Der Arbeits- und Gesundheitsschutz unterscheidet sich als Abteilung oder Bereich in der Notwendigkeit einer strategischen Ausrichtung nicht von anderen Bereichen eines Unternehmens. Erst durch das Setzen einer Strategie ist das Ableiten sinnvoller KPIs oft überhaupt erst möglich. In der Managementlehre werden zu diesem Zweck mitunter sogenannte Maturity Assessments, auch als Reifegradmodelle bekannt, herangezogen. Welche Chance liegt hier für den Arbeits- und Gesundheitsschutz?
Eines der wahrscheinlich bekanntesten Reifegradmodelle in der Arbeitssicherheit ist die Bradley-Kurve von DuPont (Siuta et al. 2022 [1]), die anhand mehrerer Entwicklungsphasen einer Organisation den Zusammenhang zwischen Unfallhäufigkeit und Unternehmenskultur aufzeigen will. Dabei handelt es sich um eine spezifische Darstellung einer bestimmten Facette von Arbeitssicherheit.
Maturity Assessments sind ein Baukasten von Werkzeugen zur Management- und Prozessevaluation, die dazu dienen, entweder den aktuellen Reifegrad zu identifizieren oder dessen Entwicklung zu beurteilen. Ganzheitlich betrachtet soll mittels verschiedenster Informationen und Daten der Reifegrad einer Organisation anhand eines Ist-Soll-Zustands bewertet werden.
Im Anschluss können Maßnahmen abgeleitet werden, um den Reifegrad anhand einzelner vorab festgelegter Dimensionen wie beispielsweise Strategie oder Compliance – an dieser Stelle ist das Einhalten von Standards gemeint – zu verbessern. Damit stellt sich ein Maturity Assessment im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses ebenso als Messinstrument für die Ausgangslage wie auch zur laufenden Evaluation dar.
Es handelt sich aber nicht um Prüfsystematiken für Prozesse, wie sie auch in der ISO 45001 gefordert werden – also etwa um die Ausführung von Aufgaben der Arbeitssicherheit (siehe DGUV Vorschrift 2 und Einsatzzeitenberechnung) sicherzustellen –, sondern vor allem um ein strategisches Werkzeug, mit dem das Management des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und dessen Durchdringung im Unternehmen evaluiert und gesteuert werden soll.
Maturity Assessments finden sich mittlerweile in unterschiedlichsten Formen, aktuell zum Beispiel im Hinblick auf digitale Transformationen oder den Einsatz künstlicher Intelligenz. So können Unternehmen den Grad beurteilen, wie reif die Organisation für die Einführung oder das Vorantreiben künstlicher Intelligenz ist.
Doch lässt sich der Grundgedanke in Abhängigkeit der Dimensionen, die zur Bewertung herangezogen werden, auf fast jedes organisationale Setting übertragen. So wird der Gedanke der Prozessbewertung durch eine KPI praktisch umgekehrt: Sowohl das Management des Arbeits- und Gesundheitsschutzes der Zentralfunktion als auch der gesamten Organisation kann im Hinblick auf seinen Reifegrad überprüft werden.
Wie reif ist das Management?
Wie in Abbildung 1 fiktiv dargestellt, bietet sich die Visualisierung des Reifegradmodells als simples Netzdiagramm an, auf dem die einzelnen Dimensionen in Form eines Ist-Soll-Vergleichs dargestellt sind. Die Dimension „Strategie“ überrascht möglicherweise. Die Erstellung einer bereichsspezifischen Strategie, die darüber hinaus auch mit der Unternehmensstrategie verknüpft werden soll, mag zunächst der rein regulativen Notwendigkeit aus der DGUV Vorschrift 2 oder dem Arbeitsschutzgesetz heraus widersprechen. An dieser Stelle geht es aber darum, den strategischen Mehrwert beziehungsweise den Beitrag des Bereichs in der Erfüllung der Unternehmensziele zu evaluieren und sichtbar zu machen.
Existieren beispielsweise neben der Einsatzzeitenberechnung nur entkoppelte Ansätze wie Leitbilder, Prozessbeschreibungen oder niedergeschriebene Absichten, ersetzen diese Manifestationen keine mindestens mittelfristige Strategie. Erst mittelfristige Leitplanken, die die Aufgaben und Ziele ausreichend darstellen, ermöglichen die Entwicklung nachhaltiger KPIs.
So kann eine bereichsspezifische Strategie etwa darin bestehen, im Rahmen eines sogenannten „target operating models“ die Prozesse des Bereichs mit den Unternehmenszielen zu verknüpfen. Insbesondere in größeren Unternehmen geht der tatsächliche Arbeitsaufwand nicht selten deutlich über die Aufgaben der reinen sicherheitstechnischen Betreuung auf dem shopfloor hinaus.
Ein target operating model bietet die Möglichkeit, Prozesse und Arbeitsabläufe, das Management (etwa Finanzcontrolling, Verantwortlichkeiten, Schlüsselrollen usw.) und die organisatorische Struktur inklusive dafür notwendiger Personalschlüssel einheitlich darzustellen und gleichsam auf die Unternehmensstrategie zuzuschneiden. Aus der Erfüllung der strategischen Aufgaben, die sich daraus bilden, ergibt sich automatisch eine Menge an KPIs.
Ein vereinfachtes Beispiel: Schreibt sich ein Unternehmen einen reibungslosen und schnellen Kundenkontakt in die Unternehmensziele, kann das strategisch adaptiert werden, indem auch der Kontakt des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu den internen Kunden (etwa die produzierenden Bereiche) entsprechend reibungslos und schnell organisiert wird – beispielsweise durch zusätzliche Ticketsysteme. Von Bedeutung ist, dass die Erfüllung der Unternehmensziele mittels geeigneter Operationalisierungen ausreichend unterstützt wird.
In der Dimension „Kunden“ spiegeln sich unter anderem ein segmentiertes Kundenverständnis und dessen spezifisches Management wider. Ist nicht klar, wer vor allem die wesentlichen Kunden sind, besteht bereits die erste Aufgabe darin, das Dienstleitungsverständnis zu klären und die Kundensegmente zu identifizieren und zu priorisieren. Wesentliche Kunden können auf Bereichsebene beispielsweise Produktionsbereiche sein, die auf Basis der Gefährdungsbeurteilung als risikoreiche Arbeitsbereiche identifiziert wurden. Weiterhin besteht auf betriebsärztlicher Seite (anekdotische Evidenz) zuweilen keine Kunden‑, sondern eine Patientenperspektive.
Ohne eine Wertung vorzunehmen, wird deutlich, dass bei solchen Unterschieden auch nicht klar ist, auf welcher Ebene ein Kunde wie zu betrachten ist und wie man feststellt, welche Bedürfnisse er hat oder welche Ziele strategisch damit verbunden sein können. Geht es um den Mitarbeiter oder den Bereich, aus dem der Mitarbeiter entsendet wird? Was ist mit der Unternehmensleitung? Alles kann korrekt sein, mit ganz unterschiedlichen Implikationen.
Spätestens hier wird ersichtlich, dass die Dimensionen untereinander verknüpft sind und daher eine ganzheitliche Betrachtung notwendig ist. Das gilt auch für die Dimensionen „Rollen“ und „Enabler“. Zur Klärung des Kundenverständnisses gehört nicht weniger die Verständigung darauf, was die Rolle der einzelnen Funktionen und Akteure des Zentralbereiches gegenüber welchen Kunden eigentlich sein soll. Müssen manche Kundensegmente vielleicht bevorzugt behandelt werden? Dazu kann auch gehören, eine zentrale Schnittstelle für den Kundenkontakt bestimmter Segmente zu schaffen, um solche besonders schnell bedienen zu können.
Ebenfalls kann es das Ergebnis einer internen Klärung sein, dass spezifische Experten- oder Fachfunktionen keine direkten Ansprechpartner für die Kunden sind, sondern nur bei Bedarf agieren. Im Falle der Enabler sind hier ergänzend zu den Einsatzzeitenberechnungen konkrete Prozessbeschreibungen zu nennen, die den Workflow unter Einbezug der vorher festgelegten Rollen zeigen und mit ganz konkreten Zeitschlüsseln verbunden sein sollten. So wird ersichtlich, welcher Prozess mit welchem Personalaufwand verbunden ist, was eine zu der Organisation passende Weiterentwicklung der Einsatzzeitenberechnung darstellt.
So kann der Zentralbereich außerdem in die Lage versetzt werden, darzustellen, ob bestimmte zusätzliche Anfragen von anderen Bereichen erfüllbar sind. Die Dimensionen „Arbeitssicherheit“ und „Umweltschutz“ sind exemplarisch und sollen verdeutlichen, dass auch die einzelnen Teams oder Funktionen, aus denen der Zentralbereich besteht, hier ihren Platz finden sollten.
Als Datenquellen bieten sich unterschiedlichste bekannte, vorhandene oder zu erstellende Quellen wie Rollen- oder Aufgabenbeschreibungen, Arbeitsplatzprofile, Prozesse, Flow-Charts, Organisationsdiagramme, Verantwortlichkeiten und Einsatzzeiten an. Aber auch andere Wege können und müssen hier gegangen werden. So kann beispielsweise die Kundenperspektive nicht ohne eben diese in das Modell inkludiert werden. Hier bieten sich etwa Interviews mit Führungskräften verschiedener Ebenen an, insbesondere mit den wesentlichen Kunden.
Wie reif ist die Organisation?
Die so gewonnenen Informationen können in ein Reifegradmodell für die Organisation transferiert werden. Insbesondere, wenn ein Zertifikat, zum Beispiel nach ISO 45001, vorliegt, sollen Ziele, KPIs usw. bereits in die Prozesse der Organisation inkludiert werden. Ein beispielhafter Mechanismus kann sein, ein Reifegradmodell für den Zentralbereich zu erstellen und in der Organisation durch Experten abzufragen und qualitativ zu bewerten. So können die oben dargestellten Dimensionen in eine quantitative Skala umgewandelt und in den einzelnen Bereichen einer Organisation beurteilt werden. Es gibt auch bereits einige Operationalisierungen, die für ein solches Assessment herangezogen werden können.
Eine praktische Darstellung mit verschiedenen Adaptionen findet sich zum Beispiel bei Goncalves Filho und Waterson (2018)[2] oder Orlando et al. (2019) [3]. Oft handelt es sich um ein Mehrphasenmodell, das eine Entwicklung bis zu einer Exzellenz-Stufe darstellt. Pei et al. (2023) [4] haben beispielsweise einen quantitativen Systemindex vorgeschlagen, der aus den Elementen „concept culture“, „system culture“, „behavior culture“ und „physical culture“ bestehen soll.
Die Elemente beschreiben an verschiedenen Stellen ähnliche Forderungen wie die ISO 45001, so etwa das Setzen von Zielen, konkreten Prozessen, Standards, Bekenntnissen der Führung oder Systemen zur Sicherherstellung ausreichender Qualifikation. Aber auch auf konkrete strategische Größen wird Bezug genommen, die die Organisation allerdings selbst setzen muss.
Die eigentliche Herausforderung, die in diesem Artikel genau aufgrund dieser Lücke beschrieben wurde, besteht in dem Schritt zu einer organisatorisch-strategischen (Neu-)Ausrichtung eines mitunter ganzen Arbeitsbereichs oder wahlweise einer strategischen Positionierung des Arbeitsschutzes, wenn er als Stabsstelle eingegliedert ist. Eine solche Ausrichtung oder Positionierung kann aber nur im Kontext der jeweils eigenen Organisation und ihrer Ziele und strategischen Leitplanken erfolgen.
Durch die Verwendung von Maturity Assessments kann ein Bereich also nicht nur eigene Leitplanken im Arbeits- und Gesundheitsschutz entwickeln und sich in die Unternehmensstrategie eingliedern, sondern die daraus entstehenden KPIs auch selbst als überprüfbare Größen in die Organisation tragen, um so über die klassischen regulatorischen Komponenten hinaus seinen Wertschöpfungsbeitrag in einer Organisation darzustellen und zu stärken.
Literaturhinweise:
- Siuta, Dorota; Kukfisz, Bozena; Kuczynska, Aneta; Mitkowski, Piotr Tomasz (2022): Methodology for the Determination of a Process Safety Culture Index and Safety Culture Maturity Level in Industries. In: International journal of environmental research and public health 19 (5). DOI: 10.3390/ijerph19052668.
- Goncalves Filho, Anastacio Pinto; Waterson, Patrick (2018): Maturity models and safety culture. A critical review.
In: Safety Science 105 (4), S. 192–211.
DOI: 10.1016/j.ssci.2018.02.017. - Orlando, Angelo Guido Soares; Lima, Gilson Brito Alves; Abreu, Chrystyane Gerth Silveira (2019): Assessment of maturity level. A study of QHSE culture.
In: RPD 5. DOI: 10.32358/rpd.2019.v5.357. - Pei, Jingjing; Liu, Lu; Chi, Ying; Yu, Chengyang (2023): Research on the Maturity Evaluation Model of Enterprise Safety Culture. In: International journal of environmental
research and public health 20 (3).
DOI: 10.3390/ijerph20032664.
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