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Neurodiversität in der Arbeitswelt

Jedes Hirn tickt anders
Neurodiversität in der Arbeitswelt

Neurodiversität in der Arbeitswelt
Foto: © Cala Serrano - stock.adobe.com
Neu­ro­di­ver­sität in der Arbeitswelt: Etwa jed­er Fün­fte gilt als neu­ro­di­ver­gent. Diese Men­schen denken, ler­nen und arbeit­en anders als die neu­rotyp­is­che Mehrheit. Doch was genau ist mit Neu­ro­di­ver­sität gemeint und was hat das mit Arbeitssicher­heit und Gesund­heitss­chutz zu tun?

Die Zukun­ft der Arbeit ist neu­ro­divers. Dies behaupten die Autoren des Buchs „Neu­ro­di­ver­si­ty at Work“. Und in der Tat scheint das The­ma in Wirtschaft und Gesellschaft Fuß zu fassen. Ver­wiesen wird häu­fig darauf, dass Autis­ten gezielt für IT-Jobs umwor­ben wür­den – aus Sicht der Betrof­fe­nen ein Klis­chee – oder dass Men­schen mit ADHS beson­ders gute Verkäufer seien.

Doch das The­ma Neu­ro­di­ver­sität ist weitaus kom­plex­er, und dies begin­nt bere­its damit, dass der Begriff je nach Fach­bere­ich und Kon­text unter­schiedlich ver­wen­det wird.

Natürliche Mannigfaltigkeit

Der Begriff Neu­ro­di­ver­sität geht auf die aus­tralis­che Sozi­olo­gin Judith Singer zurück. Er set­zt sich zusam­men aus neu­ron (griechisch: Nerv) und diver­si­tas (lateinisch: Ver­schieden­heit). Somit bezieht sich „divers“ hier nicht auf Rasse, Geschlecht oder sex­uelle Ori­en­tierung, son­dern auf die Art und Weise, wie unser Gehirn und Ner­ven­sys­tem funk­tion­ieren, das heißt, wie wir unsere Umge­bung wahrnehmen und dies verarbeiten.

Biol­o­gisch gese­hen sind wir alle neu­ro­di­ver­gent. Denn unser Gehirn beste­ht aus Mil­liar­den von Zellen, die bei keinem Indi­vidu­um genau gle­ich ver­schal­tet sind. Wie ein Fin­ger­ab­druck ist auch jedes Gehirn einzi­gar­tig. Und das ist gut so. Denn ohne Unter­schiede gäbe es keine indi­vidu­ellen Höch­stleis­tun­gen, etwa in der Kun­st oder der Wis­senschaft. Diese natür­liche Man­nig­faltigkeit wird Neu­ro­di­ver­sität genannt.

Bei den meis­ten Men­schen funk­tion­iert das Gehirn im Großen und Ganzen ähn­lich. Bei anderen sind die neu­rol­o­gis­chen Unter­schiede deut­lich­er. Das kann sich bei der Wahrnehmung zeigen, bei den Emo­tio­nen oder im sozialen Inter­agieren. Bei etwa jedem Fün­ften sind solche Abwe­ichun­gen in der Funk­tion­sweise des Gehirns von den Durch­schnittswerten so groß, dass diese Men­schen in ihrem All­t­ag auf Hin­dernisse stoßen oder als ander­sar­tig wahrgenom­men werden.

Zuordnung nicht eindeutig

Da eine ein­deutige Def­i­n­i­tion von Neu­ro­di­ver­sität fehlt, gibt es keine halb­wegs voll­ständi­ge Auflis­tung ihrer Erschei­n­ungs­for­men. Ob zum Beispiel auch psy­chis­che Erkrankun­gen, Linkshändigkeit oder hirn­verän­dernde Erfahrun­gen (Trau­ma, Dro­gen, Med­i­ta­tion) dazu gehören, darüber disku­tiert die Neu­ro­di­ver­sitäts­be­we­gung noch. Die Fach­welt ist sich jedoch einig, dass

  • Neu­ro­di­ver­sität eine biol­o­gis­che Tat­sache ist.
  • es sich bei Neu­ro­di­ver­gen­zen um (oft ange­borene) Aspek­te han­delt, die zur eige­nen Iden­tität und Per­sön­lichkeit gehören und wed­er als Defiz­it zu ver­ste­hen sind noch als Krankheit, die geheilt wer­den kön­nte oder müsste.
  • das soge­nan­nte „Nor­male“ eine sehr frag­ile Vorstel­lung darstellt, neu­rol­o­gis­che Vielfalt enorm wertvoll ist und jeden Men­schen einzi­gar­tig macht.

Leicht ver­wech­selt wer­den die Begriffe neu­ro­divers und neu­ro­di­ver­gent. Eine Gruppe von Men­schen, zum Beispiel eine Schulk­lasse, eine Belegschaft oder ein Team, deren Mit­glieder sich in ihrer neu­rokog­ni­tiv­en Ver­ar­beitung unter­schei­den, nen­nt man neu­ro­divers. Ein Einzel­ner, der anders funk­tion­iert als die ihn umgebende Mehrheit, ist neu­ro­di­ver­gent oder neuroatypisch.

Am Neu­ro­di­ver­sitäts­be­griff wird deut­lich, dass jeglichem Ein­sortieren von Men­schen in Schubladen – behin­dert, krank, gestört, beein­trächtigt, neu­roatyp­isch – stets etwas Willkür­lich­es anhaftet. Wir benöti­gen zwar Worte, um über unsere Ver­schiedenar­tigkeit­en reden zu kön­nen. Doch auch Neu­ro­di­ver­sität bleibt ein vager Hilfsbegriff.

Am Beispiel Autismus wer­den die unter­schiedlichen Betra­ch­tungsweisen deut­lich. Autis­ten fällt es schw­er­er, zu ver­ste­hen, was andere denken und fühlen. Laut Sozialge­set­zbuch gilt Autismus hierzu­lande als Behin­derung und Betrof­fene kön­nen Behin­derte­nausweise erhal­ten. Für viele Experten ist Autismus jedoch keine Behin­derung, son­dern laut den Kri­te­rien der WHO eine psy­chis­che Störung, andere sprechen von ein­er Entwicklungsstörung.

Erfolg durch Vielfalt

„Neu­ro­di­ver­sität beschreibt die Vielfalt der men­schlichen neu­rol­o­gis­chen Funk­tio­nen und Eigen­schaften“, so for­muliert es das BZND (Zen­trum für Neu­ro­di­ver­sität e.V.). Dem BZND ist die Sit­u­a­tion neu­ro­di­ver­gen­ter Men­schen in der Arbeitswelt ein zen­trales Anliegen. Jed­er soll ungeachtet sein­er Neu­ro­di­ver­sität sein Leben gesund gestal­ten und am Arbeits­markt seinen Platz mit Freude ein­nehmen kön­nen, wün­scht sich Dr. Judith Rom­mel, die Grün­derin und erste Vorsitzende.

Dies kommt auch Unternehmen zugute. Denn Neu­ro­di­ver­gente denken anders, sie brin­gen einzi­gar­tige Per­spek­tiv­en und Erfahrun­gen mit. Neu­ro­di­ver­sität fördert Kreativ­ität und Inno­va­tion, bere­ichert die Unternehmen­skul­tur und kann zum Wet­tbe­werb­svorteil werden.

Nicht ohne Grund stellen Fir­men wie SAP Autis­ten als IT-Spezial­is­ten ein. Sie haben einen Hyper­fokus und neigen weniger zu emo­tions­be­d­ingten Vor- und Fehlurteilen. Men­schen mit ADHS gel­ten als sehr kreativ und flex­i­bel und kön­nen im Beruf inno­v­a­tive Impulse set­zen. Hochsen­si­ble nehmen unter­schwellige Reize sub­til­er wahr, gel­ten als gewis­senhaft und detai­lo­ri­en­tiert. Intro­vertierte sind oft sehr ziel­stre­big und kön­nen konzen­tri­ert arbeit­en, fühlen sich jedoch in Grup­pen­si­t­u­a­tio­nen schnell über­fordert. Hochbe­gabte kön­nen super mit Kom­plex­ität umge­hen. Men­schen mit Legas­the­nie sind oft über­durch­schnit­tlich intel­li­gent, wie nicht nur Albert Ein­stein, Leonar­do da Vin­ci oder Charles Dar­win zeigen.

 

Neurodiversität in der Arbeitswelt: Für Menschen, die besser fokussiert für sich arbeiten, ist ein Großraumbüro eher unpassend
Für Men­schen, die bess­er fokussiert für sich arbeit­en, ist ein Großraum­büro eher unpassend.
Foto: © con­trast­werk­statt — stock.adobe.com

Hochspezialisierte Talente

Auch wenn der­lei Pauschal­isierun­gen zu klis­chee­haft bleiben, sind hochspezial­isierte Tal­ente bei neu­ro­di­ver­gen­ten Men­schen nicht sel­ten. Hier zeigt sich die uralte Weisheit, dass jede Stärke auch eine Schwäche bedeutet und umgekehrt.

Zwar wird dies in Film und Fernse­hen meist über­spitzt und mit schrul­li­gen Typen dargestellt (etwa in Rain Man, Monk oder Shel­don Coop­er), doch der wahre Kern lautet, dass in der richti­gen beru­flichen Nis­che jed­er neu­ro­di­ver­gente Men­sch höchst erfol­gre­ich sein kann, wie zum Beispiel Mozart, Andy Warhol oder die „Kuh-Flüs­terin“ Tem­ple Grandin zeigen.

Arbeit­spsy­cholo­gen wun­dert dies nicht. Denn wer von klein auf im All­t­ag mit Widrigkeit­en zu kämpfen hat, wird auch an seinem Arbeit­splatz neue, kreative und inno­v­a­tive Denkan­sätze einbringen.

Sicherheitsbeauftragte als Sensoren

Für Men­schen mit ein­er Kör­per­be­hin­derung, mit kog­ni­tiv­en Ein­schränkun­gen oder psy­chis­chen Erkrankun­gen ken­nen wir Vorschriften, tech­nis­che Hil­f­s­mit­tel oder Konzepte wie Leichte Sprache. Doch Neu­ro­di­ver­gente scheinen durchs Raster zu fall­en, sie kom­men im Arbeitss­chutzrecht so gut wie nicht vor.

Bei Inklu­sion denken wir an Roll­stuhlfahrende oder Sehbe­hin­derte, an Ram­p­en statt Trep­pen und das Zwei-Sinne-Prinzip. Doch vor dem Hin­ter­grund von Neu­ro­di­ver­sität wird deut­lich, dass bar­ri­ere­frei weit mehr bedeutet als rollstuhlgerecht.

Hier sind Sicher­heits­beauf­tragte gefragt als Sen­soren, die im Arbeit­sall­t­ag – und viel eher als Führungskräfte oder Per­son­alchefs – mit­bekom­men, wo jemand nicht zu seinem Arbeit­splatz passt. Wer aufmerk­sam und mit der gebote­nen Sen­si­bil­ität sein Umfeld wahrn­immt, wird Ander­sar­tigkeit nicht verurteilen, son­dern um Ver­ständ­nis werben.

Denn der Kol­lege, der etwas langsamer arbeit­et, ist vielle­icht umso gründlich­er. Oder die Kol­le­gin, bei der es an Pünk­tlichkeit oder Konzen­tra­tion zu hapern scheint, kann das Team durch unkon­ven­tionelle Ideen bereichern.

Das soll­ten auch Aus­bilder beherzi­gen und Men­schen nicht vorschnell aburteilen. Der Zap­pel­philipp, dem öfters das Werkzeug aus der Hand fällt, stellt sich nicht dumm an, son­dern kön­nte schlichtweg reizüber­flutet sein. Der herumkaspernde Quatschmach­er ist vielle­icht unter­fordert, der Stille nicht automa­tisch arro­gant, son­dern introvertiert.

Einfluss auf Gefährdungsbeurteilung

Dass Neu­ro­di­ver­sität sicher­heit­srel­e­vant sein kann, wird spätestens in Not­fall­si­t­u­a­tio­nen deut­lich. Es gibt dazu zwar kaum konkrete Vor­gaben, doch wer Gefährdungs­beurteilun­gen, Alarm­pläne oder Evakuierungsübun­gen gewis­senhaft ange­ht, wird auch die Neu­ro­di­ver­sität der Belegschaft als Fak­tor einbringen.

Auch bei Stre­it oder Mob­bing ist jed­er gut berat­en, zu hin­ter­fra­gen, inwiefern Neu­ro­di­ver­genz, das heißt ein unter­schiedlich­es Wahrnehmen und Inter­pretieren, ursäch­lich für Missver­ständ­nisse und Verärgerun­gen sein kön­nte. Eine solche Acht­samkeit für neu­rokog­ni­tive Vielfalt wird mit­tel­fristig nicht nur dem Betrieb­skli­ma gut­tun. Sie schafft beste Voraus­set­zun­gen für einen entspan­nten und erfül­len­den Arbeit­sall­t­ag – für Neu­ro­di­ver­gente wie für Neurotypische.

Ansatzpunkt Kommunikation

Wir sind im Arbeitss­chutz gewohnt, pauschale Regeln aufzustellen oder gar Check­lis­ten abzuar­beit­en. Für den Umgang mit Neu­ro­di­ver­genz wäre dies ein Wider­spruch in sich. Gle­ich­wohl gilt die Kom­mu­nika­tion als ein zen­traler Ansatzpunkt. Denn durch Ver­ständ­niss­chwierigkeit­en und Unsicher­heit­en nehmen Unfall­risiken zu. Sicher­heit­srel­e­vante Aus­sagen soll­ten daher immer klar und ein­deutig for­muliert wer­den, das bedeutet:

  • Auf ein­deutige Aus­drücke und kor­rek­te Wort­wahl achten!
  • Auf Redewen­dun­gen, Ironie, Meta­phern und ver­steck­te Anspielun­gen verzicht­en, denn For­mulierun­gen „im über­tra­ge­nen Sinne“ sind nicht für jeden unmit­tel­bar verständlich!
  • Für Arbeit­san­weisun­gen und Sicher­heit­sun­ter­weisun­gen möglichst mehrere For­mate (Schrift, Sprache, Bild, Ton, Film) nutzen, sodass unter­schiedliche Lern­typen abgedeckt werden.

Ger­ade Sicher­heits­beauf­tragte sind aufgerufen, zu sen­si­bil­isieren und das Ver­ständ­nis füreinan­der zu fördern. Wenn zum Beispiel ein Autist mit Smalltalk nichts anfan­gen kann oder jemand mit Asperg­er-Syn­drom zum Betrieb­saus­flug nicht mitkom­men mag, hat das nichts mit Arro­ganz zu tun. Das sollte allen in der Arbeit­sumge­bung bewusst sein. Denn wer autis­tis­che Züge, Hochsen­si­bil­ität oder eine Leseschwäche an seinem Arbeit­splatz krampfhaft ver­steck­en muss, ist dauer­haft auf dem Weg zum Burnout.

Inklu­sion und Arbeit

Wertschätzung statt Stigmatisierung

Acht­sam kom­mu­nizieren in neu­ro­di­versen Arbeit­sumge­bun­gen bedeutet auch, Eigen­heit­en nöti­gen­falls offen, aber mit Wertschätzung und ohne Stig­ma­tisierung anzus­prechen. Ein Aus­tausch über indi­vidu­elle Bedürfnisse und Arbeitsstrate­gien lohnt sich, und zwar für bei­de Seit­en. Ansatzpunk­te bieten zum Beispiel Fra­gen wie diese:

  • Welche Tätigkeit­en oder Sit­u­a­tio­nen fall­en Ihnen leicht, welche schwerer?
  • Gibt es Dinge, die Sie im Umgang mit Kol­le­gen oder Kun­den beson­ders stören, hem­men, irri­tieren oder ängstigen?
  • Welche Arbeit­szeit­en oder Pausen­zeit­en wären für Sie am besten?
  • Benöti­gen wir Ihrer Mei­n­ung nach Diskus­sion­sregeln oder andere Vere­in­barun­gen für Besprechun­gen und Meetings?

Umgekehrt soll­ten sich Betrof­fene fra­gen, was Vorge­set­zte beziehungsweise Kol­le­gen zu ihrer Eige­nart wis­sen soll­ten. Brück­en wer­den am besten von bei­den Seit­en gebaut. Hil­fre­ich kann es sein, eine feste Ansprech­per­son zu haben.

Vermeidbare Belastungen abbauen

Einige Aspek­te liegen auf der Hand. Wem es schw­er fällt, lange still zu sitzen oder sich trotz Hin­ter­grundgeräuschen zu konzen­tri­eren, sollte nicht ger­ade Überwachungsauf­gaben an Mon­i­toren übernehmen. Andere Bedürfnisse sind sub­til­er. Manch ein­er benötigt zum Beispiel eine feste Struk­tur, das heißt klare Arbeit­san­weisun­gen, Pri­or­itäten, Tage­s­pläne und einen wohlge­ord­neten Arbeit­splatz. Ist dies trans­par­ent, lassen sich gezielt Check­lis­ten oder dig­i­tale Tools einsetzen.

Ein ander­er schreibt lieber Mails als zu tele­fonieren. Längst nicht jed­er ist für lange Meet­ings geeignet. Wer im Großraum­büro „unterge­ht“, kann abgeschot­tet in einem eige­nen Raum zur Höch­st­form auflaufen. Bei anderen ist es umgekehrt, sie benöti­gen den ständi­gen Aus­tausch und sind eher für unruhige Arbeit­splätze mit Durch­gangs- und Pub­likumsverkehr geeignet. Wenn allein der Gedanke, eine Präsen­ta­tion hal­ten zu müssen, zu Schweißaus­brüchen führt, ist es dann wirk­lich nötig, den­jeni­gen einem solchen Stress auszusetzen?

Entschei­dend aus Sicht des Gesund­heitss­chutzes ist die Pas­sung. Bei vie­len Tätigkeit­en ist es zum Beispiel unwichtig, ob der­jenige gut lesen, rech­nen oder schreiben kann. Bei anderen Auf­gaben ist genau dies unverzicht­bar, dann soll­ten Vor­lese- oder Dik­ti­er-Apps genau­so selb­stver­ständlich sein, wie es Taschen­rech­n­er längst gewor­den sind.

Für alle gut: Stör-Reize reduzieren

Neu­ro­di­ver­gente Men­schen wer­den häu­fig Reizen und Erwartun­gen aus­ge­set­zt, die kon­trär zu ihren Bedürfnis­sen sind. Eine laute Umge­bung wird aber auch für Neu­rotyp­is­che schnell zum Stress­fak­tor, denn schon weit unter­halb der Lärm­schutz­gren­zw­erte treten die soge­nan­nten extraau­ralen Wirkun­gen auf.

Neu­ro­di­ver­gente spüren dies oft wesentlich früher und reagieren auch auf andere Fak­toren wie Licht, Gerüche oder Zugluft sen­si­bler. Dann ist es geboten, Arbeit­sumge­bung und Arbeit­sor­gan­i­sa­tion kri­tisch zu hin­ter­fra­gen. Oft sind Erle­ichterun­gen ohne großen Aufwand und Kosten umzuset­zen, zum Beispiel

  • eine Abschir­mung oder Stell­wand in gemein­sam genutzten Büros
  • Sicht­blenden am Monitor
  • Noise-Can­celling-Kopfhör­er
  • schal­lab­sorbierende Bodenmatten
  • eine indi­vidu­ell ein­stell­bare Beleuchtung

Rückzugsorte schaffen

Bewährt haben sich Rück­zug­sorte für einen Moment der Stille. Ob zum Beten, zum Medi­tieren oder um in ein­er Pause ein­fach nur „inner­lich run­terzukom­men“ – das tut jedem gut. Wo geeignete Räum­lichkeit­en fehlen, sind kreative Lösun­gen gefragt. So kön­nte zum Beispiel ein Teil der Kan­tine als Ruhe­zone gekennze­ich­net sein. Hier wird nur gegessen und nicht geplaud­ert, was je nach Naturell die Regen­er­a­tion deut­lich steigern kann.

Kein Schablonendenken

Wir sind keine iden­tisch pro­gram­mierten Robot­er, unsere Einzi­gar­tigkeit macht uns men­schlich. Die Vielfalt unser­er Gehirne und Ner­ven­sys­teme ist eine große Stärke, denn wir prof­i­tieren von unter­schiedlichen Fähigkeit­en, Wahrnehmungen und Perspektiven.

Wir benöti­gen Begriffe als Denkhil­fen, soll­ten uns aber bewusst bleiben, dass Pauschal­isieren und Kat­e­gorisieren der Kom­plex­ität nicht gerecht wer­den. Nicht jed­er Legas­theniker ist automa­tisch hochkreativ und nicht jed­er Autist fällt durch Insel­be­gabun­gen auf.

Entschei­dend ist stets der indi­vidu­elle Men­sch mit seinen Bedürfnis­sen, Stärken und Schwächen. Diese sind in den Leis­tung­spro­filen neu­ro­di­ver­gen­ter Men­schen oft stärk­er aus­geprägt und weniger gle­ich­för­mig. Hier gilt es daher, noch genauer hinzuschauen, bei welchen Auf­gaben der­jenige sein volles Poten­zial ent­fal­ten kann.

Jed­er, der Arbeitsabläufe organ­isiert und Tätigkeit­en zuweist, sollte sich bewusst sein, dass neu­ro­di­verse Teams über eine höhere kollek­tive Intel­li­genz ver­fü­gen und effek­tiv­er arbeit­en. Ger­ade in Zeit­en des Fachkräfte­man­gels dürfte der Aspekt Neu­ro­di­ver­sität weit­er an Bedeu­tung gewinnen.


Autor: Dr. Fried­helm Kring
freier Jour­nal­ist, Redak­teur und Referent
 
Foto: pri­vat

Beispiele für Neurodivergenzen

  • ADS/ADHS: Aufmerk­samkeits­de­fiz­it-Syn­drom; bei ADHS kom­biniert mit ein­er Hyper­ak­tiv­itätsstörung, Schwierigkeit­en mit Aufmerk­samkeit und Konzentration
  • Asperg­er-Syn­drom: Kon­takt- und Kom­mu­nika­tion­sstörung; wird dem Autismus-Spek­trum zuge­ord­net; typ­isch sind eine reduzierte Mimik, das Ver­mei­den von Blick­kon­tak­ten, ver­min­dertes Ver­ständ­nis für soziale Situationen
  • Autismus-Spek­trum-Störung: vielgestaltige neu­rol­o­gis­che Entwick­lungsstörung; geprägt durch verän­derte Wahrnehmungs­fähigkeit­en, Schwierigkeit­en mit sozialer Kom­mu­nika­tion, zwang­haftes Verhalten
  • Dyskalkulie: Rechen­schwäche; Schwierigkeit­en, das Zahlenkonzept zu verstehen
  • Dyslex­ie: früher Lese-Rechtschreib­schwäche genan­nt; Schwierigkeit­en beim Lesen und Schreiben
  • Dys­prax­ie: Entwick­lungsstörung der Koor­di­na­tion, der Bal­ance und der motorischen Funk­tio­nen; wird leicht mit Ungeschick­lichkeit oder Faul­heit verwechselt
  • Dys­gra­phie: Schreib­schwäche; gestörte Schreibfähigkeiten
  • Hochbe­gabung: weit über­durch­schnit­tliche intellek­tuelle Fähigkeit­en; zeigt sich als rasche Auf­fas­sungs­gabe und kom­plex­es Denkvermögen
  • Hochsen­si­bil­ität: hohe reizver­ar­bei­t­ende Sen­si­tiv­ität, das heißt inten­siveres Wahrnehmen von Reizen (Gerüche, Geräusche etc.), was in reiz­in­ten­siv­en Umge­bun­gen leicht zu Über­erre­gung und Stress führen kann
  • Legas­the­nie: Lese-Rechtschreib­störung; deut­liche Schwierigkeit­en beim Ler­nen von Lesen und Schreiben
  • Synäs­the­sie: Zusam­men-Empfind­en; wenn bei Reizung eines Sinnes ein weit­er­er Sinn mit angeregt wird, zum Beispiel wer­den Töne nicht nur gehört, son­dern auch als Farbe wahrgenommen
  • Tourette-Syn­drom: ange­borene neu­ropsy­chi­a­trische Erkrankung, die sich durch motorische und sprach­liche Ticks äußert

Mehrere dieser Aus­prä­gun­gen kön­nen sich in einem Men­schen über­lap­pen. Zudem gibt es kein Entweder/Oder, son­dern fließende Übergänge, und viele wis­sen gar nicht, dass man sie als neu­ro­di­ver­gent einord­nen könnte.


Zentrum für Neurodiversität

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Im Team des Zen­trums für Neu­ro­di­ver­sität e.V. (BZND) arbeit­en Men­schen aus Wis­senschaft, Prax­is und Betrof­fene. Die Mit­glieder stam­men aus vie­len ver­schiede­nen Diszi­plinen von Biolo­gie bis Infor­matik, von Medi­zin bis BWL, von Päd­a­gogik bis Elek­trotech­nik. Sie alle eint das Inter­esse, für das The­ma Neu­ro­di­ver­genz zu sen­si­bil­isieren. Das Ziel ist, prax­is­na­he Ansätze zu entwick­eln, um die Akzep­tanz und Chan­cen­gle­ich­heit neu­ro­di­ver­gen­ter Men­schen zu verbessern. https://bznd.org

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