Eine gewissenhafte Sicherheitsfachkraft machte sich eines schönen Tages daran, eine Begehung in einer neu errichteten Arbeitsstätte durchzuführen, als sie in einem abgelegenen Winkel des Hauses vollkommen verwirrende Dinge entdeckte, die sie ganz und gar nicht mit der Arbeitsstättenverordnung in Einklang zu bringen vermochte. Also verlangte sie den Bauherrn (der sich bei der Begehung natürlich durch seinen ehrenamtlich tätigen Sicherheitsbeauftragten vertreten ließ) zu sprechen, um ihm ihre Feststellungen vorzutragen und um ihm zu empfehlen, die festgestellten Mängel so bald als möglich abzustellen.
Der Bauherr erschien mit großer Verzögerung und mit noch viel größerem Zorn und hielt der Sicherheitsfachkraft schweigend ein amtliches Dokument vor die Nase, das den Titel „Baugenehmigung“ trug. Die Sicherheitsfachkraft hob die Schultern und lächelte freundlich. „Ja, und?“, fragte sie den vor Wut kochenden Bauherrn. „Ein nettes Papier, das Du da in den Händen hältst.“
„Holla! Liebe Sicherheitsfachkraft.“, rief der Bauherr daraufhin erbost. „Mein Bauvorhaben ist amtlich abgesegnet. Alles ist in bester Butter, denn ich habe eine Baugenehmigung!“
„Das freut mich gar sehr für dich, doch das Papier nützt dir nichts. Deine Bauaufsichtsbehörde erteilt schon seit Jahren Baugenehmigungen, ohne Beteiligung der für den Arbeitsschutz zuständigen Behörden.“
„Aber, aber…“, stotterte der Bauherr verwundert. „Wenn es stimmt, was du da sagst, dann sind sämtliche Belange des Arbeitsschutzes allein von den Bauherrinnen und Bauherrn zu beachten und zu berücksichtigen???“
„So ist es!“, sprach die Sicherheitsfachkraft und zückte ihr vollgeschriebenes Notizbuch. Und wenn sie nicht gestorben ist, sitzt die Sicherheitsfachkraft aufgrund der vielen Mängel noch heute an ihrem Begehungsprotokoll…
Märchen oder Wahrheit?
Es ist kein Märchen, dass in der Bundesrepublik Deutschland vollkommen problemlos Baugenehmigungen erteilt werden, sofern das geplante Bauwerk genehmigungspflichtig ist und sofern dem jeweiligen Bauvorhaben keine öffentlich rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die in einem bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind.
Soweit so gut, aber jetzt kommt es dicke! Denn…
…in einem möglichen Baugenehmigungsverfahren wird nicht geprüft, ob die Vorgaben der Arbeitsstättenverordnung eingehalten werden!
Wie bitte? Die Vorgaben der Arbeitsstättenverordnung werden im Baugenehmigungsverfahren nicht mehr geprüft? Seit wann gilt das denn? Nun, zum Teil gilt dies bereits seit dem Jahr 2002 (zum Beispiel in Hessen). Viele Bauordnungen wurden damals, und nicht nur in Hessen, auf Grundlage der Musterbauordnung der Länder aus dem Jahr 2002 neu gefasst und enthalten seither keine Vorschrift mehr, die die Prüfung des Arbeitsstättenrechts im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren vorschreibt. Andere Bundesländer haben sich erst später dieser Vorgehensweise angeschlossen (zum Beispiel das Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 2012).
Da es Ausnahmen von der vorgenannten Regel gibt, sei an dieser Stelle sehr empfohlen, sich bei bestehenden Unklarheiten an die zuständige Baubehörde zu wenden. Dort kann die für das Bundesland geltende Regelung in Erfahrung gebracht werden. Viele werden vermutlich überrascht sein, was Sie dort hinsichtlich des Baugenehmigungsverfahrens zu lesen oder zu hören bekommen.
Wer ist verantwortlich?
Wer an dieser Stelle den Schock mit der Baugenehmigung und der Nicht-Prüfung der Vorgaben der Arbeitsstättenverordnung innerhalb des Baugenehmigungsverfahrens halbwegs verkraftet hat, wird sich garantiert sofort die Frage stellen: „Ja, wer ist denn dann verantwortlich?“. Die Frage ist recht einfach zu beantworten: Die Sicherheitsfachkraft ist es nicht!
Denn: „[…] Der Bauherr bzw. der von ihm beauftragte Architekt bzw. Entwurfsplaner hat die Vorgaben des Arbeitsstättenrechts in eigener Verantwortung umzusetzen und auch dafür zu haften.“ [1]
Noch konkreter gilt aber sogar folgendes:
Verantwortlich für die Einhaltung der Arbeitsstättenverordnung als Teil des staatlichen Arbeitsschutzrechts ist die nach dem Arbeitsschutzgesetz verantwortliche Person. Die Arbeitsstättenverordnung verpflichtet den Arbeitgeber, dafür zu sorgen, dass (s)eine Arbeitsstätte so eingerichtet und betrieben wird, dass von ihr keine Gefährdungen für die Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten ausgehen. Nachlesen kann man dies in §3a der Verordnung. Dabei ist es eindeutig an ihm, den Stand der Technik und insbesondere die technischen Regeln für Arbeitsstätten, auch als ASR’en bekannt, zu berücksichtigen.
Das Schöne an den vorgenannten technischen Regeln ist, dass bei ihrer Einhaltung davon ausgegangen wird, dass die in der Verordnung gestellten Anforderungen diesbezüglich erfüllt sind. Wendet der Arbeitgeber die ASR´en – aus welchem Grund auch immer – dagegen nicht an, muss er durch andere Maßnahmen die gleiche Sicherheit und den gleichen Gesundheitsschutz der Beschäftigten erreichen. Dies hat der Arbeitgeber in der Gefährdungsbeurteilung nach § 3 ArbStättV zu berücksichtigen und zu dokumentieren. Diese gesetzliche Vorgabe hat eine große Auswirkung auf geplante Bauvorhaben von Arbeitsstätten, denn sehr viele Vorgaben innerhalb der Arbeitsstättenverordnung sind erfahrungsgemäß baulicher Natur. Und diese Vorgaben müssen bereits in der Planungsphase berücksichtigt werden.
Spätestens jetzt hat ein Gesetz seinen großen Auftritt, das bereits im Jahr 1974 in Kraft trat – das Arbeitssicherheitsgesetz. In diesem Gesetz wird den Arbeitgebern in der Bundesrepublik Deutschland auferlegt, Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärzte bereits in der Planungsphase von Neubauten, baulichen Änderungen oder Nutzungsänderungen zu beteiligen. In der Praxis bedeutet dies, dass sich Bauherrn, Architekten sowie Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärzte in der Planungsphase bei Erstellung der Antragsunterlagen zusammenfinden sollten (Achtung: In der Juristensprache bedeutet soll(t)en = müssen!). Sofern Bauherr und späterer Nutzer/Arbeitgeber nicht identisch sind, empfiehlt es sich, diese soweit möglich entsprechend einzubeziehen.
Nicht-Wissen schützt? Oder nicht?
Ich möchte abschließend zurück zu dem kurzen Märchen aus der Einleitung kommen. In der Praxis ist leider immer wieder festzustellen, dass Bauherrn und Architekten über die Anforderungen der Arbeitsstättenverordnung nicht oder nur unzureichend informiert sind. Noch uninformierter sind viele Planer offenbar aber vor allem hinsichtlich der Thematik Baugenehmigung und Baugenehmigungsverfahren. Eine erteilte Baugenehmigung wird sehr gerne – und das gilt erfahrungsgemäß nicht nur hinsichtlich der Belange des Arbeitsschutzes – als grundsätzlicher Freifahrtschein betrachtet.
Aber: … „[…] Die Baugenehmigung ist keine öffentlich-rechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung. Sie zielt nicht auf eine grundsätzlich umfassende Prüfung der für das Bauvorhaben anzuwendenden öffentlich-rechtlichen Anforderungen ab. Geprüft wird nur, was dem spezifischen Baurecht angehört und was nach dem jeweiligen Fachrecht einer Prüfung im Baugenehmigungsverfahren ausdrücklich unterworfen ist. Die Arbeitsschutzbehörden können damit nicht mehr im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens auf die Planung von Arbeitsstätten Einfluss nehmen. … Das Arbeitsstättenrecht ist eines der wichtigsten Rechtsgebiete des Baunebenrechts. Gesichtspunkte, die in der Bauplanungsphase nicht berücksichtigt werden, sind im Nachgang nur sehr schwierig und meist mit hohem Kostenaufwand zu korrigieren. Daher ist die Eigenverantwortung von Bauherren, Architekten und Planern gefragt […].“ [2]
Besser: Von Anfang an im Boot
Viele Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärzte werden, was die Praxis leider allzu häufig zeigt, bei der Planung oftmals nicht beteiligt. Und das kann teure Folgen haben, wenn zum Beispiel Nachbesserungen der Planungsunterlagen notwendig werden. Solche Nachbesserungen können Verzögerungen des Baugenehmigungsverfahrens nach sich ziehen. Noch um einiges unangenehmer wird es, wenn sich Mängel erst nach der Errichtung beziehungsweise der Fertigstellung der neuen Arbeitsstätte zeigen. Dann nämlich werden Nachbesserungen noch schwieriger und vor allem: noch teurer.
[1] So beginnen bretonische Märchen gerne…[2] Quellen und weitere Informationen zum Thema:
- Arbeitsstättenrecht und Thüringer Bauordnung; Thüringer Landesbetrieb für Arbeitsschutz und technischen Verbraucherschutz; Juni 2012
- http://www.baua.de/de/Themen-von-A‑Z/Arbeitsstaetten/Arbeitsstaettenrecht.html
- http://www.brd.nrw.de/arbeitsschutz/56_arbeitsstaetten/Arbeitsstaettenrecht-und-Arbeitsschutz-im-baugenehmigungsverfahren.html
- www.lak-nds.net/lak20120906/vortraege/huelsemann/huelsemann.pdf
- http://www.gaa.baden-wuerttemberg.de/servlet/is/22490/
- https://www.kommunen-in-nrw.de/mitgliederbereich/mitteilungen/detailansicht/dokument/wegfall-der-beteiligung-der-arbeitsschutzverwaltung-im-baugenehmigungsverfahren.html?cHash=55b084ee8ec1b9b0a6f2d055fb157e9f
- http://nrw-baurecht.de/viewtopic.php?t=841
- https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_del_text?anw_nr=7&vd_id=13806&ver=8&val=13806&sg=0&menu=1&vd_back=N
- www.byak.de/media//Info…/150227-Merkblatt_Arbeitsst__ttenrecht_end-heitl.pdf
- www.hwk-bayern.de/viewDocument?onr=74&id=255
- https://www.unfallkasse-nrw.de/fileadmin/server/download/…/VStaettV_und_LBO.pdf
- www.gewerbeaufsicht.niedersachsen.de/…/Nr._50_Neufassung_der_Niedersaechsisch…
Autor
Heiko Mittelstaedt