Zum Alltag der Sifa gehört es, die vielen Themen zwischen den Begriffen Prävention und Unfallanalyse zu bearbeiten. Idealerweise haben Sifas viel Zeit für Prävention und müssen wenig Zeit für Unfallanalyse aufbringen. Es ist aber belegt, dass die intensive Analyse von Unfällen und die verstärkte Betrachtung von Beinaheunfällen ein zusätzliches Potenzial für die Prävention von Arbeitsunfällen bietet [1].
Daher ist es auch für jede Sifa unerlässlich, die ganzheitliche Unfallanalyse (Root-Cause Analysis) zu kennen und zu können. Für Arbeitsunfälle in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) gibt es einen hilfreichen Leitfaden zur Ermittlung grundlegender Ursachen von Arbeitsunfällen von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin [2]. Dieser Leitfaden darf sicherlich auch bei den „Großen“ angewendet werden.
Allgemein festhalten lässt sich: Je schwerer der Unfall, desto genauer wird er in der Regel erfasst und dokumentiert. Dabei muss auch an die Unfallpyramide gedacht werden (siehe Abbildung). Sie müssen unten die Basis reduzieren, damit oben nicht so viel ankommt, also heißt es auch unten möglichst genau hinzugucken: bei den unsicheren Handlungen, Beinahe-Unfällen und den Erste-Hilfe-Fällen.
Vor jeder Auswertung beziehungsweise Unfallanalyse steht die Erfassung. Dabei ist eine der ersten Fragen: Ist der Unfall ein Arbeitsunfall? Danach: Wie und wo ist er klassifiziert? Wurde beispielsweise eine Erste-Hilfe-Leistung dokumentiert, ein Vorfall gemeldet oder ein Unfall angezeigt?
Erfassung und Auswertung
Einige Software-Anbieter werben mit Unfallanzeigen ohne Papierkram. Wer häufig Unfälle zu melden hat und digitalaffin ist, für den sind solche Anwendungen wirklich eine Hilfe. Viele KMUs haben noch nicht in dieser Tiefe die Mehrdimensionalität der Präventionskultur erkannt beziehungsweise umgesetzt.
Sie sehen noch nicht die sich wechselseitig beeinflussbaren Zusammenhänge zwischen den psychologischen, verhaltensbezogenen und strukturellen Faktoren der betrieblichen Prävention. Auch aus diesen Gründen finden sich diese Software-Lösungen auch eher in großen, mitarbeiterstarken Unternehmen als Sozialdaten-Informationssystem wieder und weniger bei den KMUs.
Viele KMUs reizen ihre Präventions- und Digitalisierungs-Potenziale im Arbeitsschutz noch nicht ausreichend aus und haben daher leider weiterhin mit Wettbewerbsnachteilen zu rechnen. [3] Die Corona-Krise hat ihnen schmerzlich gezeigt, an welchen Stellen sie im Bereich Digitalisierung noch Lücken haben. Daher förderte das Wirtschaftsministerium mit dem Programm „Digital Jetzt“ KMUs bis 31.12.2023 durch finanzielle Zuschüsse bei den digitalen Technologien sowie bei der Qualifizierung ihrer Beschäftigten [4].
Was leistet die Arbeitsschutz-Software?
- Dokumentation und Verwaltung von Betriebsunfällen und Übermittlung an die zuständigen Stellen
- Gezielte Suche nach Unfallanzeigen
- Integration in das jeweilige Employee Self Service
- Digitale Übermittlung aus dem System direkt an die Berufsgenossenschaft
- Auswertungen von Arbeitsunfällen
- Steuerung von Zuständigkeiten bei Arbeitsunfällen
Sinnvollerweise wird die Anschaffung eines Sozialdaten-Informationssystem oder einer Personalsoftware idealerweise im Vorfeld zusammen mit dem Personalbereich abgestimmt.
Einbindung des Sibe
Das Ziel von Prävention ist das Verhindern von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu minimieren. Wer weiß, wann und wo Gefahren entstehen, der kann rechtzeitig handeln. Dabei ist es essenziell, den Sicherheitsbeauftragten (Sibe) miteinzubinden. Ein zusätzliches Paar Augen und Hände kann nur unterstützen. So kann man beispielsweise als Werkzeug einen Sibe-Meldebogen nutzen, der sich in vielen Betrieben für Sicherheitsbeauftragte etabliert hat [5].
Stellen Sicherheitsbeauftragte fest, dass eine betriebliche Einrichtung ohne notwendiges Schutzniveau ist, Schutzvorrichtungen fehlerhaft sind oder Mängel aufweisen, sollte diese Beobachtung idealerweise zeitnah und eindeutig, am besten schriftlich an den Vorgesetzten und je nach Arbeitsschutzprozess an die SiFa bekannt gegeben werden. Genauso sieht es mit Ideen/Vorschlägen rund um die Verbesserung der Sicherheitskultur aus.
Die Erfahrungen der Sicherheitsbeauftragten aus der betrieblichen Praxis sind wertvolle Quellen für eine Erhöhung der Sicherheitskultur und müssen ans Tageslicht gefördert werden.
Dafür lassen sich die schon bekannten und geschulten 5 Ws aus der Ersten Hilfe nutzen:
- Wo
- Wer
- Was
- Wie
- Warten auf Rückmeldung
HSSE-Meldebogen
Statt eines Meldebogens, wie von den Berufsgenossenschaften und der DGUV vorgeschlagen, könnte es „HSSE-Mitteilung“ heißen. HSSE steht für Health, Safety, Security & Environment und meint betriebliche Prozesse, die Gesundheit, Arbeitsschutz, Sicherheit und Umweltschutz sicherstellen sollen. Die Besonderheiten sind dabei Kommunikationsfeedback beziehungsweise eine Rückmeldungsschleife und die mögliche Verwendung auch für die Aspekte Security und Environment.
Ziel ist es dabei, die interne Kommunikation zwischen den Beteiligten (zum Beispiel Vorgesetzte, Sibe und Sifa und andere) zu verbessern und vor allem zu vereinfachen. Dieser Bogen lässt sich auch leicht an alle Mitarbeitenden kommunizieren und mit etwas Geschick lässt sich das Thema Beinahe-Unfälle auch gleich mit einbinden. Aktuell oft noch als Papierlösung zu finden, ist es nicht schwer, eine passende Smartphone-Applikation zu finden oder eigenständig daraus programmieren zu lassen.
Beinahe-Unfälle
Wie zuvor erwähnt, ist es gut und richtig, Beinahe-Unfälle zu melden und zu erfassen. Damit lässt sich eine Einbindung und Mitwirkung aller Mitarbeiter erreichen. Allerdings muss dann auch eine Handlung erfolgen – sonst verpufft die Maßnahme. Erfolgreich wird diese erst, wenn im Detail ausgewertet wird und personelle und zeitliche Kapazitäten für eine aktive Nachverfolgung und Feedback gegeben sind, sonst wird nur Papier erzeugt und das Instrument verliert an Bedeutung.
Wie sonst könnten Sicherheitsfachmänner und ‑frauen erfahren, welche Beinahe-Ereignisse zu einem sehr schweren oder tödlichen Unfall geführt hätten? Nur – wie wird die Qualität einer solchen Beinahe-Meldung wahrgenommen? Nur als „In der Fertigung stand schon wieder eine Leiter rum“?
Qualität über Quantität sorgt dafür, dass Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden können. Wer hier Quantität priorisiert, verbrennt oft unnötig Energie, Zeit, Nerven und Geld. Die Kennzahl „Anzahl von Beinahe-Unfallmeldungen pro Jahr“ hat wenig Wirkung, denn sagt sie wirklich etwas aus? Sind viele gemeldete Beinahe-Unfälle ein gutes Zeichen oder sind wenige Meldungen besser?
Werden diese jedoch ins Verhältnis zu den realen Unfällen gesetzt, ist die Aussagekraft größer. Am besten noch in Korrelation zu der Anzahl der gemeldeten Beinahe-Ereignisse, die zu einem sehr schweren oder tödlichen Unfall hätten führen können, je Mitarbeiteranzahl oder geleisteten Arbeitsstunden.
HSSE-Zahlen – KPIs im Arbeitsschutz
Wie bei allen anderen Geschäftsvorgängen in einem Betrieb werden auch beim Arbeitsschutz Daten zum Nachweis der Leistung gesammelt und ausgewertet. Daraus werden je nach Auswahl verlässliche Schlüsselkennzahlen KPI (Key Performance Indicator = Schlüsselkennzahlen) genutzt [6].
Mit Kennzahlen lassen sich
- Betriebliche Vorgänge messen
- Komplexe betriebliche Sachverhalte beurteilen und einfach zutreffend darlegen
- Gradmesser für die Zukunft festhalten
- Kritische Erfolgsfaktoren festmachen
- Sachverhalte messen beziehungsweise beurteilen
KPIs sind oder sollten integraler Bestandteil der Arbeit eines jeden HSSE/OSH-Managers sein. Der KVP (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess) in einem erfolgreichen Sicherheitsmanagementsystem mit seinen Gesundheits- und Sicherheitsstandards sowie Sicherheitsverfahren kann nur dann funktionieren, wenn man die Aktionspunkte kennt. KPI – wenn auch gerne spöttisch als „Kein-Plan-Indikator“ bezeichnet – bilden richtig genutzt eine wertvolle Chance zur Verbesserung.
Kennzahlen ersetzen keine Menschen, die aktiv werden, aber je nach Einsatz können diese Daten zur Kontrolle und Steuerung gut eingesetzt werden: zum Beispiel Kennzahlen, die die derzeitige Situation beziehungsweise die Vergangenheit beschreiben, oder Kennzahlen, die als Steuerungsgrößen für die zukünftige Entwicklung dienen. KPIs werden häufig mit der SMART-Methode bestimmt, um sie effektiv und gut nutzen zu können. Oft wird dann von charakteristischen Eigenschaften der KPIs gesprochen. Sie sollten Spezifisch, Messbar, Ausführbar (erreichbar/umsetzbar), Relevant/realistisch und Terminiert (fristgerecht/zeitgebunden) sein. Dabei nicht vergessen: Kennzahlen, die nicht eindeutig definiert sind und Spielraum für Interpretationen lassen, sind meist sinnlos.
Welche Kennzahlen wählen?
Die Kennzahlen müssen das Unternehmen und seine Besonderheiten widerspiegeln. Ziel ist eine persönliche Balance Scorecard im Arbeitsschutz oder HSSE. Wie so oft im Leben, ist die Mischung aus zwei Kennzahlenarten (Lagging Indicators und Leading Indicators in Form von Früh- und Spätindikatoren) oft die beste Lösung.
Mit folgenden Fragen kann der Start in die Kennzahlen-Findung erleichtert werden. Auch hier spielt der PDCA-Zyklus aus dem Ablauf der Gefährdungsbeurteilung eine Rolle.
- Was ist unser Ziel? Welchen dauerhaften Abgleich von Ist und Soll möchten wir sichtbar machen?
- Warum ist uns das wichtig?
- Wie überprüfen/messen wir Fortschritte/Abweichungen auf dem Weg zum Ziel?
- Wie können wir dieses Ergebnis beeinflussen?
- Wer trägt die Verantwortung für das Ergebnis?
- Wie und woran stellen wir fest beziehungsweise sicher, dass dieses Ziel erreicht ist?
Insbesondere die letzte Frage geht mit der immer wieder gestellten betrieblichen Frage einher: „Wie und womit finden Überprüfungen der Wirksamkeit der im Betrieb festgelegten Arbeitsschutzmaßnahmen statt?“. Dafür muss niemand das Rad neu erfinden. Hilfreich sind Benchmark-Vergleiche aus der eigenen Branche. Welche Zahlen kommen dort vor, welche werden empfohlen? So zum Beispiel Kennzahlen Chemische Industrie, „Leitfaden zur Erfassung von Performance-Indikatoren für die Anlagensicherheit“ oder „Kennzahlen im Arbeitsschutz“ – beides vom VCI (Verband der Chemischen Industrie e. V.).
Um die Möglichkeit globaler Vergleichbarkeit bei internationalen Konzernen zu sichern, kann es hilfreich sein, Kennzahlen zu verwenden, die bereits als Standards verbreitet sind und die über ihren globalen Erfahrungszeitraum/Anwendungszeit wenig Interpretation beziehungsweise Änderungen erfahren haben.
Als generell anerkannte Kennzahlen im Arbeitsschutz gelten die verschiedenen Formen der Unfallstatistik wie zum Beispiel die global gebräuchliche Kennzahl LTIR (Loss Time Injury Rate oder Lost Time Incident Rate), bekannt als Maß für die Unfallhäufigkeit. Allgemein definiert als Anzahl von Arbeitsunfällen mit mindestens einem Tag Ausfallzeit bezogen auf die geleisteten Arbeitsstunden, festsetzt auf 1 Mio. Arbeitsstunden.
Alle Mitarbeitenden sollten verstehen, wie sie die sichtbaren und gut kommunizierten KPIs beeinflussen können und was ihr Beitrag zum gesetzten Unternehmensziel ist. Daher immer kritisch fragen: Wie gut ist die Datenerfassung und wie gut ist die Maßnahmenumsetzung? Analog zur Gefährdungsbeurteilung müssen auch die Kennzahlen regelmäßig auf den Prüfstand.
Wenn Schlüsselkennzeichen nicht zur Vorlage dienen sollen, geht es auch einfacher: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) veröffentlicht „Arbeitswelt im Wandel – Zahlen, Daten und Fakten“ oder die DGUV jährlich ihre Statistik zum Arbeitsunfallgeschehen [7].
Es ist möglich, die DGUV-Unfallzahlen mit den betrieblichen Erfahrungen abzugleichen oder zu kombinieren und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen: Was und wo verletzten sich unsere Mitarbeiter am häufigsten? So gibt die Statistik des Arbeitsunfallgeschehens 2022 der DGUV Auskunft über die verletzten Körperteile (Tabelle 29) wie auch über Absturz-Orte und vieles mehr.
Daraus leiten sich Impulse ab: Nach Tabelle 39 passieren mehr als die Hälfte aller Absturzunfälle in der Höhe auf Treppen und Dächern. Impuls: Wann war die letzte Leiterunterweisung? Wie steht es mit den Dachsicherungen und Sekuranten?
Weitere Erkenntnis: Erfahrene Mitarbeitende verunfallen häufiger (Tabelle 17). Impuls: Kollegen und Kolleginnen im Rahmen der Jahresunterweisung auf diese Besonderheit aufmerksam machen.
KI in der Verkehrsunfall-Prävention
Das Projekt Künstliche Intelligenz für die Verkehrssicherheitsarbeit KI4Safety hat es vorgemacht und lässt sich für die Verkehrssicherheit im Betrieb anpassen. Die Forschenden haben untersucht, wie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) dazu beitragen kann, die Unfallzahlen zu reduzieren. Ausgangspunkt war eine Software, die mittels KI Luftbilder auswerten und Unfallzahlen schätzen konnte. Als Grundlage dienten Bilddaten aus der Luft von Verkehrswegen. Als Ergebnis hat das System sicherheitsrelevante Infrastrukturmerkmale und Muster automatisiert erkannt.
Dabei zeigen Beispiele aus dem Maßnahmenkatalog gegen Unfallhäufungen deutlich, dass durch die Anwendung von KI auf Big Data viele Einblicke gewonnen werden können. Die bisherigen Verkehrssicherheitsuntersuchungen konnten dies bisher nur mit sehr großem personellem und finanziellem Aufwand beziehungsweise waren gar nicht in der Lage, Daten zu liefern. Das System bietet Ansätze zur Unterstützung der praktischen Verkehrssicherheits- und Planungsarbeit [8].
In der Praxis wird es immer schwieriger, Zahlen von innerbetrieblichen Verkehrsunfällen zu senken. Auf großen Industriegeländen oder auf unübersichtlichen Großbaustellen ist das eine Herausforderung. Das zeigen auch die Zahlen aus den Statistiken der letzten Jahre (Tabelle 54). Es lässt sich schlussfolgern, es müssen neue Ansätze her. In der Literatur über Verkehrswege heißt es: „Die sichere Gestaltung von Verkehrswegen ist in der Arbeitsstättenregel ASR A1.8 „Verkehrswege“ geregelt. Damit im späteren Betrieb von Verkehrswegen keine Gefährdungen für Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten ausgehen, ist bereits bei der Planung von Verkehrswegen die Art des Betriebes zu berücksichtigen.“
So könnte man eine Drohne die betrieblichen Verkehrswege erfassen lassen und KI die Bilder auswerten lassen. Daraus ließen sich Ansätze zur Unterstützung der betrieblichen Verkehrssicherheit und in der Gestaltungsarbeit von Verkehrswegen generieren. Im Fokus müssen dabei – wie auch im Projekt ersichtlich – die Daten und Fakten aus der betrieblichen Verkehrssicherheitspraxis in Zusammenarbeit mit den Erfahrungen den betrieblichen Akteuren des Arbeitsschutzes stehen.
Quellen:
[1] siehe Freudemann/Weber, „Die strukturierte Unfallanalyse“, SI 11/21.
[2] Ermittlung grundlegender Ursachen von Arbeitsunfällen in kleinen und mittleren Unternehmen“, https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/F2287–2.html
[3] KMU und Präventionskultur, https://www.dguv.de/medien/inhalt/praevention/visionzero/kulturderpraevention/pasig.pdf
[4] Programm „Digital Jetzt“, https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/digital-jetzt.html
[5] DGUV Information 211–042 „Sicherheitsbeauftragte“, S. 31, Abb. 20.
[6] Kennzahlen in der betrieblichen Praxis. Haufe-Fachbuch, 2014.
[7] DGUV Arbeitsunfallgeschehen 2022, https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/4759.
[8] Künstliche Intelligenz für die Verkehrssicherheitsarbeit – KI4Safety https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Artikel/DG/mfund-projekte/kiforsafety.html.