Aufklärung ist wichtig, weil es viel Konfusion um die Begriffe „Gefährdungsbeurteilung“, „psychische Belastung“ und „Beanspruchung“ in den Unternehmen gibt. Viele Führungskräfte und die Mitwirkenden im Arbeitsschutz haben die Befürchtung, sie müssten sich möglicherweise als eine Art Seelsorger um Beschäftigte kümmern.
Unstrittig ist hingegen, dass psychische Überlastung mittel‐ und langfristig ein hohes Risiko für die Gesundheit und damit auch für die Leistungsfähigkeit darstellt. Genau deshalb fordert der Gesetzgeber ja die Beurteilung dieser Risiken. Dabei wird unter psychischer Belastung zunächst wertneutral die Gesamtheit der äußeren Einflüsse am Arbeitsplatz, welche auf die Beschäftigten psychisch einwirken, verstanden (zum Beispiel Störungen im Arbeitsablauf).
Explizit außen vor bleiben Einflüsse, die nicht direkt durch die Tätigkeit verursacht sind (also beispielsweise das Privat‐ und Familienleben), sowie der individuelle Umgang mit Belastungen. Zweck der Gefährdungsbeurteilung ist in diesem Sinne die Beurteilung der Arbeitsbedingungen, wie etwa Arbeitsabläufe, Handlungs‐ oder Zeitspielräume von Beschäftigten, zu erheben. Es ist zu beurteilen, ob eine Über‐ oder Fehlbelastung vorliegt. In diesem Fall müssen Maßnahmen zur Minderung der Belastung ergriffen werden.
Während die Arbeitsumgebungsbedingungen mit der klassischen Gefährdungsbeurteilung weitgehend abgedeckt sind (zum Beispiel räumliche Enge, Hitze, Lärm, Beleuchtung, usw.), bedarf es für die Beurteilung der psychischen Belastungen eines geeigneten Verfahrens,
das die relevanten Belastungsfaktoren „messen“ kann, wie sie in der Leitlinie der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie aufgeführt sind. Es handelt sich demnach um die Merkmalsbereiche
- Arbeitsinhalt
- Arbeitsorganisation
- soziale Beziehungen und
- Arbeitsumgebung.
Voraussetzung ist eine entsprechende Qualität der Analyse, denn nur dann können verlässliche Rückschlüsse gezogen werden. Zur Ermittlung der Belastungen stehen grundsätzlich drei verschiedene Methoden mit spezifischen Merkmalen zur Verfügung (siehe Abbildung):
- Befragung: Während eine anonyme Mitarbeiterbefragung problemlos bei einer großen Anzahl von Beschäftigten umgesetzt werden kann, weckt diese Vorgehensweise immer auch Erwartungen. Für eine erfolgreiche Durchführung sind deshalb eine gute Vor‐ und Nachbereitung (Information, Ressourcen‐ und Zeitplanung) notwendig. Eine Befragung ist eine Methode, die bei entsprechendem Rücklauf ein repräsentatives Meinungsbild liefert (alle auf einmal, abteilungsbezogen) und in größeren Abständen bei der gleichen Gruppe wiederholt werden kann.
- Beobachtungsinterviews: Begehungen sind vielen vertraut und lassen sich leicht in die tägliche Routine einbinden. Wichtig ist, dass die Beurteilung nicht durch eine einzelne Person, sondern im Team (beispielsweise Betriebsrat, Personalreferent und Arbeitssicherheit) erfolgt. Neben der Konsensfindung wird auch ein Verstärkereffekt erreicht, weil sich die Teilnehmer intensiv mit den qualitativen Aspekten der Arbeitsgestaltung auseinandersetzen. Allerdings garantiert nur ein geschultes Expertenteam Objektivität und Qualität (sequentiell, tätigkeitsbezogen).
- Workshops/Arbeitssituationsanalyse: Dabei erarbeiten sich die Teilnehmer unter Anleitung eines Moderators ein vertieftes Verständnis von arbeitsbedingten Stressoren und entwickeln Ideen für Maßnahmen. Bei dieser Vorgehensweise können nur Gruppen mit maximal 15 Teilnehmern einer Hierarchieebene angesprochen werden. Diese Methode ist auch gut geeignet, um nach einer Befragung eine Detailanalyse mit Fokusgruppen vorzunehmen.
Ablauf der Gefährdungsbeurteilung
Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ist ein Gemeinschaftsprojekt, das von Inhalt und Zielsetzung über den Arbeitsschutz hinausgeht. Wir empfehlen, für diese Aufgabe Personen mit einschlägigem Fachwissen hinzuzuziehen (intern oder extern). Die Durchführung stellt einen strukturierten Prozess dar, der sich grob in drei Phasen gliedert (Abbildung 2):
- I. Vorbereitungsphase
Zunächst müssen Zuständigkeiten festgelegt und geklärt werden, welche Methode für den Betrieb am besten passt. Dazu bedarf es eines Steuerkreises, der unter Einbeziehung der Leitungsebene und Mitarbeitervertretung die Methode festlegt sowie die Zeit‐ und Ressourcenplanung übernimmt.
- II. Ermittlungs‐ und Beurteilungsphase
Die Ermittlung erfolgt entweder über einen externen Dienstleister (Befragung, Workshop) oder intern (Begehung). Die Ergebnisse werden intern interpretiert und beurteilt.
- III. Umsetzungsphase
Wird Handlungsbedarf festgestellt, werden durch den Steuerkreis Maßnahmen definiert. Nach einer gewissen Zeit werden die Umsetzung und die Wirkung der Maßnahmen überprüft und gegebenenfalls nachgesteuert.
Eine gestufte Vorgehensweise kann durchaus sinnvoll sein, indem beispielsweise die Ergebnisse einer Befragung in einem moderierten Workshop diskutiert und vertieft analysiert werden. Gerade in der Anfangsphase können externe Fachleute den Prozess effizienter gestalten, indem sie dem Projektteam das nötige Fachwissen vermitteln und bei der Auswahl und Zusammenstellung des Verfahrens sowie als Projektbegleitung wertvolle Dienste leisten.
Das Ziel ist die Verstetigung der Gefährdungsbeurteilung in Form eines PDCA‐Zyklus (englisch Plan‐Do‐Check‐Act – Planen‐Ausführen‐Überprüfen‐Anpassen), der zu einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess führt (siehe Abbildung)
Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ist demnach keine lästige, sondern eine lohnende (Pflicht)Aufgabe – schließlich profitieren Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen von den umgesetzten Verbesserungen im Betrieb. Die Voraussetzung dafür ist allerdings eine entsprechende Qualität der Analyse und ein funktionierender Steuerkreis, der mit Vertretern des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer sowie den fachkundigen Arbeitsschutzakteuren besetzt ist. Stimmt die Qualität, können auch die Ursachen der festgestellten Belastungen erkannt und in Folge zielgerichtete Maßnahmen umgesetzt werden. Stimmige Maßnahmenvorschläge erarbeitet der Steuerkreis unter Einbeziehung der betroffenen Beschäftigten.
In Teil 2 des Artikels erfahren Sie anhand von drei Praxisbeispielen, wie Maßnahmen aus den Ergebnissen der Gefährdungsbeurteilung abgeleitet und dadurch konkrete Verbesserungen im Betrieb erreicht werden.
Beispiele für abgeleitete Maßnahmen
- Vereinfachung der Dokumentation: mehr Zeit für die fachliche Arbeit
- Verbesserung der Kommunikation zwischen zwei Abteilungen: weniger Zeitdruck, da Bestellvorgang vereinfacht
- Einführung Jobrotation zur Verringerung von Monotonie: weniger Fehler in der Endkontrolle
- Schulung zu Gefahrenpotenzial von Gefahrstoffen: Abbau von Befürchtungen und erhöhte Flexibilität in der Personalplanung
- bessere Betreuung des Außendienstes: Vermeidung von Gerüchten und Halbwahrheiten
- Vereinheitlichung der Qualitätssicherung: weniger Ausschuss
- Änderung von Schichtplänen: weniger Konflikte bei der Urlaubsplanung
- Einführung von störungsfreien Zeiten: kürzere Entwicklungszeiten
Lesen Sie auch „Nutzen generieren (Teil 2) – Die Gefährdungsbeurteilung „Psyche“ liegt vor – und jetzt?“
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Autoren:
Dr. Ralf Neuner
Sabine Neuner
Institut für Gesundheitsmanagement