Neben der Beurteilung der klassischen Risikofaktoren am Arbeitsplatz müssen seit dem Jahr 2013 auch die psychischen Belastungen bei der Arbeit erfasst und beurteilt werden. Mit welchen Methoden diese Belastungsformen verlässlich erhoben werden können, haben wir in der letzten Ausgabe des Sicherheitsbeauftragten verdeutlicht. Mit der Ermittlung der psychischen Belastung allein ist es jedoch noch nicht getan: Ein Nutzen für Beschäftigte und Unternehmen entsteht erst dann, wenn sinnvolle Maßnahmen folgen.
Liegen die Analyseergebnisse auf dem Tisch, beginnt die eigentliche Arbeit: Die Ergebnisse müssen interpretiert beziehungsweise beurteilt und Maßnahmen priorisiert sowie umgesetzt werden. Das ist ein entscheidender Punkt, denn ohne Maßnahmen werden keine Verbesserungen erzielt – der Nutzen für den Betrieb wäre dadurch vertan. Der Gesetzgeber macht das in § 2 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) deutlich, in dem explizit Maßnahmen zur „menschengerechten Gestaltung der Arbeit“ gefordert werden.
Grenzwerte, wie beispielsweise für Lärm, gibt es für psychische Belastung nicht. Es geht also zunächst darum, die Gründe für die festgestellten Belastungen zu erkennen. Erst dann können, zusammen mit den betroffenen Mitarbeitern, sinnvolle Maßnahmen festgelegt werden. Die Erfahrung zeigt, dass oftmals schon einfache Dinge zu einer deutlichen Entlastung führen können.
Fallbeispiel 1: Monotonie durchbrochen
In der Abteilung Endkontrolle eines Unternehmens, das Spezialtextilien herstellt, ergab sich für einige Beschäftigte bei der Gefährdungsbeurteilung eine hohe Belastung aufgrund von Monotonie. Das Produkt muss die Spezifikation genau einhalten, sodass die Qualitätssicherung von zentraler Bedeutung ist. In der Endkontrolle wird deshalb viel Zeit für die Überprüfung der fertigen Gewebe aufgewandt. Dabei handelt es sich um eine relativ monotone Tätigkeit, die hohe Konzentration und ein ausgezeichnetes Sehvermögen erfordert. Als Folge traten im Laufe der Schicht Ermüdungserscheinungen bei den Beschäftigten auf. Nach der Diskussion verschiedener Maßnahmenvorschläge wurden der regelmäßige Wechsel des Arbeitsplatzes und der Tätigkeit innerhalb der Abteilung als praktikable und kostenneutrale Möglichkeit umgesetzt.
Fallbeispiel 2: Zeitdruck verringert
In einem anderen Unternehmen wurde im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung in zwei Abteilungen eine hohe Belastung durch Zeitdruck festgestellt. Schon während der Ermittlung wurde klar, dass Ersatzteile nicht direkt bestellt werden konnten. Die dafür zuständige, übergeordnete Abteilung orderte diese jedoch oft falsch oder nicht rechtzeitig. Der dadurch verursachte Zeitverlust führte zu Stress und Frust bei den Beschäftigten. In der nachfolgenden Diskussion wurde deutlich, dass es aufgrund des Ausbleibens von Ersatzteillieferungen zu massiven Terminproblemen in der Instandhaltung kam. In Reaktion auf diese Erkenntnisse wurde die Dokumentationspflicht in ein einheitliches System überführt und damit der Bestellvorgang für Ersatzteile effizienter und transparenter gestaltet. Daraus ergab sich eine deutliche Zeitersparnis für beide Abteilungen, zudem entspannte sich das Verhältnis untereinander. Diese Maßnahme zur Vereinfachung der Dokumentation verbesserte die Situation für die Beschäftigten spürbar und nachhaltig.
Fallbeispiel 3: Kommunikation erleichtert
Das dritte Fallbeispiel verdeutlicht, wie die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung Anstoß für vielfältige Maßnahmen zur Entwicklung der Organisation und Unternehmenskultur sein kann. Ausgangspunkt war eine hohe Belastung aufgrund von schlechter beziehungsweise fehlender Kommunikation. Zur weiteren Ursachenforschung beschloss der Steuerkreis, durch einen externen Moderator Analyseworkshops durchführen zu lassen. Diese Workshops wurden mit 10 bis 15 betroffenen Mitarbeitern einer Hierarchieebene durchgeführt. Die Beschäftigten waren damit schon in der Ermittlungsphase aktiv am Prozess beteiligt. Als Ursache wurde eine ungünstige und wenig ausgeprägte Kommunikationskultur zwischen der unteren Führungsebene und den Beschäftigten identifiziert. Zur weiteren Unterstützung erfolgte die Einführung von kollegialen Meister-Runden, um einen Austausch der Führungskräfte untereinander anzuregen.
Die Meister-Runden boten eine Möglichkeit, schwierige Führungssituationen offen anzusprechen und gemeinsam mit anderen Meistern zu bearbeiten und zu reflektieren. Die Führungskräfte fühlten sich durch diese Maßnahme sicherer in ihrer Aufgabe. Damit verbesserte sich auch die Kommunikation der Mitarbeiter mit ihren Führungskräften deutlich. Im weiteren Verlauf wurden auch die Arbeitsgestaltung und ‑organisation überprüft und teilweise verbessert, so zum Beispiel durch die Erneuerung der Montagesitze und die Überarbeitung von Prozess- und Ablaufbeschreibungen. Die Wirksamkeit der Maßnahmen zeigte sich bei der nächsten Beurteilungsrunde im Prozess der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung: Die Belastungen fielen nunmehr geringer aus.
Von der Pflicht zur Kür
Diese Beispiele zeigen, dass die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (GB Psych) keine lästige Pflichtaufgabe darstellt, sondern konkrete Verbesserungen bewirken kann. Voraussetzung für eine gute Wirksamkeit sind eine fundierte Analyse und ein gut funktionierender Steuerkreis: Stimmt die Qualität, können auch die Ursachen der festgestellten Belastungen erkannt und durch zielgerichtete Maßnahmen behoben werden. Die Vertreter von Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie die Fachkräfte im Steuerkreis erarbeiten Maßnahmenvorschläge und kontrollieren deren Umsetzung. Dabei können sie auch auf professionelle Hilfe von außen zurückgreifen: Externe Fachberater unterstützen den Steuerkreis bei der Strukturierung des Prozesses und begleiten die Umsetzung der GB Psych – beispielsweise durch die Vermittlung von Fachwissen, durch Beratung bei der Verfahrenswahl oder Unterstützung bei der Auswertung.
Praxis-Tipp
Empfehlungen für eine erfolgreiche und wirkungsvolle GB Psych:
- Strukturen schaffen: Die GB Psych ist ein Prozess und ein Gemeinschaftswerk. Darum sollte ein Arbeitskreis mit Vertretern des Arbeitgebers und der Arbeitnehmerseite etabliert werden.
- Qualität sichern: Das Analyseverfahren muss die relevanten Themen erfassen. Deshalb ist es ratsam, für den Anfang externe Experten zu Rate zu ziehen.
- Beschäftigte einbinden: Verbesserungsmaßnahmen liegen im Interesse des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer.
- Das Wissen der Beschäftigten nutzen: Als Experten in eigener Sache können sie mit einem Moderator Lösungsvorschläge und Ideen erarbeiten.
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Autoren:
Dr. Ralf Neuner
Sabine Neuner
Institut für Gesundheitsmanagement