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Trauma als Berufskrankheit?

Posttraumatische Belastungsstörung eines Rettungssanitäters
Trauma als Berufskrankheit?

Trauma als Berufskrankheit?
Foto: © Andre – stock.adobe.com
Der Kläger war als Ret­tungssan­itäter tätig und erlebte viele trau­ma­tisierende Ereignisse, die zu ein­er Post­trau­ma­tis­chen Belas­tungsstörung (PTBS) geführt haben. Trau­ma als Beruf­skrankheit? Die Unfal­lver­sicherung hat die Anerken­nung der PTBS als Beruf­skrankheit abgelehnt. Das Bun­dessozial­gericht ver­han­delte let­ztin­stan­zlich, ob die PTBS des Klägers als „Wie-Beruf­skrankheit“ anerkan­nt wer­den kann.

Der 57-jährige Kläger war als Ret­tungssan­itäter tätig. Im Juli 2016 legte er bei der Beklagten, der geset­zlichen Unfal­lver­sicherung, einen Ent­las­sungs­bericht aus der Klinik vor, in dem unter anderem eine Post­trau­ma­tis­che Belas­tungsstörung (PTBS) fest­gestellt wurde. Der Bericht führte aus, der Kläger habe im Ret­tungs­di­enst viele trau­ma­tisierende Erleb­nisse gehabt (beispiel­sweise war er im Jahr 2009 bei dem Amok­lauf in ein­er Realschule in Win­nen­den einge­set­zt, bei dem ein 17-jähriger Schüler 16 Men­schen und sich selb­st tötete).

Gle­ichzeit­ig habe der Kläger über Per­son­alk­nap­pheit und ähn­liche ihn belas­tende Vorgänge in der Ret­tungswache berichtet. Konkret habe die beschriebene Symp­to­matik nach zwei Amok­läufen begonnen, als der Kläger als Helfer einge­set­zt wor­den sei, sowie nach Suiziden von zwei miteinan­der befre­un­de­ten Mäd­chen. Die Unfal­lver­sicherung lehnte die Anerken­nung ein­er Beruf­skrankheit jedoch ab. Zudem stellte sie fest, dass die Erkrankung auch nicht als „Wie-Beruf­skrankheit“ anzuerken­nen sei.

Der Wider­spruch des Klägers gegen die ablehnende Entschei­dung der Unfal­lver­sicherung blieb erfol­g­los, wie auch seine Klage gegen das erstin­stan­zliche Urteil des Sozial­gerichts Stuttgart. Das Lan­dessozial­gericht Baden-Würt­tem­berg (LSG) führte in seinem Beru­fung­surteil aus, dass Ret­tungssan­itäter wie der Kläger während ihrer Arbeit­szeit zwar einem erhöht­en Risiko der Kon­fronta­tion mit trau­ma­tisieren­den Ereignis­sen aus­ge­set­zt seien.

Aus­re­ichend gesicherte neue medi­zinis­che Erken­nt­nisse über ein deut­lich erhöht­es Risiko bei Ret­tungssan­itätern, eine beru­flich verur­sachte PTBS zu entwick­eln, lägen aber eben­so wenig vor wie medi­zinis­che Erken­nt­nisse über den Umstand, dass (allein) die wieder­holte Kon­fronta­tion der Ers­thelfer mit trau­ma­tis­chen Ereignis­sen bei anderen Per­so­n­en generell geeignet sei, eine PTBS zu verursachen.

 

Rettungssanitäterin bringt Schwerverletzte in den Notfallwagen
Ret­tungssan­itä­terin bringt Schw­erver­let­zte in den Not­fall­wa­gen.
Foto: © Nolte – stock.adobe.com

Gegen diese ablehnende Entschei­dung des LSG legte der Kläger Revi­sion beim Bun­dessozial­gericht (BSG) ein. Dieses holte zunächst Stel­lung­nah­men des Bun­desmin­is­teri­ums für Arbeit und Soziales sowie des Ärztlichen Sachver­ständi­gen­beirats und Sachver­ständi­gengutacht­en zum Auftreten und zu Ursachen­zusam­men­hän­gen von PTBS in der Beruf­s­gruppe der Ret­tungssan­itäter ein. Hier­nach nahm des BSG seine rechtliche Bew­er­tung vor.

Die Rich­terin­nen und Richter sind der Auf­fas­sung, dass die Ablehnung der Anerken­nung ein­er „Wie-Beruf­skrankheit“ durch die Vorin­stanzen rechtswidrig war. Die PTBS sei eine Erkrankung, die wegen der beson­deren Ein­wirkun­gen, denen Ret­tungssan­itäter gegenüber der übri­gen Bevölkerung aus­ge­set­zt sind, als „Wie-Beruf­skrankheit“ bei dieser Per­so­n­en­gruppe anzuerken­nen ist.

Ret­tungssan­itäter seien einem erhöht­en Risiko der Kon­fronta­tion mit trau­ma­tisieren­den Ereignis­sen (unter anderem erfol­glose Ret­tungs­maß­nah­men, Bergung von Schw­erver­let­zten oder Unfall­toten, Auffind­en von Suiziden­ten und ins­beson­dere das Auffind­en und Bergen von Kindern) ausgesetzt.

Diese Ein­wirkun­gen seien abstrakt generell nach dem Stand der Wis­senschaft Ursache ein­er PTBS. Der generelle Ursachen­zusam­men­hang ergebe sich jeden­falls für die PTBS bere­its aus den inter­na­tion­al anerkan­nten Diag­nosesys­te­men sowie den Leitlin­ien der wis­senschaftlich-medi­zinis­chen Fachgesellschaften.

Die Erken­nt­nisse zu diesem Ursachen­zusam­men­hang seien auch „neu“ im Rechtssinne. Bis jet­zt sei nicht ein­mal eine Vor­prü­fung durch die zuständi­gen Gremien erfol­gt, so dass sich die Bun­desregierung zu keinem Zeit­punkt mit dem aus den Diag­nosesys­te­men ableit­baren Ursachen­zusam­men­hang auseinan­derge­set­zt beziehungsweise eine Anerken­nung oder Ablehnung der PTBS als (Listen-)Berufskrankheit bei Ret­tungssan­itätern geprüft habe. Daher seien die Voraus­set­zun­gen ein­er „Wie-Beruf­skrankheit“ im Sinne des § 9 SGB II gegeben (BSG-Entschei­dung vom 22.06.2023 – Az. B 2 U 11/20R).

Allerd­ings trafen die Rich­terin­nen und Richter des BSG keine für den Kläger abschließende Entschei­dung, son­dern ver­wiesen die Angele­gen­heit an das LSG Baden-Würt­tem­berg zur erneuten Entschei­dung zurück. Dieses hat­te keine Fest­stel­lun­gen zu den indi­vidu­ellen Voraus­set­zun­gen ein­er tätigkeits­be­d­ingten PTBS als Wie-Beruf­skrankheit beim Kläger getrof­fen, son­dern die Ein­stu­fung ein­er PTBS als „Wie-Beruf­skrankheit“ generell abgelehnt. Diese Fest­stel­lun­gen muss das LSG nun nachholen.


Autor: Recht­san­walt Matthias Klagge, LL.M.
Tigges Recht­san­wälte
E‑Mail: klagge@tigges.legal
 
Foto: pri­vat

Gemäß § 9 des Zweit­en Sozialge­set­zbuch­es (SGB II) gel­ten als Beruf­skrankheit­en solche Krankheit­en, welche die Bun­desregierung durch Rechtsverord­nung mit Zus­tim­mung des Bun­desrates als Beruf­skrankheit­en beze­ich­net und die Ver­sicherte infolge ein­er den geset­zlichen Unfal­lver­sicherungss­chutz begrün­den­den Tätigkeit erlei­den. Die anerkan­nten Beruf­skrankheit­en sind als Anlage zur Beruf­skrankheit­en­verord­nung aufge­führt (soge­nan­nte Beruf­skrankheit­en­liste oder BK-Liste).

Die Bun­desregierung lis­tet darin solche Krankheit­en auf, die nach den Erken­nt­nis­sen der medi­zinis­chen Wis­senschaft durch beson­dere Ein­wirkun­gen verur­sacht sind, denen bes­timmte Per­so­n­en­grup­pen durch ihre ver­sicherte Tätigkeit in erhe­blich höherem Grade als die übrige Bevölkerung aus­ge­set­zt sind.

Zudem haben nach § 9 SGB II die Unfal­lver­sicherungsträger eine Krankheit, die (noch) nicht in der BK-Liste beze­ich­net ist, wie eine Beruf­skrankheit als Ver­sicherungs­fall anzuerken­nen, sofern im Zeit­punkt der Entschei­dung nach neuen Erken­nt­nis­sen der medi­zinis­chen Wis­senschaft die Voraus­set­zun­gen für eine Auf­nahme in die BL-Liste erfüllt wären (soge­nan­nte Wie-Berufskrankheit).

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