Arbeitsschutz geschlechtergerecht zu betrachten ist menschengerecht. In der Regel werden im Arbeitsschutz biologische Unterschiede der Geschlechter, soweit sie sich im Regelwerk wiederfinden, berücksichtigt. Auswirkungen auf die Beschäftigungsgesundheit aufgrund gesellschaftlich zugeschriebener Geschlechterrollen werden aber meist vernachlässigt. Das betrifft uns dann alle.
Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) hat zum Ziel, Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen durch geeignete Schutzmaßnahmen zu sichern und zu verbessern. Die Arbeitsschutzmaßnahmen sollen dabei menschengerecht gestaltet sein. An dieser Stelle soll ergänzt werden, dass damit eigentlich nicht „manngerecht“ gemeint sein kann.
Das Gesetz ist geschlechterneutral, nicht geschlechtergerecht angelegt. Das heißt, Schutzmaßnahmen dürfen im Sinne der Gesetzgebung nur aus rein biologischen Gründen geschlechterspezifisch gestaltet werden. Zwischen Frauen und Männern gibt es jedoch Unterschiede, die nicht nur biologisch (geschlechtsspezifisch) begründet sind.
Diese Unterschiede resultieren aus den traditionellen Rollen, welche ihnen die Gesellschaft zuschreibt. Diese Rollenzuschreibungen haben Auswirkungen auf die Art und Weise, wie sie ihre Arbeit verrichten und wie ihre Arbeitsbedingungen in Bezug auf Gefährdungen und Belastungen beurteilt werden.
Geschlechterspezifische Beurteilung
Werden unter diesen Voraussetzungen Schutzmaßnahmen getroffen, die diese Unterschiede nicht berücksichtigen, ist es fraglich, ob sie die gewünschte Wirkung überhaupt erzielen. Das wiederum widerspricht den Zielen des § 3 ArbSchG.
Will man den darin geforderten Schutzzielen gerecht werden, dann muss bei den Beurteilungen der Arbeitsbedingungen nach Geschlechtern differenziert werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine getroffene Maßnahme entweder Frauen oder Männer oder diverse Menschen nicht ausreichend gegen eine Gefährdung schützt.
Typisch Mann – typisch Frau?
Noch immer hängt die Berufsauswahl von Frauen und Männern sehr stark davon ab, wie sie die gesellschaftlichen Erwartungen an ihre Geschlechterrollen ausfüllen. Weil „sich kümmern“ eine gesellschaftliche Zuschreibung an Frauen ist, arbeiten diese überwiegend in Berufen des Gesundheitswesens, der Lehre und Erziehung sowie in der Dienstleistungsbranche mit Kundenkontakt.
Berufe, in denen überwiegend Männer arbeiten, werden dagegen häufig mit Kraft, Ausdauer und Bewältigung von Gefahrensituationen assoziiert. So müssen in vielen typischen Männerberufen – zum Beispiel Verkehr- und Lagerberufe oder die Paketzustellung – schwere Lasten bewegt werden. Das trifft aber auch auf die Pflegeberufe zu, in denen allerdings mehrheitlich Frauen arbeiten.
Das Transportieren von schweren Paketen oder der Transfer von Patienten stellt für die Beschäftigten eine hohe physische Belastung dar. Frauen und Männer werden dadurch aber meist unterschiedlich beansprucht. In der Regel können Frauen deutlich weniger Lastgewichte bewegen als Männer.
Das zeigen die Ergebnisse im Forschungsbericht der MEGPHYS-Studie von 2019 [1]. Aufgrund der biologischen Unterschiede führen gleiche physische Belastungen in den meisten Belastungsarten bei Frauen statistisch zu höherer Beanspruchung. Aber grundsätzlich gilt, dass Faktoren wie körperliche Konstitution oder Gesundheitszustand für jeden Einzelnen individuell Einfluss auf die tatsächliche Beanspruchung haben.
Das Arbeiten am Patientenbett zum Beispiel erfordert viele Bewegungsabläufe mit Kraftaufwand und unter Einnahme von Zwangshaltungen. Dasselbe gilt für den Transfer von Patienten von Bett auf OP-Liege, vom Stuhl ins Bett, beim Toilettengang. Allein das Schieben eines belegten Bettes kann zur körperlichen Herausforderung werden.
Pflegerinnen und Pflegern stehen eher selten Hilfsmittel zum Transfer von Patienten zur Verfügung oder sie werden häufig aus Zeitgründen nicht genutzt. Sind Pfleger im Team, übernehmen diese dann häufig die physisch belastenden Tätigkeiten. Damit erfüllen sie die ihnen zugeschriebene Rolle des „starken Mannes“ ungeachtet dessen, dass dies auf Dauer auch für sie zu einer erhöhten Beanspruchung führen kann.
Ähnliches gilt auch für typische Männerberufe, von denen viele immer noch von physisch schwerer Arbeit geprägt sind. In diesen Berufen sind heutzutage meist technische Hilfsmittel zur Handhabung schwerer Lasten auf dem Markt und im Einsatz.
Dennoch fällt es vielen Männern schwer, sich einzugestehen, dass es auf Dauer gesundheitsschädlich sein kann, diese Hilfsmittel nicht zu benutzen. Beratungsanlässe von Beschäftigten legen nahe, dass Arbeitgeber weniger bereit sind, Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, wenn die Belegschaft überwiegend aus Männern besteht.
Im Laufe des Erwerbslebens kann eine erhöhte physische Beanspruchung zu vermeidbaren Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) führen. MSE haben mit 23 % den größten Anteil am Krankenstand. Bei den Männern liegt der Anteil sogar bei 25 %.
Auch das Alter spielt beim Krankheitsgeschehen eine Rolle. So sind Männer zwischen 50 und 64 Jahren mit 173,7 Arbeitsunfähigkeitstagen (AU je 100 Versicherungsjahre) deutlich länger krankgemeldet als diejenigen zwischen 30 und 49 Jahren mit 99,4 AU-Tagen (s. Grafik).
Bei den Frauen ist der Anteil von MSE an den Krankschreibungen mit 21 % zwar geringer, dennoch nicht zu unterschätzen [2]. Häufigste Einzeldiagnose sind Rückenprobleme. Diese können in den Pflege- und Erziehungsberufen auf die häufig unzureichenden ergonomischen Bedingungen zurückgeführt werden [3].
Private und berufliche Stressoren
Besonders berufstätige Frauen sind vielfältig beansprucht. Nach wie vor leisten sie den Großteil der Familienarbeit. Häufig führen sie neben dem Beruf zusätzlich den Haushalt, betreuen die Kinder und pflegen Angehörige. Laut dem GenderDatenPortal des wissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung verwenden Frauen zwischen 18 und 64 Jahren 2,4‑mal so viel Zeit für unbezahlte Fürsorgearbeit und das 1,6‑fache für Hausarbeit wie Männer dieser Altersgruppe [4].
Im Erwerbsleben von Frauen spielen auch die Phasen vor und nach der Geburt eines Kindes eine Rolle. Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines (vorübergehenden) psychischen Ungleichgewichts. Vor allem alleinerziehende, alleinlebende Frauen oder Frauen mit niedrigem Einkommen und der Angst vor Altersarmut sind psychisch stark beansprucht.
Die Gesundheit von Frauen in der Erwerbsphase hängt deshalb sehr stark davon ab, wie gut Familie und Beruf ausbalanciert werden können. Anspruchsvolle Fürsorgearbeit, kombiniert mit negativen Arbeitsbedingungen, können zu psychischen Problemen führen.
In Frauenberufen stellen nicht selten hohe Arbeitsintensitäten, mangelnde Anerkennung oder Mobbing zusätzliche Gefährdungsfaktoren dar. Insbesondere in Pflege- und Erziehungsberufen ist die Arbeit durch hohe Verantwortung für Schutzbefohlene geprägt. Die tägliche Konfrontation mit Leid und Tod in den Pflegeberufen muss auch psychisch bewältigt werden.
Das sind Gründe, weshalb nach Auswertungen der DAK der Anteil krankheitsbedingter Fehltage aufgrund psychischer Diagnosen bei Frauen mit 22,5 % deutlich höher liegt als bei Männern mit 15,6 %.[5]
Zunehmend übernehmen auch Männer die sozialen Verpflichtungen zu Hause. Unter Umständen führen übertriebene Rollenklischees dazu, dass sie für ihren Einsatz, der eigentlich selbstverständlich sein sollte, von männlichen Kollegen belächelt werden oder es fehlt das Verständnis seitens der Vorgesetzten.
Bleibt die Anerkennung am Arbeitsplatz aus oder gelten, wie so häufig, Vereinbarkeitsregeln nur für Kolleginnen, so stellt das einen ernst zu nehmenden Belastungsfaktor dar. So erfahren 30 % der Väter abfällige oder negative Kommentare von Vorgesetzten, wenn sie ihre Elternzeit bekanntgeben, bei den Frauen waren es 24 % [6].
Präsentismus und Wechseljahre
Bei Frauen spielt, wie erwartet, das Alter eine weitere große Rolle. Viele Frauen werden durch die hormonelle Umstellung in den Wechseljahren in ihrem Arbeitsalltag beeinträchtigt. Sie leiden unter Stimmungsschwankungen sowie Niedergeschlagenheit, Schlafmangel und Antriebslosigkeit.
Dennoch gehen viele Frauen trotz gesundheitlicher Beschwerden zur Arbeit. Als ein Grund wird angegeben, dass sie ihren Kolleginnen und Kollegen nicht zur Last fallen wollen. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse (TK) zum Präsentismus trifft das auf 46 % der Frauen und 35 % der Männer zu [7].
Frauen in den Wechseljahren sind demnach mehreren Gefährdungsfaktoren ausgesetzt. Dadurch können sich behandlungsbedürftige Depressionen entwickeln. Bei den erwerbstätigen Frauen zwischen 50 und 64 Jahren liegt die Anzahl der AU-Tage im Schnitt für die Einzeldiagnose „Depressive Episode“ bei 183 und kommt häufiger vor als bei Frauen zwischen 30 und 49 Jahren (120).[8] Das Thema zu enttabuisieren und die Arbeitsbedingung auch dahingehend alters- und alternsgerecht zu gestalten, käme der Gesundheit erwerbstätiger Frauen zugute.
Unterschiedliche Realitäten
Die gesellschaftlichen Realitäten von Männern und Frauen müssen auch im Arbeitsschutzrecht abgebildet werden. Der geschlechtsneutrale und technikfokussierte Ansatz im Arbeitsschutzrecht begünstigt Verzerrungen bei der Ermittlung geeigneter Arbeitsschutzmaßnahmen. Diese ist häufig noch durch Geschlechterstereotype geleitet und vernachlässigt die gesellschaftlichen Realitäten. Dadurch ergeben sich Mängel bei der Sicherheit und Gesundheit insbesondere für Frauen, aber auch für Männer.
Maßnahmen zur Reduzierung von Gefährdungen in der Arbeitswelt müssen im Rahmen des Arbeitsschutzes die spezifischen Lebenslagen von Beschäftigten mitberücksichtigen. So wären auch Frauen bereits im frühen Stadium einer Schwangerschaft vor Gefährdungen geschützt.
Technisch statt geschlechtergerecht
Eine überwiegend technisch-industrielle Ausrichtung des Arbeitsschutzes kann einer geschlechtergerechten Beurteilung der Gefährdungen in den Betrieben eher im Wege stehen. Hohe Gefährdungen werden nach wie vor mit bestimmten Branchen in Verbindung gebracht.
Arbeitsplätze in der Schwerindustrie oder im Baugewerbe mit typischen Männerberufen stehen hierfür als Beispiele. Nach wie vor geschehen hier schwere Unfälle, die es zu vermeiden gilt, keine Frage. Dabei dürfen aber nicht die Gefährdungen in typischen Frauenberufen in den Hintergrund der Betrachtung geraten.
Mangelhafte ergonomische Arbeitsplatzgestaltungen und Überlastungen durch psychische Gefährdungsfaktoren sind Belastungssituationen, wie sie in typischen Frauenberufen anzutreffen sind. Diese Belastungssituationen wurden nicht zuletzt durch die Pandemie endlich auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Solche sichtbar gewordenen Defizite im Arbeitsschutz sollten der Gesetzgeberin Anlass sein, das Arbeitssicherheitsgesetz (ASIG) aus dem Jahre 1976 zu novellieren. Auch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) tut sich schwer, durch Ausweitung der Zulassungsvoraussetzungen für Fachkräfte für Arbeitssicherheit in der DGUV-Vorschrift 2 den neuen Arbeitswelten gerecht zu werden.
Schon länger stellt sich hier die Frage, ob die Ausrichtung mit Fokus auf ein Ingenieurstudium oder einen Meisterabschluss in überwiegend nicht technisch-industriellen Berufen noch zeitgemäß ist.
Das Beispiel Österreich zeigt, wie die Geschlechtergleichstellung auch bei der staatlichen Arbeitsschutzaufsicht implementiert sein kann. Die Arbeitsinspektion (als Teil des österreichischen Bundesministeriums für Arbeit) berücksichtigt bei Beratung und Kontrolle nicht nur geschlechter- sondern auch diversitygerechte Kriterien [9]. Denn diverse Menschen sind eher durch negative psychische Einflüsse wie beispielsweise Mobbing gefährdet.
Die Berücksichtigung von spezifischen Bedarfen von Frauen und Männern sowie diversen Personen kann dabei unterstützen, Arbeitsbedingungen besser einzuschätzen und Arbeitsschutzdefiziten entgegenzuwirken. So könnte der Schutz der Beschäftigten bei der Arbeit für alle wirksamer und gerechter gestaltet werden.
Quellen:
[1] BAuA-Bericht, Forschungsprojekt F 2333, MEGAPHYS, Dresden 2019
[2] DAK Gesundheitsreport 2022, S. 156
[3] Arbeitskammer des Saarlandes: Jahresbericht 2022, Kap. I.10.7, S. 267, f.
[4] WSI GenderDatenPortal: Sorgearbeit „Zeitaufwand für Fürsorgearbeit“ 2012/2013
[5] DAK Gesundheitsreport 2022, S. 156
[6] Dr. David Juncke, Sören Mohr, Johanna Nicodemus, Evelyn Stoll, Ulrich Weuthen: Diskriminierung von Erwerbstätigen mit Fürsorgeverpflichtung, Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2022
[7] Die Techniker: Präsentismus in einer zunehmend mobilen Arbeitswelt, 2022, S. 17
[8] Barmer Gesundheitsreport 2022, S. 82 und S. 95
[9] Gender und Diversity (arbeitsinspektion.gv.at); Abgerufen am 24.01.2024
Referentin für Arbeitsschutz bei der Arbeitskammer des Saarlandes
Genderaspekte im Arbeitsschutz
„Das Problem ist, dass die Welt nicht für Frauen entworfen wurde, sondern für Männer.“
Natalia Kanem, Direktorin des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA)
- Mehr als 80 Prozent der persönlichen Schutzausrüstungen sind für weibliche Beschäftigte im Gesundheitswesen nicht geeignet, da sie auf den männlichen Körperbau abgestimmt sind.
- Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall verletzt zu werden, ist für Frauen dreimal so hoch wie für Männer. Grund dafür ist, dass Sicherheitsmerkmale von Nutzfahrzeugen in der Regel auf männlichen Crashtest-Dummys beruhen.
- N ur ein Prozent der weltweiten Gesundheitsausgaben – abgesehen von der Krebsforschung – werden für frauenspezifische Gesundheitsforschung ausgegeben.
- Lediglich zwölf Prozent aller künstlichen Herzimplantate weltweit werden Frauen eingesetzt – einfach deshalb, weil sie nicht für die weibliche Brust geeignet sind.
Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) will die Gesundheit von Frauen mehr in den Fokus rücken und hat dafür die Equity 2030 Alliance ins Leben gerufen.
Gender
Die Einteilung in „Mann“ oder „Frau“ ist eine biologische Lehrbuchdefinition. Hier geht es nur um das Geschlecht, das zur Fortpflanzung erforderlich ist. Bei körperlichen Anlagen, die nicht diesen beiden Geschlechtern zugeordnet werden können, müssen wir uns fragen und anerkennen, wie sich eine Person verhält oder fühlt. Dann reden wir über Geschlechter im sozial-kulturellen Kontext, kurz: Gender.