainings am Arbeitsplatz, den sogenannten Ergo-Pausen. In kurzen, zehnminütigen Pausen sollen die Beschäftigten täglich Ausgleichsübungen durchführen.
Einrichtung eines Steuerkreises
Ein erfolgreiches Projektmanagement setzt die Bildung eines Expertenteams (Steuerkreis) voraus. Fachleute in Ergonomie sind in Unternehmen sowohl in der Arbeitssicherheit als auch in der Arbeitsmedizin angesiedelt. Es ist dringend angeraten, auch Vertreter der Unternehmensleitung, des Personalwesens, des Betriebsrates und (sofern vorhanden) der Betriebskrankenkasse einzubinden.
Impulse setzen
Ein Arbeitgeber, der sich um ergonomische Fragen bemüht, wird schnell feststellen, dass sein Engagement wirkungslos bleibt, wenn die Beschäftigten nicht „abgeholt“ werden. Einzelaktionen verpuffen dann meistens schnell und sind nicht nachhaltig. Daher sollte der Steuerkreis versuchen, einzelne Aktionen zum Thema Ergonomie auf das gesamte Jahr zu verteilen. Beispielhaft sei die Durchführung von Veranstaltungen unter dem Motto „Tag der Ergonomie“ genannt. So wurden bei B. Braun auf einer von den Beschäftigten stark frequentierten Fläche des Unternehmens an einem Tag gebündelt verschiedene Angebote zum Thema Ergonomie gemacht. Es gab Informationsstände, unter anderem zu folgenden Themen:
- Alterssimulation: Sensibilisierung für altersbedingte Veränderungen und deren Einfluss auf die Arbeitshandlung
- Ergo-Sitzen: individuelle Beratung zur Einrichtung eines Bildschirmarbeitsplatzes
- Ergo-Autofahren: individuelle Beratung zur Ergonomie des Autofahrens sowie dem Umgang mit Ladung im Auto
- Ergo-Aktiv-Pausen: Erklärung ergonomischer Ausgleichsübungen (auch für zu Hause)
- Medi-Mouse: Individuelle Rückenvermessung mit der Medi-Mouse und Beratung zum Thema „Gesunder Rücken“
Fazit
Ergonomie ist nach heutigem Verständnis als ein weit gefasster Begriff zu verstehen und beinhaltet viel mehr als das Bestreben nach einer körperschonenden Arbeitsweise. Im Sinne des Gesundheitsschutzes und des Erhalts der Leistungsfähigkeit der Beschäftigten ist Ergonomie ein wesentlicher Bestandteil eines ganzheitlichen Gesundheitssystems. Die Einführung eines Gesundheitsmanagements kann hierbei durch festgelegte Prozesse dazu beitragen, die Gesundheit der Beschäftigten nachhaltig zu verbessern. Auch wenn das Thema Gesundheitsmanagement — gerade in größeren Unternehmen — häufig vom Personalwesen verantwortet wird, geht der Weg an den Fachkräften für Arbeitssicherheit als (Ergonomie-) Fachleuten keinesfalls vorbei.
1 www.wikipedia.org, Stichwort: Ergonomie, gesehen am 17.10.2016.
2 BG RCI (Hrsg.): Gefährdungsbeurteilung — Gefährdungskatalog. Merkblatt A 017, Stand: August 2015.
3 Ebd., S. 21.
Autor
Klaus Zielke ist Sicherheitsingenieur bei der B. Braun Melsungen AG. E‑Mail: klaus_dieter.zielke@bbraun.com.