Rund ein Viertel aller Beschäftigten, etwa in Pflegeberufen oder der Bauwirtschaft, müssen mitunter schwer heben oder tragen. Dies hat für sie leider oft auch gesundheitliche Folgen. 15 Prozent der Angestellten mit Rückenleiden vermuten, dass das Heben und Tragen sie krank gemacht hat. Doch es gibt Möglichkeiten, gesund zu bleiben.
Bettina Brucker
Kevin, 23 Jahre, arbeitet seit zweieinhalb Jahren auf der Baustelle. Nach Schule und Ausbildung wollte er mal richtig Geld verdienen. Und so packt er kräftig an. Er ist groß gewachsen und athletisch gebaut. Seit mehr als vier Jahren macht er Krafttraining in einem Fitnesscenter. Wenn sein deutlich älterer Kollege ihn warnt, er solle nicht so viel auf einmal schleppen oder selbst nur kleine Einheiten trägt, lächelt Kevin, klopft ihm auf die Schulter und sagt kameradschaftlich: „Lass mal, Alter, das ist für mich ein Klacks.“
Die meisten Gewerke der Baubranche haben täglich schwere Lasten zu bewältigen. Doch auch viele andere Berufe sind hohen körperlichen Belastungen durch Heben und Tragen ausgesetzt wie etwa Altenpfleger, Rettungssanitäter, Gärtner, Landwirte, aber auch Kellner oder Erzieherinnen in Kindertagesstätten. Die Lasten sind allerdings sehr unterschiedlich. In der Kindertagesstätte müssen kleine Kinder auf den Wickeltisch gehoben werden, die größeren brauchen Hilfe beim Aufstehen und mehrmals am Tag heißt es, ein Kind auf den Arm nehmen und trösten. Bei anderen Berufen sind es Säcke, Kisten oder volle Tabletts, die bewegt werden wollen.
Altenpflegehelferin Ingrid, 54 Jahre, hat in ihrer Ausbildung gelernt, wie man alte Menschen aktivieren kann, damit sie so selbständig wie möglich aufstehen. Doch in der Spätschicht bleibt dafür nicht immer die Zeit. Viel zu lange würde es dauern, sich auf das Tempo der Alten einzulassen. Da packt sie lieber kräftiger zu, dann geht das Aufstehen schneller. Und wenn ein Kollege ausfällt, muss sie einem Bettlägrigen schon einmal alleine das Bett richten. Das ist dann richtige Knochenarbeit, wie Ingrid erzählt.
Männlich, jung, trainiert: Rückenleiden?
Kevin ist jung und ein Mann. Ingrid ist deutlich älter und zudem eine Frau. Wenn es um das Heben und Tragen geht, spielen diese beiden Faktoren, neben vielen weiteren, eine entscheidende Rolle.
Die Körperkraft einer Frau beträgt im Vergleich zu einem Mann durchschnittlich nur zwei Drittel. Und da ihre Skelettmaße kleiner sind, entsteht bei gleicher Arbeitsanforderung eine höhere Belastung der Wirbelsäule. Außerdem haben Frauen einen offenen Beckenboden, was dazu führt, dass das Becken die Druckkräfte beim Heben und Tragen weniger gut aufnehmen kann. Bei andauernder Belastung kann es deshalb zur Gebärmuttersenkung und zur Störung der Blasenfunktion kommen. Deshalb dürfen Frauen nur deutlich geringere Lasten als Männer heben und tragen.
Auch eine altersbedingte verminderte Belastbarkeit am Arbeitsplatz ist zu berücksichtigen. Denn mit 40 Jahren beginnen Knochenfestigkeit, Muskelkraft sowie körperliche Leistungsfähigkeit nachzulassen.
Die Belastungsgrenzen sind allerdings individuell sehr unterschiedlich. Doch für die Arbeit gibt es Werte, an denen man sich orientieren kann (s. Tabelle auf S. 19). Für die Praxis bedeutet das, bei der Gefährdungsbeurteilung zu prüfen, wie schwer die Lasten am Arbeitsplatz üblicherweise sind. Doch auch über den jugendlichen Ehrgeiz von Kevin sollte in Ruhe gesprochen werden. Muskelkraft und Risikobereitschaft sind in jungen Jahren so stark ausgeprägt, dass ein Fehlverhalten oder zu viel Gewicht nicht als Gefährdung wahrgenommen werden. Der Körper gibt noch keine negative Rückmeldung. Es ist wichtig, dem jungen Mitarbeiter dies bewusst zu machen und gemeinsam vorbeugende Maßnahmen festzulegen.
Wenn beim Bücken das Knie schmerzt …
Einerseits gibt es gesundheitliche Probleme, die das Heben und Tragen erschweren. Dazu gehört zum Beispiel Übergewicht. Ein vorgewölbter Bauch verhindert, dass ein Gewicht nah an der Körpermitte gehalten werden kann. Durch den längeren Lastarm steigt die Belastung auf die Lendenwirbelsäule. Auch die Herz-Kreislaufbelastung nimmt zu, da bei der anstrengenden Bewegung mehr Körpermasse mit Energie versorgt werden muss.
Eine Kniearthrose kann dazu führen, dass falsch angepackt wird. Schmerzt beim Bücken das Knie, vermeidet man den Schmerz, indem man das Gewicht mit gestreckten Beinen anhebt. Doch in dieser Haltung drückt die Last enorm auf Wirbelsäule und Bandscheiben.
Auf der anderen Seite kann falsches Heben und Tragen akute und bleibende Gesundheitsschäden verursachen. Je weniger Muskeln die Last übernehmen, desto stärker ist die Druckbelastung auf Knochen und Bandscheiben. Je höher das Gewicht, desto größer ist die Belastung für die Gelenke. Je gebeugter der Rücken, desto stärker ist die Belastung der Kanten der Wirbelköper und der Bandscheiben. Und je stärker einseitig und punktförmig belastet wird, desto schneller entwickeln sich Abnutzungen.
Körperliche Voraussetzungen
Bei der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung lässt sich nach verschiedenen Kriterien beurteilen, ob und wie viel eine Person heben und tragen kann und darf. Beachtet werden dabei unter anderem Geschlecht, Alter, Körperbau, Körpergewicht und Gesundheitszustand. Das Skelettwachstum ist beispielsweise erst mit etwa 21 Jahren abgeschlossen. Bis dahin gelten die Beschäftigten als vermindert belastbar.
Über 200 Knochen und 100 bewegliche Gelenke mit über 620 Skelettmuskeln verleihen dem Körper Stabilität und Beweglichkeit. Ein Gewicht zu heben und zu transportieren, bedeutet für die Muskulatur Anforderungen an Kraft, Koordination und Ausdauer.
Wer viel und schwer heben und tragen muss, sollte einen gut trainierten Oberkörper und kräftige Arme haben. Zudem muss die Bauch- und Rückenmuskulatur gut ausgebildet sein. Nur zusammen können sie die Gelenke stabilisieren. Schlaffe Bauchmuskeln geben der Wirbelsäule keinen Halt. Umso stabiler die Muskulatur allgemein ist, umso mehr werden Bänder, Sehnen, Gelenke und Knochen entlastet.
Hilfsmittel in vielen Variationen
Wir
- fahren Auto statt zu gehen
- wir nehmen den Aufzug statt die Treppe
- wir drücken auf die Fernbedienung statt aufzustehen
- bewegen uns meistens zu wenig.
In den letzten Jahrzehnten haben wir uns an so viele technische Hilfsmittel gewöhnt, dass wir Bewegung immer mehr vernachlässigen. Wenn es jedoch um das Heben oder Tragen von schweren Lasten geht, halten wir es für unmännlich ein Hilfsmittel zu verwenden, ist das Hilfsmittel nicht vor Ort oder müsste erst organisiert werden. Und so schleppen und transportieren wir Lasten wie im Mittelalter.
Der Arbeitgeber ist übrigens gesetzlich verpflichtet, Hilfsmittel bereitzustellen, wenn bei der täglichen Arbeit viele Lasten zu bewegen sind. Er trägt die Verantwortung, wenn es um die Gesundheit seiner Mitarbeiter geht. Allerdings ist jeder selbst dafür verantwortlich, die Hilfsmittel dann auch zu nutzen und sich so die Arbeit zu erleichtern.
Die richtige Körperhaltung
Auch wenn es am besten ist, schwere Lasten so selten wie möglich und nur wenn unbedingt notwendig per Hand zu heben und zu tragen, lässt es sich nicht immer vermeiden. Um den Körper dann zu schützen, sollte man unbedingt auf die Körperhaltung achten. Ob eine Bewegung richtig oder falsch ausgeführt wird, lässt sich von außen erkennen. Und der Ausführende spürt fast immer, ob ihm das Heben einer Last gut tut, ob es ihn belastet oder sogar schmerzt.
Da jeder Arbeitsplatz andere Bedingungen hat und sich die Tätigkeiten des Hebens und Tragens unterscheiden, ist eine Schulung am Arbeitsplatz bzw. eine arbeitsplatzbezogene Rückenschule besonders sinnvoll. Branchenspezifische Trainingsprogramme bieten unter anderem die Berufsgenossenschaften an.
Tipp: Zu zweit geht’s leichter!
- Statt auf einer Seite schwer zu tragen, Lasten besser auf beide Arme verteilen.
- Schwere Lasten besser zu zweit tragen.
- Tragen mehrere Personen zusammen, muss einer das Kommando haben.
Gewichte stemmen als Ausgleich
Wer viel Muskelarbeit leistet, sollte die Muskeln, die während der Arbeit weniger beansprucht werden, zusätzlich, zum Beispiel im Fitnesscenter, trainieren. So wird eine einseitige Belastung ausgeglichen und das Kräfteverhältnis im Körper in die notwendige Balance gebracht.
Ausdauersportarten sollten das Muskeltraining ergänzen. Dabei sollte man gelenkschonende Sportarten bevorzugen, also besser
- Nordic Walking als Joggen
- Rückwärtskraulen als Brustschwimmen mit Kopf aus dem Wasser
- Radeln auf dem Citybike als auf dem Mountainbike oder Rennrad.
Und wenn es schon zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung gekommen ist, sollte der Betroffene mit Hilfe der Rentenversicherung an einem speziellen Rehabilitationstraining teilnehmen.
Rücken-Kampagne
2013 startete die Präventionskampagne „Denk an mich. Dein Rücken“ der Unfallkassen und Berufsgenossenschaften. Sie ging bis zum Jahr 2015. Ziel der Kampagne war es, arbeitsbezogene Rückenbelastungen zu verringern. So gab es unter anderem Informationen, wie man einen Arbeitsplatz mit Hebehilfen ausstattet oder wie sich schlechte Arbeitsbedingungen oder eigenes Fehlverhalten ändern lassen.
Mehr Infos …
… erhalten Sie
- Bei den Berufsgenossenschaften können Sie branchenspezifisches Material anfordern.
- Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA, www.baua.de) gibt es im Internet die 18 seitige Broschüre „Heben und Tragen ohne Schaden“ zum Herunterladen (PDF) oder zum Bestellen.
- Als unterhaltsames Schulungsmaterial bietet sich der Film „Napo – Nimm’s leicht“ der DGUV an.
- auf der Kampagnenseite „Denk an mich. Dein Rücken“ unter www.deinruecken.de.
Unsere Webinar-Empfehlung
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