Durch die kostenlose Freigabe eines neuen „intelligenten“ Chat-Systems im November 2022 hat – nicht zum ersten Mal – der Hype um künstliche Intelligenz (KI) einen neuen Höhepunkt erreicht. Viele wollen von den neuen Werkzeugen wie ChatGPT, DALL‑E & Co profitieren und lassen sich Texte, Bilder oder Videos generieren. Doch diese generative KI stellt nur einen kleinen Ausschnitt heutiger KI-Anwendungen dar.
Oft ist uns kaum bewusst, wie tief KI längst unsere Arbeitswelt und unser Privatleben durchdringt. KI filtert Spam aus unseren Mails und dirigiert uns beim Online-Shoppen. Autos und Haushaltsgeräte, Buchhaltung und PSA – alles wird intelligent und der Leistungskatalog von KI wird jeden Tag beeindruckender. KI entschlüsselt antike Texte, KI findet ein neues Antibiotikum, KI erkennt Depression am Klang einer Stimme – diese Liste könnte noch seitenlang weitergehen.
KI kann alles besser – oder nicht?
Ob Qualitätsprüfung oder Logistik, beim Schach oder beim Auswerten von Röntgenbildern – wo man hinschaut, schneidet KI besser ab als wir. Das begeistert und frustriert zugleich. Sehen, Hören, Sprechen, Lesen … all das kann KI schon richtig gut (nachahmen). Am Denken wird noch gearbeitet. Fühlen wird allenfalls simuliert und ist mit menschlichen Emotionen oder tatsächlicher Empathie nicht vergleichbar.
Während die einen KI zum Hoffnungsträger für Wachstum und Wohlstand stilisieren, warnen andere davor, immer tiefer in die Abhängigkeit von internationalen Tech-Giganten zu rutschen. Beide Seiten haben gute Argumente, aber die Zukunft vorauszusagen ist angesichts der dynamischen Entwicklung bei KI-Anwendungen unmöglich. Zumindest für uns Menschen, doch auch dies kann KI besser und hat bei Wettervorhersagen, Stauprognosen oder Aktienanalysen längst die Führung übernommen.
Glaubt man den Werbeversprechen, soll unser Leben durch KI einfacher und bequemer werden. Intelligente Kühlschränke und Backöfen managen unsere Ernährung und um das Steuern von Licht, Heizung oder Rasensprenger muss sich niemand mehr kümmern. Doch KI steuert nicht nur „Smart Homes“, sondern Maschinen, Anlagen und ganze Produktionsketten. Ziel ist die Null-Fehler-Produktion. Denn Algorithmen werden weder krank noch müde, KI streikt nicht und kommt ohne Urlaub aus. Stets arbeitet sie zuverlässig und fehlerfrei. Oder doch nicht? Rassistische Sprüche „intelligenter“ Chat-Bots, diskriminierende Bewerberauswahl durch eine „intelligente“ Software oder tödliche Unfälle mit autonomen Fahrzeugen zeigen, dass dies nicht die ganze Wahrheit sein kann.
Neben aller Begeisterung ist daher auch viel Verunsicherung zu spüren. Nicht zuletzt geschürt durch einen offenen Brief führender KI-Forscher, die im März 2023 einen sofortigen Stopp beim Entwickeln weiterer künstlicher Intelligenzsysteme fordern. Ist da etwas außer Kontrolle geraten? Bislang wurden die Dystopien, in denen nicht mehr kontrollierbare Computer und intelligente Roboter die Menschheit bedrohen, als Sciencefiction abgetan. Nun werden die Stimmen nach Regulierung und Grenzen für KI immer lauter und nicht nur die EU arbeitet an einem Rechtsrahmen für eine vertrauenswürdige und ethische Nutzung von künstlicher Intelligenz.
Fakt ist: KI ist da, und sie wird nicht mehr verschwinden. Wir sollten lernen, damit zu leben und – wo es sinnvoll ist – die neuen Werkzeuge aktiv zu nutzen. Auch wer dies für sich persönlich ablehnt, wird akzeptieren müssen, dass KI die Arbeitswelt vieler Branchen kräftig umwälzen wird. Aus Sicht des Arbeitsschützers ergeben sich – wie bei jeder neuen Technologie – zwei Perspektiven:
- Wie lassen sich KI-Werkzeuge für den betrieblichen Arbeitsschutz gezielt nutzen und was muss dabei beachtet werden?
- Wie wirken sich KI-Anwendungen auf Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz aus, inwiefern könnte es zu akuten Gefährdungen oder Belastungen kommen?
Berufsgenossenschaften nutzen KI
Die DGUV geht davon aus, dass der Einsatz künstlicher Intelligenz „die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit erhöhen“ kann. Einige Berufsgenossenschaften nutzen künstliche Intelligenz bereits aktiv, hier zwei Beispiele:
- Unfallprognosen: Die BG BAU hat im Juni diesen Jahres ein KI-Projekt gestartet, das die Arbeitsschutz-Aufsicht unterstützen soll. Eine KI analysiert den Datenbestand aus Unternehmensprüfungen sowie die Statistiken aus dem seit vielen Jahren erfassten Arbeitsunfallgeschehen und leitet daraus ab, in welchen Unternehmen das Risiko für Arbeitsunfälle besonders hoch ist.
- Regresserfolge einschätzen: Die BG ETEM setzt auf KI für die Automatisierung ihres Regressmeldeverfahrens. Bei mehr als 500 Arbeitsunfällen pro Tag wertet KI die vorliegenden Daten aus und entlastet dadurch das Personal in den Bezirksverwaltungen. Die KI erkennt zum Beispiel Muster für erfolgversprechende Regressverfahren oder solche mit – aus Sicht der BG – geringeren Chancen. Spannend könnte es werden, wenn Anwälte der Versicherten ebenfalls KI-Werkzeuge nutzen – was im Übrigen zeigt, wie wertvoll unsere Daten sind, ob für eine BG oder für Google, Amazon, Facebook & Co.
Typisch für diese KI-Anwendungen ist, dass es um große Mengen an Daten geht. Je mehr einzelne Informationseinheiten erfasst, verarbeitet und in einer Gesamtschau betrachtet und ausgewertet werden müssen, desto eher zeigt sich die Überlegenheit künstlich intelligenter Systeme. Daher lassen sich KI-Anwendungen, die „im Großen“ ihren Nutzen haben, nicht ohne Weiteres auf ein Unternehmen herunterskalieren. Je nach Fragestellung ist die in einem einzelnen Betrieb erzeugte Datenmenge zu klein, um aussagekräftige Auswertungen zu generieren.
KI für Arbeitsschützer
Doch wie kann auch der Arbeitsschutz vor Ort von KI profitieren? Dafür werden unterschiedliche Ansätze diskutiert:
Erkennen von Risiken: Eine KI könnte die Prävention unterstützen, indem sie potenzielle Gefahrenquellen vorhersagt. Werden möglichst viele Einflussfaktoren miteinander verknüpft wie
- Arbeitsschutzdaten zu Unfällen, Störungen, Fehlzeiten usw.,
- weitere betriebsinterne Daten, etwa aus der Sensorik smarter Gebäude, Maschinen, Anlagen, Prozesse usw.
sowie
- externe Parameter, etwa zum lokalen Wetter,
könnte eine KI theoretisch neue Zusammenhänge für Unfallfaktoren finden. Schon heute berechnen Algorithmen in smarten Fabriken, wann wo welches Teil gewartet, repariert oder ersetzt werden muss. Diese „Predictive Maintenance“ fokussiert derzeit auf das Vermeiden von Maschinen-Stillständen, könnte jedoch auf Verletzungs- und Gesundheitsrisiken ausgeweitet werden.
Beispiel Störfall oder eine andere unfallträchtige Situation außerhalb des Routinebetriebs: Angenommen, über Sensoren „weiß“ das KI-System“, wo eine Oberfläche heiß oder eine Lärmgrenze erreicht wurde, welcher Behälter leckt und welcher Mitarbeiter oder Stapler sich wo befindet usw. Indem eine solche KI immer mehr Parameter kombiniert, wird sie immer effektiver potenziell gefährliche Situationen vorausschauen. Sie kann dann rechtzeitig warnen oder auch aktiv eine Maschine abschalten, ein Ventil absperren, die Sprinkleranlage starten oder was auch immer notwendig ist.
Noch einen Schritt weiter gedacht, könnte eine KI überdies kontrollieren, ob der mit der Störungsbehebung beauftragte Mitarbeiter dafür qualifiziert ist, ob er geeignete PSA trägt, wann er zuletzt unterwiesen wurde oder ob die elektrische Versorgung per Lockout-Tagout freigeschaltet wurde. Denn all diese Parameter liegen entweder längst digital vor oder lassen sich durch immer „unsichtbarere“ Sensoren, kombiniert mit Muster‑, Sprach- und Gesichtserkennung, schnell gewinnen.
Im optimalen Fall hat der verantwortliche Vorgesetzte – unterstützt durch die Sifa – sämtliche Risikofaktoren im Blick beziehungweise im Kopf. Doch je mehr Parameter zu beachten sind und je höher der Druck zu schnellen Entscheidungen wird – Maschinenstillstände werden oft teuer –, desto mehr wird eine KI, der Stress und Hektik fremd sind, ihre Stärken ausspielen.
Solche unternehmensweiten KI-Systeme sind jedoch keine Selbstläufer, sie müssen zunächst – über Sensoren, Schnittstellen usw. – Zugang zu den benötigten Daten erhalten. Die Daten müssen zudem zuverlässig und möglichst vollständig sein. Solange beispielsweise Arbeitsunfälle, Beinaheunfälle, kritische Situationen usw. nicht konsequent und systematisch dokumentiert werden, fehlen der KI entscheidende Voraussetzungen für ein Analysieren von Unfallrisiken. Auch der erforderliche Datenschutz kann das Potenzial einer KI einschränken (Mehr zu Datenqualität, Datenschutz und anderen Grenzen und Tücken beim Einsatz von KI lesen Sie im Folgebeitrag in Sicherheitsingenieur 11–2023).
Simulation von Gefahrensituationen: Wenn eine KI in der Lage ist, potenzielle Gefahrensituationen vorausschauend zu erkennen, dann lässt sich dies auch nutzen, um das sicherheitsgerechte Handeln in einer solchen Situation auszutesten und zu trainieren. Längst simulieren Maschinenbauer die Leistungsfähigkeit von Maschinen und Anlagen in Datenmodellen, sogenannten digitalen Zwillingen. In ähnlicher Weise simulieren Architekten im BIM (Building Information Modeling) den kompletten Lebenszyklus von Gebäuden von der Planung bis zum Abriss, vom Baugrund bis zu den Brandmeldern. Maschine oder Maschinenhalle, vor dem tatsächlichen Bauen wird alles digital geplant und – zunehmend KI-unterstützt – ausgetestet.
Maschinen, Baustellen, Brandschutz? Spätestens jetzt wird jeder Arbeitsschützer hellhörig. Denn es werden jede Menge Daten erzeugt, die für seine Arbeit hochrelevant sind. Eine KI könnte solche Daten nutzen, um Risikosituationen zu simulieren, etwa einen Störfall. Der künftige Maschinenbediener könnte seine Handlungsoptionen austesten und – gefahrlos – das Verhalten im Notfall einüben. Eine Betriebsfeuerwehr könnte mithilfe von 3D-Brillen das Vorgehen bei der Brandbekämpfung an einer heiklen Stelle üben, bevor das Gebäude überhaupt gebaut ist. Solche virtuellen Trainingsszenarien sind längst Realität und KI-gesteuert werden sie leistungsfähiger und realitätsnäher.
Zugangskontrolle: Nicht nur Handys können Personen unterscheiden, auch Schusswaffen werden bereits mit Gesichtserkennung ausgestattet. In gleicher Weise könnte eine KI das Verwenden von bestimmten Werkzeugen oder gefährlichen Substanzen wie etwa Sprengstoffen über den Zugang zu Sicherheitsschränken oder Gefahrenzonen steuern, überwachen und protokollieren.
Autonome Fahrzeuge und innerbetriebliche Verkehrsflüsse: Ob echte selbstfahrende Systeme für den Individualverkehr jemals Realität werden, darf bezweifelt werden. In begrenzten Arealen oder auf festen Routen werden solche Systeme jedoch bereits erfolgreich eingesetzt, vom kleinen Transportroboter bis zu selbstfahrenden Flugzeugschleppern. Das kann Beschäftigte entlasten oder ganz überflüssig machen, Unfälle aufgrund menschlicher Faktoren wie Müdigkeit oder Alkohol dürfte es nicht mehr geben.
Reha-Management: Ob Früherkennung (Hautkrebs, Alzheimer) oder personalisierte Therapie, es gibt immer mehr Beispiele, wo eine KI selbst Fachärzten überlegen ist. Wird eine KI mit genügend großen Datenmengen trainiert, könnte sie individuell prognostizieren, welche Maßnahmen nach einem Arbeitsunfall zum optimalen Heilungserfolg führen.
Inklusion: Assistenzsysteme für Menschen mit Einschränkungen werden durch KI immer leistungsfähiger. Das Projekt KI.ASSIST hat drei Jahre lang KI-Technologien für die berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen untersucht. Der Abschlussbericht sieht große Chancen, schwerbehinderte Menschen individuell an Lern- und Arbeitsorten zu begleiten und ihre Inklusion im Berufsleben zu fördern. Auch Betriebe, die bislang wenig Optionen zur Inklusion sahen, könnten zum Umdenken gebracht werden.
Tipp: Das Portal rehadat.de zeigt jede Menge Beispiele für gelungene Inklusion.
Dokumentieren: KI schreibt Programmcode und hat Beethovens Unvollendete vollendet, da sollte doch ein Gefahrstoffverzeichnis oder der Sifa-Jahresbericht ein Klacks sein, oder? Das ist richtig gedacht, aber – und hier liegt der Haken – ein durch KI erstelltes Dokument kann nur so gut sein wie die Daten, mit denen die KI gefüttert wurde. Und der Aufwand für das Zusammenstellen, Strukturieren und KI-gerechte Einpflegen aller Daten und Parameter sollte nicht unterschätzt werden. Denkbar wäre auch, dass ein intelligenter Chatbot Betriebsanweisungen generiert, die auf den ersten Blick korrekt klingen. Aber kann auf diese Weise mehr entstehen als ein Mischmasch aus Betriebsanweisungen, die die KI zuvor eingelesen hat? Kein Arbeitsschützer wird darum herum kommen, all solche per KI erzeugten Dokumente kritisch zu hinterfragen und betriebsspezifische Parameter per Hand einzupflegen.
Dazu kommt, dass die sprachlichen Fähigkeiten einer KI zwar auf den ersten Blick beeindrucken, dennoch der Sprachkompetenz des Menschen unterlegen bleiben. Haben Sie sich beim Eintippen auf dem Smartphone auch schon gewundert, auf welche Ideen die Autovervollständigen-Funktion kommt? Da soll man im Konflikt seinem Gegner „Ravioli bieten“, ein Vorschlag, der „einfach Suppe!“ ist.
Über solche Stilblüten schmunzeln wir zu Recht, doch es ist alles andere als lustig, wenn in sicherheitsrelevanten Dokumenten eine vermeintlich kompetente KI danebenliegt. Jede Verwechslung von Begriffen, jedes falsche Zuordnen der Automatensprache könnte lebensgefährliche Folgen haben. Auch bei ChatGPT häufen sich nach dem ersten Hype die Beispiele, welchen korrekt klingenden (!) Unsinn KI abliefern kann. Erste Verlage aus dem Arbeitsschutz haben bereits angekündigt, KI von ihren Produkten fernzuhalten und verpflichten ihre Autoren darauf.
Übersetzen: In einigen Branchen, etwa bei Subunternehmen auf dem Bau, scheitert ein Unterweisen an Sprachproblemen. Es sollte jedoch mindestens einen Vorarbeiter beziehungsweise Ansprechpartner geben, mit dem Sie sich auf Deutsch verständigen können. Für diesen kann es eine große Hilfe sein, wenn Sie relevante Dokumente und Verhaltensregeln schon mal vorab durch KI übersetzen lassen. Auch hier gilt jedoch, sich der Tücken und Grenzen der smarten Tools bewusst zu sein und bei gefahrenrelevanten Aspekten besser doppelt zu prüfen. Auch wer selbst im Auslandseinsatz ist, kann von Übersetzungs-KI profitieren, ob in Dänemark, Kroatien oder Japan.
Tipp: Manchmal lässt sich KI für ein Brainstorming nutzen. Sie suchen ein zündendes Motto für den geplanten Gesundheitstag? Oder einen Slogan für eine innerbetriebliche Arbeitsschutz-Kampagne? Fragen Sie eine KI Ihrer Wahl. Sie werden viel unbrauchbaren Müll erhalten. Aber anhand der generierten Vorschläge stoßen Sie vielleicht auf eine Idee, die Sie anpassen und nutzen können.