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Was ist Sinn und Zweck der Ergonomie? Erläuterungen aus Sicht einer Fachkraft für Arbeitssicherheit der pharmazeutischen Industrie

Pharmazeutische Industrie
Was ist Sinn und Zweck der Ergonomie?

Für Fach­leute, die sich mit Arbeitssicher­heit oder Gesund­heitss­chutz beschäfti­gen, gehört der Begriff Ergonomie zum beru­flichen All­t­ag. Aber beste­ht in der Fach­welt auch ein ein­heitlich­es Ver­ständ­nis darüber, was Ergonomie ist? Dieser Beitrag liefert Erläuterun­gen, wie dieser Begriff inhaltlich zu fassen ist und set­zt ihn in Beziehung zum Betrieblichen Gesund­heits­man­age­ment. Gezeigt wird auch, wie der Bere­ich Ergonomie bei B. Braun Mel­sun­gen ver­ankert ist.

Klaus-Dieter Zielke

Wer in früheren Zeit­en als Fachkraft für Arbeitssicher­heit mit der Gestal­tung ergonomis­ch­er Arbeit­splätze befasst war, dürfte den Begriff Ergonomie primär mit der Verbesserung von ungün­sti­gen Kör­per­hal­tun­gen zur Ver­ringerung von Muskel- und Skelet­terkrankun­gen ver­bun­den haben. Aus heutiger Sicht ist dies keine falsche Aus­sage, doch verbindet man in Expertenkreisen nicht mit­tler­weile viel mehr mit diesem Begriff?

Ein Blick in die Online-Enzy-klopädie „Wikipedia“ liefert fol­gende Def­i­n­i­tion: „Ziel der Ergonomie ist es, die Arbeits­be­din­gun­gen, den Arbeitsablauf, die Anord­nung der zu greifend­en Gegen­stände (Werk­stück, Werkzeug, Hal­bzeug) räum­lich und zeitlich opti­miert anzuord­nen sowie die Arbeits­geräte für eine Auf­gabe so zu opti­mieren, dass das Arbeit­sergeb­nis (qual­i­ta­tiv und wirtschaftlich) opti­mal wird und die arbei­t­en­den Men­schen möglichst wenig ermü­den oder gar geschädigt wer­den, auch wenn sie die Arbeit über Jahre hin­weg ausüben.“1

Von dieser Def­i­n­i­tion aus­ge­hend, ist der Begriff Ergonomie also weit mehr als „nur“ die Ver­ringerung oder Ver­mei­dung von Hal­tungs- und Bewe­gungss­chä­den. Für eine Fachkraft für Arbeitssicher­heit kön­nen sich dem­nach min­destens fol­gende Auf­gaben bei der ergonomis­chen Betra­ch­tung eines Arbeit­splatzes ergeben:

  • Betra­ch­tung der Arbeitsbedingungen,
  • Betra­ch­tung der Arbeitsabläufe,
  • Betra­ch­tung der Arbeitsmittel,
  • Betra­ch­tung der Arbeitsergebnisse,
  • Betra­ch­tung der kör­per­lichen Ein- und Auswirkungen,
  • Betra­ch­tung der Altersstruk­tur (Demografie).

Aus dieser Auf­gabenbeschrei­bung geht her­vor, dass eine Fachkraft für Arbeitssicher­heit das The­ma Ergonomie nicht allein bear­beit­en kann. Hier sind weit­ere Fach­leute, zum Beispiel aus der Arbeitsmedi­zin, gefragt.

Gefährdungsbeurteilung

Dieser inter­diszi­plinäre Ansatz wird auch im Merk­blatt A 017 „Gefährdungs­beurteilung – Gefährdungskat­a­log“ der Beruf­sgenossen­schaft Rohstoffe und chemis­che Indus­trie (BG RCI)2 deut­lich: Die Beschrei­bun­gen gehen über eine klas­sis­che, physikalisch-ergonomis­che Betra­ch­tung hin­aus. So wer­den beispiel­sweise in Kapi­tel 3 „Gefährdun­gen durch ergonomis­che Fak­toren“ fol­gende Belas­tungs­fak­toren aufgeführt:

  • schwere kör­per­liche Arbeit,
  • ein­seit­ig belas­tende kör­per­liche Arbeit,
  • Beleuch­tung,
  • Kli­ma,
  • Infor­ma­tion­sauf­nahme,
  • Wahrnehmung­sum­fang,
  • erschw­erte Hand­hab­barkeit von Arbeitsmitteln,
  • Ste­har­beit­splätze,
  • Bild­schir­mar­beit­splätze.

Der Begriff Ergonomie wird in dem Merk­blatt mit fol­gen­der Zielbeschrei­bung erläutert: „Ziel ist die men­schen­gerechte Gestal­tung der Arbeit zur Verbesserung von

  • Gesund­heitss­chutz,
  • Sicher­heit,
  • Leis­tungs­fähigkeit,
  • Wohlbefind­en und
  • Zufrieden­heit
  • der Beschäftigten.“3

Ergonomie bei B. Braun

Trifft diese Def­i­n­i­tion — nach heutigem Ver­ständ­nis — nicht eher den Begriff des Gesund­heits­man­age­ments und nicht allein den Begriff Ergonomie? Oder ist Ergonomie ein wesentlich­er Bestandteil des Gesund­heits­man­age­ments? Bei diesen Fra­gen lohnt sich ein Blick in die betriebliche Prax­is. Die B. Braun Mel­sun­gen AG definiert ihr betrieblich­es Gesund­heits­man­age­ment mit dem sys­tem­a­tis­chen und nach­halti­gen Bemühen um

  • Ver­hält­nis­präven­tion, das heißt die gesund­heits­förder­liche Gestal­tung und Opti­mierung von Arbeits­be­din­gun­gen und Prozessen sowie
  • Ver­hal­tenspräven­tion, das heißt die gesund­heits­förder­liche Opti­mierung von per­sön­lichen Ressourcen und Kompetenzen.

Damit wird Ergonomie Bestandteil eines ganzheitlichen Sys­tems, das bei B. Braun den Namen Fit@B.Braun trägt. Die Inhalte dieses Sys­tems umfassen dabei auch The­men wie zum Beispiel

  • psy­chis­che Gesundheit,
  • Betrieblich­es Eingliederungs­man­age-ment (BEM),
  • Sucht­präven­tion und
  • Betriebliche Sozialar­beit.

Ein soge­nan­ntes Ergo-Pro­gramm (die Beze­ich­nung ist abgeleit­et von dem Begriff Ergonomie) ste­ht für die Entwick­lung eines nach­halti­gen, mod­u­laren Arbeit­splatzpro­gramms zur Verbesserung der Gesund­heit und zur Erhal­tung der Leis­tungs­fähigkeit der Beschäftigten. Das Grund­pro­gramm beste­ht dabei aus den vier Modulen

  • Arbeit­splatz­analyse,
  • Team­work­shop,
  • indi­vidu­elle Arbeit­splatzber­atung und
  • Aus­gle­ich­sübun­gen.

Arbeitsplatzanalyse

Das Mod­ul Arbeit­splatz­analyse bein­hal­tet die umfassende ergonomis­che Betra­ch­tung bes­timmter Arbeit­splätze. Im Rah­men der Gefährdungs­beurteilung ergeben sich bere­its mehrere Hand­lungs­felder. Ein Beispiel ist die Anwen­dung der Leit­merk­mal­meth­ode beim Heben und Tra­gen von Las­ten. Natür­lich spielt die klas­sis­che physikalis­che Ergonomie hier eine wichtige Rolle, zum Beispiel bei der Bere­it­stel­lung von geeigneten Hebe­hil­fen. Aber das allein reicht eben nicht aus. Es ver­ste­ht sich von selb­st, dass ger­ade bei beste­hen­den Arbeit­splätzen nicht alle Verbesserungspoten­ziale tech­nisch umge­set­zt wer­den kön­nen, vor allem weil es hier­bei immer um eine Investi­tion­sentschei­dung geht. So wird der Fak­tor Men­sch stets eine große, wenn nicht sog­ar entschei­dende Rolle spielen.

Teamworkshop

Im Mod­ul Team­work­shop wer­den Ken­nt­nis­sen in der Ergonomie an die Beschäftigten ver­mit­telt. Dies geschieht in Kle­in­grup­pen in Anwe­sen­heit eines exter­nen Spezial­is­ten, in der Regel eines Phys­io­ther­a­peuten. Gle­ichzeit­ig erfol­gt die abteilungs- oder bere­ichsspez­i­fis­che Erar­beitung ergonomis­ch­er Prob­lem­stel­lun­gen. Hier­bei spie­len die Beschäftigten als Erken­nt­nisquelle eine beson­dere Rolle, denn sie wis­sen, an welch­er Stelle kör­per­liche Beschw­er­den bestehen.

Individuelle Arbeitsplatzberatung

Die indi­vidu­elle Arbeit­splatzber­atung stellt eine per­sön­liche Zuwen­dung und Hil­fe für jeden Beschäftigten aus einem betrof­fe­nen Arbeits­bere­ich dar. Sie steigert die Moti­va­tion für das Ergo-Pro­gramm und trägt dazu bei, dass das Erlernte im Arbeit­sall­t­ag umge­set­zt wird. Zudem kön­nen indi­vidu­elle Prob­lem­stel­lun­gen besprochen werden.

Ausgleichsübungen

Mit der Fes­tle­gung von Aus­gle­ich­sübun­gen sollen ins­beson­dere Muskel- und Skelet­terkrankun­gen ver­ringert und ver­mieden wer­den. Zudem wird das ergonomis­che Ver­ständ­nis und Ver­hal­ten in den Köpfen der Beschäftigten ver­ankert. Ziel ist die Instal­la­tion eines eigen­ständi­gen täglichen Train­ings am Arbeit­splatz, den soge­nan­nten Ergo-Pausen. In kurzen, zehn­minüti­gen Pausen sollen die Beschäftigten täglich Aus­gle­ich­sübun­gen durchführen.

Einrichtung eines Steuerkreises

Ein erfol­gre­ich­es Pro­jek­t­man­age­ment set­zt die Bil­dung eines Exper­ten­teams (Steuerkreis) voraus. Fach­leute in Ergonomie sind in Unternehmen sowohl in der Arbeitssicher­heit als auch in der Arbeitsmedi­zin ange­siedelt. Es ist drin­gend anger­at­en, auch Vertreter der Unternehmensleitung, des Per­son­al­we­sens, des Betrieb­srates und (sofern vorhan­den) der Betrieb­skrankenkasse einzubinden.

Impulse setzen

Ein Arbeit­ge­ber, der sich um ergonomis­che Fra­gen bemüht, wird schnell fest­stellen, dass sein Engage­ment wirkungs­los bleibt, wenn die Beschäftigten nicht „abge­holt“ wer­den. Einze­lak­tio­nen ver­puffen dann meis­tens schnell und sind nicht nach­haltig. Daher sollte der Steuerkreis ver­suchen, einzelne Aktio­nen zum The­ma Ergonomie auf das gesamte Jahr zu verteilen. Beispiel­haft sei die Durch­führung von Ver­anstal­tun­gen unter dem Mot­to „Tag der Ergonomie“ genan­nt. So wur­den bei B. Braun auf ein­er von den Beschäftigten stark fre­quen­tierten Fläche des Unternehmens an einem Tag gebün­delt ver­schiedene Ange­bote zum The­ma Ergonomie gemacht. Es gab Infor­ma­tion­sstände, unter anderem zu fol­gen­den Themen:

  • Alterssim­u­la­tion: Sen­si­bil­isierung für alters­be­d­ingte Verän­derun­gen und deren Ein­fluss auf die Arbeitshandlung
  • Ergo-Sitzen: indi­vidu­elle Beratung zur Ein­rich­tung eines Bildschirmarbeitsplatzes
  • Ergo-Aut­o­fahren: indi­vidu­elle Beratung zur Ergonomie des Aut­o­fahrens sowie dem Umgang mit Ladung im Auto
  • Ergo-Aktiv-Pausen: Erk­lärung ergonomis­ch­er Aus­gle­ich­sübun­gen (auch für zu Hause)
  • Medi-Mouse: Indi­vidu­elle Rück­en­ver­mes­sung mit der Medi-Mouse und Beratung zum The­ma „Gesun­der Rücken“

Fazit

Ergonomie ist nach heutigem Ver­ständ­nis als ein weit gefasster Begriff zu ver­ste­hen und bein­hal­tet viel mehr als das Bestreben nach ein­er kör­per­scho­nen­den Arbeitsweise. Im Sinne des Gesund­heitss­chutzes und des Erhalts der Leis­tungs­fähigkeit der Beschäftigten ist Ergonomie ein wesentlich­er Bestandteil eines ganzheitlichen Gesund­heitssys­tems. Die Ein­führung eines Gesund­heits­man­age­ments kann hier­bei durch fest­gelegte Prozesse dazu beitra­gen, die Gesund­heit der Beschäftigten nach­haltig zu verbessern. Auch wenn das The­ma Gesund­heits­man­age­ment — ger­ade in größeren Unternehmen — häu­fig vom Per­son­al­we­sen ver­ant­wortet wird, geht der Weg an den Fachkräften für Arbeitssicher­heit als (Ergonomie-) Fach­leuten keines­falls vorbei.

1 www.wikipedia.org, Stich­wort: Ergonomie, gese­hen am 17.10.2016.

2 BG RCI (Hrsg.): Gefährdungs­beurteilung — Gefährdungskat­a­log. Merk­blatt A 017, Stand: August 2015.

3 Ebd., S. 21.


Autor

Klaus Zielke ist Sicher­heitsin­ge­nieur bei der B. Braun Mel­sun­gen AG. E‑Mail: klaus_dieter.zielke@bbraun.com.

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