Der 57-jährige Kläger war als Rettungssanitäter tätig. Im Juli 2016 legte er bei der Beklagten, der gesetzlichen Unfallversicherung, einen Entlassungsbericht aus der Klinik vor, in dem unter anderem eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) festgestellt wurde. Der Bericht führte aus, der Kläger habe im Rettungsdienst viele traumatisierende Erlebnisse gehabt (beispielsweise war er im Jahr 2009 bei dem Amoklauf in einer Realschule in Winnenden eingesetzt, bei dem ein 17-jähriger Schüler 16 Menschen und sich selbst tötete).
Gleichzeitig habe der Kläger über Personalknappheit und ähnliche ihn belastende Vorgänge in der Rettungswache berichtet. Konkret habe die beschriebene Symptomatik nach zwei Amokläufen begonnen, als der Kläger als Helfer eingesetzt worden sei, sowie nach Suiziden von zwei miteinander befreundeten Mädchen. Die Unfallversicherung lehnte die Anerkennung einer Berufskrankheit jedoch ab. Zudem stellte sie fest, dass die Erkrankung auch nicht als „Wie-Berufskrankheit“ anzuerkennen sei.
Der Widerspruch des Klägers gegen die ablehnende Entscheidung der Unfallversicherung blieb erfolglos, wie auch seine Klage gegen das erstinstanzliche Urteil des Sozialgerichts Stuttgart. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) führte in seinem Berufungsurteil aus, dass Rettungssanitäter wie der Kläger während ihrer Arbeitszeit zwar einem erhöhten Risiko der Konfrontation mit traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt seien.
Ausreichend gesicherte neue medizinische Erkenntnisse über ein deutlich erhöhtes Risiko bei Rettungssanitätern, eine beruflich verursachte PTBS zu entwickeln, lägen aber ebenso wenig vor wie medizinische Erkenntnisse über den Umstand, dass (allein) die wiederholte Konfrontation der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet sei, eine PTBS zu verursachen.
Gegen diese ablehnende Entscheidung des LSG legte der Kläger Revision beim Bundessozialgericht (BSG) ein. Dieses holte zunächst Stellungnahmen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sowie des Ärztlichen Sachverständigenbeirats und Sachverständigengutachten zum Auftreten und zu Ursachenzusammenhängen von PTBS in der Berufsgruppe der Rettungssanitäter ein. Hiernach nahm des BSG seine rechtliche Bewertung vor.
Die Richterinnen und Richter sind der Auffassung, dass die Ablehnung der Anerkennung einer „Wie-Berufskrankheit“ durch die Vorinstanzen rechtswidrig war. Die PTBS sei eine Erkrankung, die wegen der besonderen Einwirkungen, denen Rettungssanitäter gegenüber der übrigen Bevölkerung ausgesetzt sind, als „Wie-Berufskrankheit“ bei dieser Personengruppe anzuerkennen ist.
Rettungssanitäter seien einem erhöhten Risiko der Konfrontation mit traumatisierenden Ereignissen (unter anderem erfolglose Rettungsmaßnahmen, Bergung von Schwerverletzten oder Unfalltoten, Auffinden von Suizidenten und insbesondere das Auffinden und Bergen von Kindern) ausgesetzt.
Diese Einwirkungen seien abstrakt generell nach dem Stand der Wissenschaft Ursache einer PTBS. Der generelle Ursachenzusammenhang ergebe sich jedenfalls für die PTBS bereits aus den international anerkannten Diagnosesystemen sowie den Leitlinien der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften.
Die Erkenntnisse zu diesem Ursachenzusammenhang seien auch „neu“ im Rechtssinne. Bis jetzt sei nicht einmal eine Vorprüfung durch die zuständigen Gremien erfolgt, so dass sich die Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt mit dem aus den Diagnosesystemen ableitbaren Ursachenzusammenhang auseinandergesetzt beziehungsweise eine Anerkennung oder Ablehnung der PTBS als (Listen-)Berufskrankheit bei Rettungssanitätern geprüft habe. Daher seien die Voraussetzungen einer „Wie-Berufskrankheit“ im Sinne des § 9 SGB II gegeben (BSG-Entscheidung vom 22.06.2023 – Az. B 2 U 11/20R).
Allerdings trafen die Richterinnen und Richter des BSG keine für den Kläger abschließende Entscheidung, sondern verwiesen die Angelegenheit an das LSG Baden-Württemberg zur erneuten Entscheidung zurück. Dieses hatte keine Feststellungen zu den individuellen Voraussetzungen einer tätigkeitsbedingten PTBS als Wie-Berufskrankheit beim Kläger getroffen, sondern die Einstufung einer PTBS als „Wie-Berufskrankheit“ generell abgelehnt. Diese Feststellungen muss das LSG nun nachholen.
Gemäß § 9 des Zweiten Sozialgesetzbuches (SGB II) gelten als Berufskrankheiten solche Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz begründenden Tätigkeit erleiden. Die anerkannten Berufskrankheiten sind als Anlage zur Berufskrankheitenverordnung aufgeführt (sogenannte Berufskrankheitenliste oder BK-Liste).
Die Bundesregierung listet darin solche Krankheiten auf, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.
Zudem haben nach § 9 SGB II die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die (noch) nicht in der BK-Liste bezeichnet ist, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die BL-Liste erfüllt wären (sogenannte Wie-Berufskrankheit).