Der Einsatz von Handschuhen ist eine der zentralen personenbezogenen Schutzmaßnahmen im Arbeitsschutz um sich zum Beispiel bei ätzenden Stoffen vor Hautkontakt zu schützen.
Welche Fallstricke hier lauern können, zeigt das folgende Beispiel aus der Praxis.
Durchdringungszeit von Handschuhmaterialien
Um den Hautkontakt mit einem ätzenden Stoff zu vermeiden wurde aus Abschnitt 8.2 des Sicherheitsdatenblattes (SDB) ein Handschuhmaterial mit vermeintlich ausreichender Durchdringungszeit ausgewählt.
Aber: Das Handschuhmaterial zerbröselte buchstäblich innerhalb weniger Sekunden beim (unbeabsichtigten) Spritzkontakt mit der Chemikalie, anstatt „wie laut Angaben aus dem SDB mind. 10 min die Hände zu schützen“.
Was ist hier genau passiert bzw. falsch gelaufen?
Im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung wurde für die nur kurzzeitige Tätigkeit (wenige Minuten) mit geringer Kontaktfläche (Spritzer) die Durchdringungszeit des Handschuhmaterials 1 für Spritzkontakt ( 10 min) als „ausreichend“ bewertet.
Für die Durchdringungszeiten gibt es insgesamt 6 Klassen, wie die folgende Tabelle zeigt:
Ein Wert „ 10 min“ bedeutet, dass die Durchdringungszeit bei mindestens 10 Minuten bis maximal 30 Minuten (Wert der nächsthöheren Klasse) liegt.
Die maximale Prüfdauer liegt bei 480 Minuten. Wenn nach 480 Minuten (8 h) noch keine Durchdringung gemessen wurde, wird die Messung beendet (und als Klasse 6 deklariert).
Schauen wir uns zuerst die Kennzeichnung und die Eigenschaften der Chemikalie genauer an: In Abschnitt 2.2 des SDBs befindet sich die Kennzeichnung:
Bei der Gefährdung „Hautverätzung und Augenschäden“ (H‑Satz 314) dürfte jedem Anwender klar sein, dass „Schutzhandschuhe/ Schutzkleidung/ Augenschutz/ Gesichtsschutz tragen“ Pflicht sind, was durch den gleichnamigen P‑Satz P280 im SDB deutlich gemacht wird.
Laut SDB hat die Chemikalie einen Schmelzpunkt von ca. 26 °C, ist also bei der Standard-Raumtemperatur (20 °C) fest.
Feststoffe können Handschuhmaterialien nicht so einfach durchdringen wie das Flüssigkeiten können.
Niedrigschmelzende Feststoffe erwärmen um sie zu verflüssigen
Ganz anders sieht es bei Flüssigkeiten aus: Wenn ein „niedrigschmelzender“ Feststoff auf Temperaturen oberhalb seines Schmelzpunkts (hier 26 °C) erwärmt wird und damit zur Flüssigkeit wird, kann die Chemikalie das Handschuhmaterial viel leichter durchdringen.
Und genau das war hier passiert: Um den bei Raumtemperatur sehr zähflüssigen Feststoff aus der Vorratsflasche in die Apparatur „gießen“ zu können wurde die Chemikalienflasche auf eine Temperatur von mehr als 26 °C erwärmt.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass bei der Prüfung von Handschuhmaterialien gegen die Durchdringung (gemäß der Norm EN 374–3, inzwischen ersetzt durch EN 16523–1) eine Prüftemperatur von 23 °C vorgeschrieben ist.
Haftungsausschluss in SDB bezogen auf abweichende Bedingungen
Aus diesem Grund befindet sich in vielen Sicherheitsdatenblättern in Abschnitt 8.2 ein sog. „Haftungsausschluss“ der zum Beispiel bei höheren Anwendungstemperaturen Bedeutung gewinnt. Der Satz lautet meistens so ähnlich wie: „Die Werte der Durchdringungszeiten gelten nur für das im SDB genannte Produkt, das von uns geliefert wird und den von uns angegebenen Verwendungszweck. Bei der Lösung in oder bei der Vermischung mit anderen Substanzen und bei von der EN 374 abweichenden Bedingungen müssen Sie sich an den Lieferanten von CE-genehmigten Handschuhen wenden.“
Genau hier liegt der Knackpunkt: Bei der Erwärmung der Chemikalie auf über 26 °C wird von den Prüfbedingungen der EN 374 (Prüftemperatur: 23 °C) abgewichen. Damit kann – nicht muss – sich die Durchdringungszeit verändern.
Messung der Durchdringungszeiten bei höheren Temperaturen
Daraufhin wurden für zwei Handschuhmaterialien die Messung der Durchdringungszeiten bei Temperaturen von
23 °C und von einer deutlich höheren Temperatur (60 °C) in Auftrag gegeben mit folgenden Ergebnissen:
- Bei dem Handschuhmaterial für den Spritzkontakt (1) ist die Durchdringungszeit bei Temperaturerhöhung von 23 °C auf 60 °C von ca. 25 min auf 0 min abgesunken.
- Bei dem Handschuhmaterial für den Vollkontakt (2) bleibt die Durchdringungszeit trotz Temperaturerhöhung unverändert (480 min bei 23 °C und
60 °C), wie die folgende Graphik zeigt:
Die TRGS 401 weist ebenfalls darauf hin, dass die Durchdringungszeit stark temperaturabhängig ist und dass, wenn die Durchdringungszeit entsprechend der Norm bei 23 °C ermittelt worden ist, die maximale Tragedauer unter Praxisbedingungen auf ein Drittel zu kürzen ist.
Normbedingungen entsprechen nicht Arbeitsplatzbedingungen
An dieser Stelle fragen Sie sich bestimmt, wozu man dann überhaupt Ergebnisse aus Normen braucht, wenn diese mit den Bedingungen am Arbeitsplatz nicht vergleichbar sind?
Normergebnisse mit standardisierten Prüfbedingungen – also z.B. 23 °C – ermöglichen einen schnellen und einfachen Produktvergleich bezüglich der Schutzwirkung – mehr aber auch nicht!
Die Frage wäre ja auch: Bei welchen anderen Temperaturen soll denn dann sonst noch gemessen werden? 30, 40, 50 °C? Da würden sich wahrscheinlich gleich mehrere weitere Temperaturen anbieten. Der Messaufwand würde schnell ins Unermessliche steigen und ein direkter Vergleich aller Handschuhe bei einer Temperatur wäre nur noch schwer möglich.
Normtemperatur von 23 °C entspricht ungefähr der Raumtemperatur
Aber warum wird gerade bei einer Temperatur von 23 °C und nicht 33 °C gemessen? Es ist ja bekannt, dass sich getragene Handschuhe aufgrund der Körpertemperatur von 37 °C auf 33 °C erwärmen.
Das lässt sich leicht erklären: Es ist weniger aufwendig, die Prüfapparatur und die Prüfumgebung konstant bei einer Temperatur von 23 °C zu halten, die ja ungefähr der Raumtemperatur entspricht als bei einer höheren Temperatur von zum Beispiel 33 °C!
Mit Absicht wurde in diesem Praxisbeispiel weder die Chemikalie noch das Handschuhmaterial oder der Handschuhhersteller oder ‑lieferant mit Namen genannt. Denn es geht in diesem Artikel nicht um das „Versagen“ eines bestimmten Handschuhmaterials, sondern um die Sensibilisierung bezüglich der richtigen Auswahl von Schutzhandschuhen, und deren Einsatz. Und letzten Ende steht dieses Praxisbeispiel auch nur stellvertretend für viele abweichende Bedingungen von Prüfnormen wie zum Beispiel Lösung oder Vermischung mit anderen Substanzen.
Fazit und Unterweisung
Bei der Gefährdungsbeurteilung von Tätigkeiten mit Gefahrstoffen müssen alle Randbedingungen wie zum Beispiel (erhöhte) Anwendungstemperaturen genau betrachtet werden um sicher mit Gefahrstoffen arbeiten zu können.
Dieses Beispiel verwenden wir sehr oft in Unterweisungen zum Thema PSA und Chemikalienschutzhandschuhe – etwas drastischer und anschaulicher dargestellt, als im Rahmen dieses Beitrags. Denn es geht darum, die Mitarbeiter für die vielfältigen „das alles kann in der Praxis passieren, das alles ist wichtig zu bedenken“ zu informieren und zu sensibilisieren. So dass diese möglichst alle Ge- und Verbote kennen und im eigenen Interesse auch berücksichtigen. Und dafür, damit die Mitarbeiter ihren gesunden Menschenverstand, der bei allen vorhanden ist, auch wirklich wagen einzusetzen und zu nutzen.
Autorin: Dr. Birgit Stöffler
Sicherheitsingenieurin, stellv. Mitglied
im Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS),
Lehrbeauftragte an der TU Darmstadt