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Der Normmensch wiegt 75 kg – doch wie ist die Realität?

Anpassungsbedarf ist vorhanden
Der Normmensch wiegt 75 kg – doch wie ist die Realität?

In vie­len Nor­men wird ein Gewicht von 75 kg für eine Per­son angenom­men, um zum Beispiel Prüfmeth­o­d­en oder Anforderun­gen an Pro­duk­te, die Men­schen tra­gen oder hal­ten sollen, zu for­mulieren. Eine Auswer­tung der Kom­mis­sion Arbeitss­chutz und Nor­mung (KAN) zeigt, dass Anpas­sungs­be­darf hin­sichtlich dieses „Stan­dard-Gewichts“ in Nor­men und EU-Geset­zge­bung beste­ht. Wie genau diese Anpas­sun­gen ausse­hen kön­nten, wird aktuell in der KAN diskutiert.

Haben Sie auch schon ein­mal in einem Aufzug auf das Schild mit dem zuläs­si­gen Gesamt­gewicht geschaut und aus­gerech­net, was eine Per­son dem­nach durch­schnit­tlich wiegen darf? Häu­fig sind es 75 kg. Aber mal Hand aufs Herz: Was glauben Sie, wieviel Men­schen im Durch­schnitt wiegen? Wahrschein­lich wer­den Sie auf ein Ergeb­nis kom­men, das über 75 kg liegt. Im Aufzug ist das Ganze kein Prob­lem: Wird das zuläs­sige Gesamt­gewicht über­schrit­ten, schließen die Türen nicht und der Aufzug kann nicht losfahren.

Prob­lema­tisch wird es aus Sicht des Arbeitss­chutzes, wenn die Kon­struk­tion von Pro­duk­ten, die dafür gedacht sind, Men­schen zu tra­gen oder zu hal­ten, auf einem zu niedrig ange­set­zten Gewicht der kün­fti­gen Nutzer beruht. Stellen Sie sich vor, Sie set­zen sich auf einen Stuhl und dieser bricht ein­fach unter Ihnen zusam­men, weil er nicht für Ihr Gewicht aus­gelegt ist und dies auch nicht erkennbar ist. Im besten Fall kom­men Sie mit einem Schreck­en davon. Im schlimm­sten Fall ver­let­zen Sie sich.

In manchen Fällen ist das max­i­mal zuläs­sige Gewicht schlicht nicht ersichtlich – ger­ade im Bere­ich Stüh­le ist eine deut­lich sicht­bare Kennze­ich­nung seit­ens der Her­steller aus ästhetis­chen Grün­den uner­wün­scht. Allerd­ings gibt es inzwis­chen eine nationale Norm, die Anforderun­gen und Prüfver­fahren für Sitzmö­bel für Per­so­n­en mit höherem Nutzergewicht definiert (DIN 4573). Wenn sich aber in der Regel die Nor­man­forderun­gen oder die vorge­se­henen Prü­fun­gen auf 75 kg beziehen, kann die Nutzung für Per­so­n­en über 75 kg eine Gefährdung darstellen. Ein weit­eres Beispiel dafür sind Ret­tungs­di­en­st­fahrzeuge. Hier wer­den zum Beispiel die Ver­ankerun­gen für die Trage auf das Gewicht der Trage und einen darauf liegen­den Patien­ten von 75 kg geprüft. Kommt es zu einem Unfall und der Patient wiegt deut­lich mehr als 75 kg, kann ein zusät­zlich­es Sicher­heit­srisiko entste­hen, wenn die Ver­ankerung nicht hal­ten sollte.

Es gibt viele weit­ere Pro­duk­te, die Men­schen (aus)halten oder tra­gen müssen. Das kön­nen Liegen, Tra­gen, Sitze, Stüh­le und andere Möbel, aber auch Skate­boards, Schwimmhil­fen, Medi­z­in­pro­duk­te, Feuer­wehrleit­ern und vieles mehr sein.

Neuere Erkenntnisse

Aktuelle Kör­per­maß­dat­en auch aus Nor­men zeigen, dass ein Gewicht von 75 kg nicht mehr den aktuellen wis­senschaftlichen Erken­nt­nis­sen zu Kör­pergewicht­en von Men­schen entspricht – und das nicht nur in Deutsch­land, son­dern inter­na­tion­al. Die Bun­de­sanstalt für Arbeitss­chutz und Arbeitsmedi­zin (BAuA) hat in ein­er Stel­lung­nahme für die KAN aus­ge­führt, dass sich die Def­i­n­i­tion von Nutzergewicht­en in der Nor­mung an den ergonomis­chen Grund­la­gen­nor­men ori­en­tieren sollte. Dem­nach sollte für sicher­heit­srel­e­vante Anwen­dun­gen der Wert des 99. Perzen­tils zugrunde gelegt wer­den (siehe S. 33). Außer­dem ist es sin­nvoll, Pro­duk­te so zu pla­nen, dass sie von möglichst vie­len Men­schen ver­wen­det wer­den können.

Die BAuA emp­fiehlt, in Bezug auf das Nutzergewicht daher Dat­en aus deutsch­landweit repräsen­ta­tiv­en Unter­suchun­gen für die Nor­mung und Geset­zge­bung zu ver­wen­den. Eine Studie zur Gesund­heit Erwach­sen­er in Deutsch­land1 hat 2012 zum Kör­pergewicht fol­gen­des Ergeb­nis gebracht: Das 99. Perzen­til bei Män­nern entspricht einem Kör­pergewicht von 129,1 kg, bei Frauen 119,1 kg. Bei der Studie wur­den je Geschlecht cir­ca 3.000 Per­so­n­en unter­sucht, sie ist also nicht als repräsen­ta­tiv für die gesamte deutsche oder gar europäis­che Bevölkerung anzuse­hen. In diesem Zusam­men­hang muss bedacht wer­den, dass ein Grund­satz der Nor­mungsar­beit die Inter­na­tion­al­ität ist. Das bedeutet, dass Nor­mungsar­beit von DIN „das volk­swirtschaftliche Ziel eines von tech­nis­chen Hemm­nis­sen freien Welthandels und des gemein­samen Mark­tes in Europa unter­stützt.“2 Für inter­na­tionale und europäis­che Nor­men müssen daher eventuell andere Daten­grund­la­gen herange­zo­gen wer­den als für rein deutsche Normen.

Die inter­na­tionale Norm ISO 7250–3:2015–08 „Wesentliche Maße des men­schlichen Kör­pers für die tech­nis­che Gestal­tung – Teil 3: Weltweite und regionale Gestal­tungs­maße für ISO-Pro­duk­t­nor­men“ gibt beispiel­sweise für Europa als 99. Perzen­til 142 kg für Män­ner und 119 kg für Frauen an. Es deutet also vieles darauf hin, dass statt der 75 kg ein weit höher­er Wert anzuset­zen ist.

Um das The­ma genauer zu analysieren, hat die KAN Ende 2019 die DIN Soft­ware GmbH mit ein­er Recherche zum The­ma Gewicht von Per­so­n­en in Nor­men und der europäis­chen Regelset­zung beauf­tragt. Dabei wurde in den Voll­tex­ten nach Begrif­f­en für Per­so­n­en oder auch Prüfkör­p­er, die für Per­so­n­en ste­hen, im Zusam­men­hang mit ein­er Gewicht­sangabe gesucht.

Gefun­den wur­den 307 Doku­mente von 25 DIN-Nor­me­nauss­chüssen und der EU. Die Auswer­tung hat gezeigt, dass in Nor­men und europäis­chen Vorschriften 75 kg für eine Per­son der am häu­fig­sten genan­nte Wert ist. In rund 100 Doku­menten sind es 75 kg, in über 50 Doku­menten sog­ar unter 75 kg. Es gibt allerd­ings auch Doku­mente, die weit höhere Werte anset­zen – ins­ge­samt reicht die Spannbre­ite von 50 bis 360 kg für eine Per­son (s. Abb. 1). The­ma­tis­che Schw­er­punk­te sind die Bere­iche Maschi­nen­bau und Sport sowie europäis­che Richtlin­ien, Verord­nun­gen und ECE-Regelun­gen (s. Abb. 2).

Höhere Werte für das Nutzergewicht, das heißt Werte von 100 kg und mehr, find­en sich in der Auswer­tung in den Bere­ichen von Sitzmö­beln, bar­ri­ere­freien Spielplatzgeräten und Tram­po­li­nen, bei Nor­men zu Oper­a­tionstis­chen und anderen medi­zinis­chen Liegen, Aufzü­gen, bei Prü­fun­gen im Fahrzeug­bere­ich, Fahrrädern, Erd­bau­maschi­nen, PSA gegen Absturz, Leit­ern, Schif­f­en und Booten, Gehhilfen.

Geringe Werte von unter 75 kg sind in der Auswer­tung in fol­gen­den Bere­ichen enthal­ten: Genehmi­gung von Kraft­fahrzeu­gen, Fahrzeugsitze, Tauch-Zube­hör, Schwimmhil­fen, PSA gegen Absturz, Fahrräder, Hausar­beits­drehstuhl, Erdbaumaschinen.

Wenn Sie sich jet­zt wun­dern, dass manche Bere­iche in bei­den Aufzäh­lun­gen vorkom­men: Es gibt Doku­mente, in denen mehrere Gewicht­skat­e­gorien angegeben wer­den. Es beste­ht also nicht über­all Anpas­sungs­be­darf. Zudem gibt es in den einzel­nen Bere­ichen mehrere Doku­mente, die zum Beispiel Anforderun­gen an ver­schiedene Typen von Stühlen fes­tle­gen. Diese Anforderun­gen sind in Bezug auf das Gewicht von Per­so­n­en nicht immer iden­tisch. Ein Indus­triear­beitsstuhl wird zum Beispiel für Per­so­n­en bis 110 kg aus­gelegt, ein Hausar­beits­drehstuhl nur bis 60 kg.

Ein Hin­weis darauf, wie es zu dem Wert von 75 kg für Per­so­n­en gekom­men sein kön­nte, liefern die ältesten Doku­mente in der Auswer­tung: In der Norm DIN ISO 2416:1993 „Lastverteilung in Per­so­n­enkraft­wa­gen“, auf die in eini­gen Doku­menten der EU Bezug genom­men wird, wird die Masse eines Fahrzeu­g­in­sassen ohne Gepäck mit 68 kg angenom­men. Das Gepäck wird mit 7 kg pro Fahrzeu­g­in­sassen ver­an­schlagt. Es kön­nte also sein, dass hier oder in den Vorgänger­doku­menten der Ursprung für den viel­genutzten Wert „75 kg“ liegt.

Was ist denn nun richtig?

Kann man nun ein­fach einen anderen Wert in die Nor­men schreiben und das Prob­lem ist erledigt? Das ist nicht ohne Weit­eres möglich. So gibt es auch Anwen­dungs­fälle, bei denen nicht der höch­ste anzunehmende Wert rel­e­vant ist. Dazu gehören zum Beispiel einzelne Fälle, in denen es eine Aus­lös­eschwelle auch für niedrige Gewichte geben muss, wie bei ein­er Sitzfederung oder einem Druck­sen­sor, der beim Betreten eine Mas­chine abschal­tet. Es muss gek­lärt wer­den, welch­es Gewicht, ein höheres oder ein niedrigeres, zu ein­er erhöht­en Gefährdung führt. Auch ste­ht noch die Frage im Raum, welch­er Wert der „richtige“ ist.

Die Ergeb­nisse der Recherche wer­den nun zunächst inner­halb der KAN disku­tiert. In einem KAN-Fachge­spräch mit den betrof­fe­nen Nor­me­nauss­chüssen und Fach­leuten aus Arbeitss­chutzkreisen wird näher einge­gren­zt, an welchen Stellen ange­set­zt wer­den kann. Ziel ist es, Empfehlun­gen für die Nor­mung zu for­mulieren und auch die EU-Geset­zge­bung (z. B. im Fahrzeug­bere­ich) zu bee­in­flussen, da diese häu­fig als Grund­lage für die Nor­men herange­zo­gen wird. Ziel ist, prax­is­gerechte Werte für das Gewicht von Per­so­n­en zu find­en, die den aktuellen Kör­per­maß­dat­en entsprechen und die in die Doku­mente einge­bracht wer­den kön­nen. Hier­bei sollen die ver­schiede­nen Anwen­dungs­fälle berück­sichtigt werden.

1 www.degs-studie.de/deutsch/ergebnisse/degs1.html

2 https://www.din.de/de/ueber-normen-und-standards/din-norm/grundsaetze


Foto: KAN/Florian Janowitz

Autorin: Katha­ri­na von Rymon Lipinski

Kom­mis­sion Arbeitss­chutz und Normung
E‑Mail: vonrymonlipinski@kan.de


Was sind Perzentile?

Zu Kör­per­maßen wer­den häu­fig Perzen­tile (rel­a­tive Sum­men­häu­figkeit in ein­er Gruppe) angegeben. Diese geben für ein Kör­per­maß an, wie hoch der prozen­tuale Anteil der Per­so­n­en ein­er Stich­probe ist, die den angegebe­nen Perzen­til­w­ert nicht überschreiten.

Wird zum Beispiel der Wert des 99. Perzen­tils des Kör­pergewichts von Män­nern mit 129,1 kg angegeben, bedeutet das, dass 99 Prozent der unter­sucht­en Teil­nehmer 129,1 kg oder weniger wiegen, 1 Prozent hinge­gen ein höheres Kör­pergewicht haben.

Mehr zum The­ma Kör­per­maße find­en Sie im KAN­Prax­is-Rat­ge­ber: Kör­per­maße anwen­den https://koerpermass.kan-praxis.de


Körpermaßdaten: wichtig, aber nicht trivial

In der (Arbeits-)Umgebung von Men­schen und bei Pro­duk­ten, die für den Kon­takt mit Men­schen bes­timmt sind, entste­ht immer eine Schnittstelle zwis­chen Men­sch und (tech­nis­ch­er) Umwelt. Dann sind für eine opti­male Gestal­tung Kör­per­maße von Men­schen erforder­lich. In Bezug auf das Kör­pergewicht gilt es in der Nor­mung und bei der Kon­struk­tion zu beacht­en, dass die Pro­duk­te eventuell nicht nur für jew­eils einen Nutzer vorge­se­hen sind, son­dern häu­fig von wech­sel­nden Per­so­n­en benutzt wer­den. Zudem gibt es Ein­flussfak­toren wie Klei­dung, Gepäck oder per­sön­liche Schutzaus­rüs­tung, die bei der Belast­barkeit von Pro­duk­ten mit berück­sichtigt wer­den müssen.

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