Fast jeder Mensch nimmt sich vor, sofort zu helfen, wenn er Zeuge eines Unfalls oder eines anderen Unglücksfalls wird. Kommt es jedoch tatsächlich zu einer derartigen Situation, verhalten sich nicht wenige ganz anders. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Einigen fährt die Angst in die Glieder. Andere befürchten, als medizinische Laien dem Unfallopfer durch falsche Maßnahmen eventuell noch mehr zu schaden. Und wiederum andere erfasst die Sensationsgier: Sie „gaffen“ nur und stehen dabei den Rettungskräften sogar noch im Weg.
Gesellschaftliche Solidarität
Gerade der letzte Punkt war in den vergangenen Jahren bei nicht wenigen Gelegenheiten Thema in den Medien. Nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der vielzitierten „Spaltung“ der Gesellschaft wird das „Gaffen“ durch Schaulustige und die Weigerung, eine Rettungsgasse für Ambulanzwagen, Polizei und Feuerwehr zu bilden, als ein Verhalten interpretiert, welches mit dem traditionellen Solidaritätsgedanken kaum beziehungsweise nicht vereinbar ist. Die gesetzliche Verpflichtung zur Hilfeleistung bei Unfällen und anderen Unglücks- oder Notfällen ist aber gerade aus dem Gedanken der Wahrung der gesellschaftlichen Solidarität entstanden.
Leistet eine Person in einem Unglücksfall keine Hilfe, beispielsweise Erste Hilfe, drohen ihr sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Konsequenzen. Auf Ausnahmen von dieser Grundregel wird im Folgenden noch eingegangen. Das Strafmaß bei einer Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung bei einem schwereren Vergehen beträgt bis zu einem Jahr Gefängnis. Zumeist wird jedoch nur eine Geldstrafe verhängt, teilweise in erheblicher Höhe.
Offizialdelikt
Die unterlassene Hilfeleistung ist eine Straftat. Sie liegt vor, wenn bei Unglücksfällen keine Hilfe geleistet wurde, obwohl dies erforderlich und der Person den Umständen nach zumutbar war. Sofern sie von einer unterlassenen Hilfeleistung erfährt, muss die Staatsanwaltschaft handeln: Sie muss, wie es juristisch heißt, „von Amts wegen“ Ermittlungen einleiten.
Damit ist die unterlassene Hilfeleistung ein Offizialdelikt. Fahrlässige Tötung, Erpressung, Mord, Totschlag oder Raub sind weitere typische Offizialdelikte. Dies zeigt, dass die unterlassene Hilfeleistung kein leichtes Vergehen ist.
Was ist ein Unglücksfall?
Doch zunächst einmal stellt sich die Frage, was das Gesetz unter einem „Unglücksfall“ versteht, bei dem Hilfe geleistet werden muss. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in mehreren Urteilen und Beschlüssen einen Unglücksfall als „ein plötzlich eintretendes Ereignis, das eine unmittelbare Gefahr eines erheblichen Schadens für Menschen oder Sachen von bedeutendem Wert hervorruft oder hervorzurufen droht“ definiert.
Beispiele für Unglücksfälle sind Verkehrsunfälle, Bewusstlosigkeit nach einem Selbstmordversuch, Vergewaltigungen oder Überfälle. Dagegen ist zum Beispiel ein einfacher Sturz vom Fahrrad kein Unglücksfall – es sei denn, der Fahrradfahrer verletzt sich dabei schwer und muss sofort ärztlich behandelt werden. Denn als Folge eines Unglücksfalls müssen immer „erhebliche Gefahren“ drohen.
Gemeine Gefahr und gemeine Not
In den allermeisten Fällen handelt es sich bei Situationen, in denen Hilfe geleistet werden muss, um einen Unglücksfall. Aber auch bei Eintreten einer „gemeinen Gefahr“ und „gemeinen Not“ muss Hilfe geleistet werden. Eine gemeine Gefahr liegt bei einer konkreten Gefahr für Leib und Leben unbestimmt vieler Personen vor. Zum Beispiel bei Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben oder Bränden.
Eine gemeine Not bezeichnet dagegen eine erhebliche Notlage für die Allgemeinheit, zum Beispiel bei einem Ausfall der Trinkwasserversorgung, Brennstoffknappheit oder einem längeren Stromausfall. Man sieht: Die Abgrenzung zwischen beiden Fällen ist relativ schwer zu ziehen, allerdings werden sie vor Gericht auch deutlich seltener verhandelt als Unglücksfälle.
Wann entfällt die Hilfspflicht?
Hilfe muss auch dann geleistet werden, wenn ihre Erfolgsaussichten subjektiv oder objektiv sehr gering oder sogar nicht gegeben sind. Einem Verunglückten ist selbst dann zu helfen, wenn sich in der Rückschau zeigt, dass die befürchtete Folge des Unglücks von Anfang an unabwendbar war. Von diesem Prinzip gibt es nur wenige Ausnahmen. Dazu gehört zunächst der Tod der verunglückten Person: Ist der Verunfallte bereits gestorben, wäre eine Hilfe nutzlos.
Allerdings muss die hilfeleistende Person definitiv wissen, dass der Verunfallte bereits tot ist – die Vermutung allein reicht nicht aus. Die Hilfspflicht entfällt darüber hinaus, wenn der Hilfsbedürftige die Hilfe ablehnt – vorausgesetzt der Verunfallte ist dabei noch zurechnungsfähig und befindet sich nicht in einem psychischen Ausnahmezustand. Sie entfällt auch dann, wenn bereits andere Personen ausreichende Hilfe geleistet haben.
Welche Hilfeleistung ist zumutbar?
Menschen müssen selbst dann Hilfe leisten, wenn sie sich damit selbst einer zumutbaren Verletzungsgefahr aussetzen oder wenn sie sich oder einen Angehörigen damit strafrechtlich belasten. Ein Beispiel für Letzteres: Hat der Ehemann mit seinem Auto einen Verkehrsunfall verschuldet und dabei eine Person verletzt, muss er oder seine mitfahrende Ehefrau Hilfe leisten. Wenn beide nicht selbst Erste Hilfe leisten, müssen sie zumindest einen Krankenwagen oder Arzt zum Unfallort bestellen – ihren Namen müssen sie dabei aber nicht nennen. Die Ehefrau müsste selbst dann Hilfe leisten beziehungsweise für Hilfe sorgen, wenn ihr Mann als Unfallverursacher dies nicht tut.
Trotz dieser Voraussetzungen kommen Verurteilungen wegen unterlassener Hilfeleistung in der Praxis relativ selten vor. Der Grund hierfür ist der Faktor der „Zumutbarkeit“. Denn eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung erfolgt üblicherweise nicht, wenn eine Person sich dadurch selbst in „erhebliche Gefahr“ begeben müsste. Hierbei geht es grundsätzlich um eine Abwägung zwischen den Gefahren, die dem Hilfeleistenden bei seiner Hilfeleistung drohen (Eigengefährdung), und dem Schaden für den Verunfallten beziehungsweise Verunglückten. Vor diesem Hintergrund muss ein Gericht immer den spezifischen Einzelfall betrachten und entscheidet häufig, dass zum Beispiel die Eigengefährdung für die angeklagte beziehungsweise angezeigte Person nicht zumutbar gewesen ist.
Was ist nicht mehr zumutbar?
Nicht mehr zumutbar ist eine (direkte) Hilfeleistung in drei Situationen. Die Wichtigste: Die Gefahr, sich bei der Hilfeleistung schwer zu verletzen oder gar umzukommen (Eigengefährdung), ist größer als die gesundheitlichen Schäden der zu rettenden Personen – also wieder die oben bereits erwähnte Frage der Abwägung.
Typische Beispiele der Eigengefährdung sind zum Beispiel Hilfe bei Gefahrguttransportunfällen (das ist allein Sache der Feuerwehr) oder aber ein Unfall auf der Autobahn, bei dem die helfende Person durch den Verkehr schwer verletzt oder getötet werden könnte oder selbst bei der Rettungsaktion vorbeifahrende Autofahrer gefährden könnte (Fremdgefährdung).
Ebenso ist eine Hilfeleistung nicht zumutbar, wenn dadurch eine andere Pflicht verletzt oder vernachlässigt wird, beispielsweise die Aufsichtspflicht über Kinder. Schließlich werden Gerichte auch die Fähigkeiten und Möglichkeiten einer Person genau betrachten, da zum Beispiel ein medizinischer Laie nicht in der Lage ist, bestimmte lebenserhaltende Maßnahmen an der verunfallten Person auszuführen. In jedem Fall sind aber all diese Personen Zeugen der Unglücks- oder Notsituation und von daher verpflichtet, Hilfe zu holen – entweder direkt vor Ort oder mittels eines Telefonanrufs.
Behinderung von Helfern
Leider ist es ein nicht seltenes Phänomen unserer Zeit: „Gaffer“ und Schaulustige, die den Weg zur Unfallstelle versperren, die Rettungsgasse blockieren oder teilweise sogar die Arbeit der hilfeleistenden Personen mutwillig erschweren oder behindern. Auch bei der Behinderung von hilfeleistenden Personen müssen die angezeigten Personen mit schweren Sanktionen rechnen. Teilweise ist es für sie nicht immer klar zu erkennen, ob es sich um eine Unglücks- oder Notfallsituation handelt, ein Richter wird dies auch zur Kenntnis nehmen.
Ganz anders dagegen ist es bei den erwähnten Vorfällen im Straßenverkehr, bei denen die Rettungskräfte mit Blaulicht und Sirenen deutlich genug auf sich aufmerksam machen. In diesem Fall ist sogar schon ein sogenannter bedingter Vorsatz der behindernden Personen ausreichend für eine Sanktionierung. Das heißt, es reicht bereits aus, die Behinderung von Rettungskräften oder Helfern nicht zu wollen, aber billigend in Kauf zu nehmen.
Während es hierfür aber nur zu einer Gefängnisstrafe von maximal einem Jahr kommen kann, ist die Strafe bei einem aktiven Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, wozu auch alle Rettungskräfte gehören, deutlich höher: Der verurteilten Person drohen dann bis zu drei Jahren Gefängnis.
Aus dem Strafgesetzbuch
Paragraf 323c: Unterlassene Hilfeleistung;
Behinderung von hilfeleistenden Personen
(1) Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer in diesen Situationen eine Person behindert, die einem Dritten Hilfe leistet oder leisten will.
Quelle: https://dejure.org
Keine Angst vor Erster Hilfe
Viele Menschen bleiben in Notsituationen untätig, weil sie befürchten, etwas falsch zu machen, die Situation womöglich noch zu verschlimmern und für einen Schaden gegebenenfalls zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die DGUV-Publikation „Rechtsfragen bei Erster-Hilfe-Leistung durch Ersthelferinnen und Ersthelfer“ schafft hier Klarheit: „Erste Hilfe umfasst medizinische, organisatorische und betreuende Maßnahmen an Erkrankten oder Verletzten mit einfachen Mitteln.
Solange die betreffende Person die ihr bestmögliche Hilfe leistet, sind derartige Befürchtungen grundlos. In der Regel muss weder mit schadensersatz- noch strafrechtlichen Konsequenzen gerechnet werden“, heißt es in der Einleitung. Dies wird im Folgenden detailreich ausgeführt und anhand von Beispielen verdeutlicht. Die Information kann über die Publikationsdatenbank der DGUV bezogen werden.
www.dguv.de/publikationen (Webcode: p010852)