Deutsche Arbeitskräfte nehmen Gesundheit und Wohlbefinden ernst, und die Arbeitsumgebungen müssen dies reflektieren“, besagt die renommierte Gensler-Studie zur deutschen Arbeitswelt von 2019. Fast die Hälfte der Beschäftigten, nämlich 47 Prozent der Befragten, stuften schon damals Gesundheit und Wohlbefinden als die wichtigsten Merkmale für eine gute Arbeitsplatzumgebung ein.
„Angestellte in Deutschland benötigen eine Arbeitsumgebung mit Fokus auf mehr Wohlbefinden“, lautet folgerichtig die Forderung der Wissenschaftler.
Diese Aussage ist unbestritten. Aber wenn wir ehrlich sind: Nachhaltige Gesundheit und kurzfristiges Wohlbefinden stehen leider manchmal im Widerspruch zueinander.
Schwerwiegende Folgen
Das zeigt sich insbesondere bei einer Körperhaltung, die Beschäftigte in Büros fast den ganzen Tag und auch die meisten anderen Menschen oft bevorzugt einnehmen: dem Sitzen. Denn zahlreiche medizinische Studien weisen eine klare Kausalität zwischen dem sitzenden, bewegungsarmen Lebensstil und zahlreichen körperlichen Schädigungen nach. Diese reichen von der Volkskrankheit „Rücken“ über Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zum metabolischen Syndrom und dessen schwerwiegenden Folgen.
Sitzen bedeutet weitestgehend körperliche Inaktivität. Sie wird oft als Komfort empfunden, zum Beispiel im Fernsehsessel, oder gar nicht als solche wahrgenommen – etwa während der Autofahrt. Körperliche Inaktivität über weite Teile des Tages lasse sich allerdings nicht einfach durch Fitnessprogramme kompensieren, bemerkt Dr. Birgit Sperlich von der Universität Würzburg. Deshalb ist es so wichtig, das Sitzen durch Aktivität und Bewegung zu ergänzen oder zu ersetzen, um den Stoffwechsel wieder anzukurbeln.
Sitzen durch Bewegung ersetzen
Die Studie „Device-measured physical activity, sedentary behaviour and cardiometabolic health and fitness across occupational groups: a systematic review and metaanalysis“ von Stephanie A. Prince et al. (2019) bestätigt das: Die Wissenschaftler fanden heraus, dass Bürobeschäftigte die längsten Sitzzeiten im Vergleich zu anderen Berufsgruppen verzeichnen. Obwohl sie in ihrer Freizeit am körperlich aktivsten seien, „verbleibt bei Bürobeschäftigten ein Gesundheitsrisiko aufgrund ihrer langen Sitzzeiten“.
Erhöhtes Mortalitätsrisiko
Bereits 2016 hatten Ulf Ekelund et al. in ihrer Metastudie „Does physical activity attenuate, or even eliminate, the detrimental association of sitting time with mortality? A harmonised meta-analysis of data from more than 1 million men and women“ einen Zusammenhang zwischen langen Sitzzeiten und niedrigerer körperlicher Aktivität für das allgemeine Mortalitätsrisiko festgestellt.
„Diese Analysen indizieren“, so formulieren es die Autoren, „(…) dass ein hoher Grad an physischer Aktivität, also 60 bis 75 Minuten moderater Intensität am Tag, die gesteigerte Mortalitätsrate durch lange Sitzzeiten eliminieren kann.“
Und darüber hinaus: „Das erhöhte Mortalitätsrisiko (58 %) für diejenigen, die länger als acht Stunden am Tag sitzen und gleichzeitig am wenigstens aktiv sind, gleicht dem Mortalitätsrisiko des Rauchens und der Fettleibigkeit.“ Aus dieser Erkenntnis leitete sich das inzwischen zur Phrase gewordene Bonmot ab, Sitzen sei das neue Rauchen.
Schutz vor Rückenbeschwerden
Und dann ist da auch noch der „Rücken“. Kaum ein Teil des Körpers sorgt bei so vielen Menschen für Beschwerden, obwohl der Rücken im Grunde in puncto Bauplan und Funktionsumfang beeindruckend ist. Tatsächlich sind auch in über 80 Prozent der Fälle nicht Veränderungen der Struktur, wie etwa Entzündungen oder Bandscheibenschäden, für Rückenschmerzen verantwortlich, sondern Störungen der Funktion des Rückens durch Fehlbelastungen, Bewegungsarmut oder auch Stress, Sorgen und Ängste.
Ein von Bewegung geprägter Lebensstil und eine gesunde Stabilität in körperlicher und psychischer Hinsicht sind der beste Schutz vor Beschwerden.
Doch zum besseren Verständnis lohnt ein genauerer Blick auf den Rücken: Die Wirbelsäule ist zentrales Element und tragende Säule – nicht nur des Stütz- und Bewegungsapparats, sondern des gesamten Körpers. Sie sorgt gleichzeitig für Beweglichkeit, Stabilität, Stoßdämpfung, den geschützten Verlauf lebenswichtiger Leitungsbahnen und die sichere Position von Organen.
Dazu besteht sie aus sieben Hals‑, zwölf Brust‑, fünf Lendenwirbeln sowie dem Kreuz- und dem Steißbein. Die Wirbel sind durch Gelenke verbunden. Eine Besonderheit stellt das oberste Wirbelgelenk dar, das komplett anders konstruiert ist, um für die große Beweglichkeit des Kopfes zu sorgen.
Die übrigen Wirbel sehen sich dann durchaus ähnlich: Die Verbindung zwischen zwei Wirbeln erlaubt jeweils nur einen kleinen Bewegungsumfang. Die hohe Beweglichkeit der Wirbelsäule resultiert vielmehr aus der Summe der vielen Wirbelgelenke.
Bewegliche Wirbelsäule trainierbar
Der Umfang der Wirbelsäulenbeweglichkeit ist dabei sehr stark trainingsabhängig. Die Wirbel bilden in ihrer Gesamtheit eine Doppel-S-Form, was neben den elastischen Bandscheiben als Federung und Dämpfung für Stöße in der Längsachse wirkt.
Neben den Gelenken zwischen den Wirbelkörpern sorgt eine Vielzahl von Muskeln, Bändern und Sehnen für die Stabilität, aber auch die Beweglichkeit der Wirbelsäule. Sehr kleine Muskeln und Bänder zwischen benachbarten Wirbelknochen und Stützmuskeln entlang der gesamten Wirbelsäule sind besonders wichtig für einen stabilen und beweglichen, gesunden Rücken. Sie sorgen für die richtige Führung und Stellung der Wirbelkörper zueinander.
Dieser Bereich ist damit auch bedeutsam für Funktionsstörungen, aus denen Rückenbeschwerden entstehen können. Auch die größeren, darüberliegenden und von außen sichtbaren Muskelgruppen sind für die Haltung und Beweglichkeit der Wirbelsäule wichtig, vor allem aber sind sie für die Ausübung großräumiger Bewegungen des Rumpfs zuständig.
Anpassungsfähiges System
Die Bandscheiben hatten lange den Ruf, ein besonders kritischer Bestandteil der Wirbelsäule zu sein, und wurden gern für Rückenprobleme und ‑schmerzen verantwortlich gemacht. Tatsächlich sind aber auch im mittleren Lebensalter oft schon ausgeprägte Bandscheibenveränderungen nachweisbar, ohne dass bei dem Betroffenen Beschwerden oder Funktionseinschränkungen bestehen.
Auch wenn der akute Bandscheibenvorfall natürlich die klassischen Beschwerden verursachen kann, hat sich mittlerweile das Verständnis von Rückenschmerzen deutlich verändert. Die Wirbelsäule ist eben nicht das mechanische Bauteil, das immer weiter verschleißt und dadurch immer stärkere Beschwerden verursacht.
Sie stellt vielmehr ein anpassungsfähiges biologisches System dar, das durch Benutzung, auch bei altersbedingten Veränderungen, seine Funktionsfähigkeit behält. Demzufolge ist Schonung bei Rückenbeschwerden in der Regel die falsche Maßnahme. Es sind vielmehr Aktivierung und Bewegung angezeigt – anfangs nur so gut es eben geht.
Und auf lange Sicht sind die regelmäßige, angemessene Belastung des Rückens mit Ruhe- und Entlastungsphasen und eine positive Haltung die besten Voraussetzungen für einen gesunden Rücken. Der Bewegungsapparat ist in der Tat für Bewegung gemacht. Er braucht Belastung als Training und eine gute Balance, um seine tragende Rolle klaglos zu erfüllen. In der Arbeitsergonomie wird der Schutz vor physiologischer Unterforderung teilweise als ebenso wichtig angesehen wie der Schutz vor Überlastung.
Allerdings wurde auch die Büroergonomie – analog zu den industriellen Prozessen – seit über 100 Jahren auf physiologische Belastungsreduktion ausgelegt: Die bis heute propagierte „Cockpit-Organisation“ mit optimierten Greifräumen und Bürostühlen, die mit vielen Einstellmöglichkeiten perfekt an unterschiedliche Körpergrößen und Formen angepasst werden, spiegeln den Zeitgeist des 20. Jahrhunderts wider. Jahrzehntelang galt daher die aufrechte, gestützte und somit fixierte Haltung als gesündeste.
Seit den 1980er Jahren sickerten mit der Idee des „dynamischen Sitzens“ neuere medizinische Erkenntnisse zu den wesentlichen Grundlagen der Funktionsweise des Bewegungsapparats, der Entstehung von Rückenschmerzen und der Stoffwechselprozesse in die Ergonomie ein. „Die richtige Sitzhaltung ist immer die nächste“, heißt es seitdem. Es bleibt allerdings beim Sitzen.
Heute wird im Büro immer noch überwiegend gesessen, und zwar immer länger. Gleichwohl hat sich mit dem medizinischen Fortschritt die Lebenszeit erhöht – und damit die Lebensarbeitszeit verlängert. Büroarbeitswelten müssen daher auf die nachhaltige Förderung der Bewegung ausgerichtet werden, um den Krankheitsrisiken durch inaktives Sitzen mit seinen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten und die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens vorzubeugen.
Bewegungsanreize schaffen
Diese konsequente Ausrichtung umfasst verhältnis- und verhaltenspräventive Maßnahmen in gleicher Form. Denn ebenso wie die Rahmenbedingungen für eine bewegungsfördernde Büroumgebung geschaffen werden müssen, sollten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befähigt und animiert werden, diese zu nutzen.
Verhältnispräventive Maßnahmen zur Bewegungsförderung im Büro könnten beispielsweise sein:
- Aktives, bewegendes Sitzen
- Sitz-Steh-Tische an allen klassischen Arbeitsplätzen
- Zentrale Service-Einheiten (Drucker, Unterlagen etc.)
- Integration von intuitiven Bewegungsangeboten
Und natürlich ein ganzheitliches Konzept zur Bewegungsförderung, das die genannten Maßnahmen verbindet – auch mit Maßnahmen aus der Verhaltensprävention und der klassischen Gesundheitsförderung – und damit multipliziert.
Lesetipp
Der obige Text stammt in leicht veränderter Form aus der Broschüre „Bewegungsförderung im Büro“, die das Deutsche Netzwerk Büro e.V. vor einiger Zeit veröffentlicht hat. Die Broschüre gibt es als kostenlosen Download unter
www.dnb-netz.de/informationen/publikationen