Oft scheint es jedoch nicht zu gelingen, Ereignisse nachhaltig zu vermeiden: Viele Unternehmen sehen sich mit der Wiederholung gleicher oder ähnlicher Unfälle konfrontiert. Woran liegt das?
Die meisten Unternehmen haben einen Prozess eingeführt, um aus Unfällen zu lernen. Aber: Nicht alle Unfälle werden gemeldet, die Analyse beschränkt sich auf das menschliche Fehlverhalten oder auf die theoretische Ausführung der Arbeit und bezieht die ausführenden Personen nicht in die Maßnahmendiskussion ein – dazu wird nur ein Teil der beschlossenen Maßnahmen auch wirksam umgesetzt.
Dies bedeutet, dass Verhaltens- und Prozessänderungen nicht oder nicht nachhaltig stattfinden und somit nicht effektiv gelernt wird. Wie aber gelingt das Lernen aus Unfällen? Anhand des Prozess-Modells „Lernen aus Unfällen“ (siehe Grafik) werden Herausforderungen und Strategien zur Förderung einer effektiven Lernkultur aufgezeigt.
Meldung
Das Wissen um ein Ereignis ist Voraussetzung dafür, dass der Prozess des Lernens aus Ereignissen überhaupt in Gang gesetzt werden kann. Das heißt, Unfälle müssen von jedermann einfach gemeldet werden können – ohne komplizierte Verfahren oder Formulare und frei von negativen Konsequenzen. Und: Den Führungskräften muss das Lernen wichtiger sein als die Diskussion über die Klassifizierung von Unfällen „zum Wohle der Statistik“.
Untersuchung
An die Unfallmeldung schließen sich die Unfalluntersuchung und die Unfallanalyse an. Bei der Untersuchung werden Informationen gesammelt und Fakten gesichert, in der Analyse werden diese zu einem Gesamtbild des Unfallhergangs zusammengefügt. Die Analyse ist daher nur so gut wie die Informationen, die gesammelt wurden.
Wenn zu wenig Zeit für eine sorgfältige Informationssammlung und Analyse eingeräumt wird, die Mitarbeiter nicht offen sprechen oder dem Untersuchungsteam die Experten fehlen, spiegelt das Untersuchungsergebnis nicht den tatsächlichen Ereignisablauf wider und die darauf basierenden Maßnahmen werden Ereignisse in Zukunft nicht verhindern.
Bei der Analyse begnügen sich leider immer noch viele Unternehmen mit dem menschlichen Fehler, dem sogenannten „menschlichen Versagen“, als direkter Unfallursache. Das ist zu kurz gesprungen. Ganzheitliche Unfallanalysen führen zu den tiefer liegenden Grund-Ursachen. Das sind Defizite in der Organisation oder im Managementsystem, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens menschlicher Fehler erhöhen.
Hier setzen Verbesserungsmaßnahmen an, um sicheres Verhalten zu fördern – durch eine Optimierung der Arbeitsumgebung. Es gibt zahlreiche ganzheitliche Unfallanalysen; Beispiele sind die Methoden Barrier Failure Analysis oder Tripod Beta.
Oft ist es nicht möglich, alle Unfälle mit der gleichen Intensität zu untersuchen. Daher wird anhand des Schweregrads, des potenziellen Schweregrads und des Lernpotenzials entschieden, welche Unfälle mit welcher Analyse-Methode untersucht werden sollen. Häufig wird für Unfälle mit geringem Potenzial eine einfache Methode und für Unfälle mit höherem Schweregrad oder höherem Potenzial eine aufwändigere Methode gewählt.
Zusammenfassung der Ergebnisse
Nach der Unfalluntersuchung und ‑analyse erfolgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse in Form eines Unfall-Kurzberichtes. Sowohl Form, zum Beispiel Bulletin, Bericht oder Video, als auch Bezeichnung, etwa Safety Alert, Lessons Learned, sind unternehmensspezifisch und im Idealfall gibt es einen Standard. Der Kurzbericht sollte adressatengerecht verfasst sein und folgende Aspekte enthalten:
- Was ist passiert? (Ereignisablauf)
- Wie ist es passiert? (direkte Ursache)
- Warum ist es passiert? (Grund-Ursache)
- Was wurde aus dem Unfall gelernt? (prägnante Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse)
- geplante Schutzmaßnahmen
Kommunikation
Um seinen Zweck zu erfüllen, muss der Kurzbericht alle erreichen, die aus dem Unfall lernen sollen, das bedeutet, er muss kommuniziert werden. Häufig werden Kurzberichte jedoch nur bis zur Ebene der Werks‑, Betriebs- oder Abteilungsleiter verteilt, in der Erwartung, dass diese den Kurzbericht an die operativen Führungskräfte wie Meister oder Schichtleiter weitergeben. Dies gelingt nicht immer und Kommunikationsverzögerungen sind vorprogrammiert.
Besser ist es, den Kurzbericht breit zu streuen, verschiedene Medien und Kanäle zu nutzen und herauszuarbeiten, was für welche Ebene wichtig ist. Bewährt haben sich auch formale Abläufe. So kann es beispielsweise eine Vorgabe geben, die Inhalte des Kurzberichtes in der Schichtbesprechung zu thematisieren.
Bei komplexen oder schwerwiegenden Ereignissen ist eine zusätzliche direkte Kommunikation sinnvoll. Bewährt haben sich Betriebsversammlungen oder Telefon- bzw. Videokonferenzen, damit Fragen zum Unfall direkt gestellt werden können.
Reflexion
Bei vielen Organisationen bricht der Lernprozess nach der Kommunikation ab: Mit dem Verbreiten des Kurzberichts gehen Unternehmen davon aus, dass, wenn Vorgesetzte und Mitarbeiter diesen lesen, auch ein Lernen stattgefunden hat. Das ist ein Trugschluss, denn organisationsübergreifendes Lernen beginnt erst mit der Reflexion, das heißt der Übertragung der Informationen auf den eigenen Verantwortungs- und Arbeitsbereich.
Beschäftigte müssen die Möglichkeit haben, Inhalte zu diskutieren, Ideen zu generieren und Vorschläge zu machen, sich aktiv am Verbesserungsprozess zu beteiligen. Diese Reflexion kann beispielsweise in Form von Mini-Workshops stattfinden oder in Schichtgespräche integriert werden und schult nebenher auch das Risikobewusstsein.
Umsetzen von Maßnahmen
In Folge der Reflexion gibt es neben zentralen Maßnahmen auf Organisations- oder Systemebene auch arbeitsplatz- oder teambezogene Maßnahmen als Ergebnis der Auseinandersetzung mit den verteilten Informationen. Diese Maßnahmen sollten transparent kommuniziert werden, damit auch andere daran teilhaben können. Der Prozess kann durch Preise oder Wettbewerbe für gute Lösungen unterstützt werden – das spornt an und zeigt Anerkennung.
Es kommt immer wieder vor, dass arbeitsplatzbezogene Maßnahmen direkt im Anschluss an die Analyse – ohne Beteiligung der Beschäftigten – beschlossen und dann mit dem Kurzbericht kommuniziert werden, zum Beispiel weil die Unternehmensleitung auf eine schnelle Umsetzung drängt. Für die Beschäftigten fallen diese – oft auch wenig praktikablen – Maßnahmen dann „vom Himmel“, sie können sich mit der Maßnahme „von oben“ nicht identifizieren und die Chance auf eine nachhaltige Prozess- oder Verhaltensänderung ist vertan.
Ein weiteres häufig wiederkehrendes Thema: Maßnahmen werden geplant, aber nur wenige werden umgesetzt und viele schlummern jahrelang im Maßnahmenplan und warten auf Investitionsmittel. Um zu vermeiden, dass nur an den am leichtesten umsetzbaren Maßnahmen gearbeitet wird, ist eine Priorisierung – nach ihrer Wirksamkeit bezogen auf die Risikobeherrschung, also mit Blick auf die Maßnahmenhierarchie – sowie eine strukturierte Verfolgung der SMARTen Maßnahmen notwendig.
Verhaltens- und Prozessänderung
Das Ziel des Lernens ist eine Verhaltens- und Prozessänderung in der Praxis, also eine Änderung der Art und Weise, wie Dinge getan werden. Damit die Mitarbeitenden ihr Verhalten ändern, müssen sie das Wissen über einen Unfall mit ihrer eigenen Arbeitssituation in Verbindung bringen und die Möglichkeit haben, sich aktiv mit den Informationen auseinanderzusetzen.
Um die Veränderung nach der Umsetzung der Maßnahmen nachhaltig zu gestalten, werden diese in das Managementsystem der Organisation integriert und ihre Wirksamkeit etwa in Vor-Ort-Dialogen mit den Mitarbeitenden, in Audits oder Betriebsbegehungen überprüft.
Einfluss der Sicherheitskultur
Die Effektivität des Lernprozesses ist auch geprägt von der Sicherheitskultur der Organisation: Für reifere Organisationen sind Fehlerkultur und Beteiligung der Mitarbeiter eher selbstverständlich als für Organisationen, die auf den ersten Stufen der Sicherheitskulturleiter stehen. Und: Reifere Organisationen reduzieren das Lernen nicht auf Unfälle, sondern lernen gleichermaßen aus Beinahe-Unfällen und im Tagesgeschäft geäußerten Sicherheitsbedenken.
Das liegt daran, dass die operativen Führungskräfte im Tagesgeschäft mit den Mitarbeitern über Risiken und sicheres Arbeiten kommunizieren und so deren Risikowahrnehmung schulen. Eine hohe Anzahl an Meldungen erhöht allerdings auch die Menge der zu reflektierenden Informationen und kann Organisationen dadurch an ihre Grenzen bringen. Daher empfiehlt es sich, die Informationen vor dem Verteilen auf Relevanz für die Organisation zu filtern.
Fazit
Für ein effektives Lernen aus Unfällen ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass auch das Lernen selbst ein Prozess ist, der in verschiedenen Stufen abläuft und anhand des Prozessmodells „Lernen aus Unfällen“ darstellbar ist. Ein effektiver Lernprozess entsteht durch die gezielte Behebung der spezifischen Defizite einer Organisation in diesen verschiedenen Stufen. Sind diese erkannt, können unter Berücksichtigung der Sicherheitskultur Verbesserungen umgesetzt werden, um wiederkehrende Unfälle nachhaltig zu vermeiden.
Quellen:
Energy Institute: Learning from Incidents, Accidents and Events, London: Energy Institute, 2016.
Energy Institute: Hearts & Minds. Learning from Incidents, London, 2015.