Der Leitsatz „better safe than sorry“ zählt laut Jardine et al. (2003) zu den zehn goldenen Regeln der allgemeinen Risikobewertung. Sinngemäß auf Deutsch übersetzt – „doppelt genäht hält besser“ – wird die Intention dieses Leitsatzes durchaus klar, aber weniger prägnant als eigentlich gemeint. Er soll zum Ausdruck bringen, dass gerade dann, wenn das Ausmaß einer Risikoexposition zum Teil oder auch gänzlich unbekannt ist, besondere Vorsicht geboten ist.
In Bezug auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz also schon eher wörtlich übersetzt: Lieber sicher sein, als einen entstandenen Schaden hinterher bedauern zu müssen.
Bei näherem Hinsehen ist diese Botschaft vor allem im Kontext der Gefährdungsbeurteilung (im Folgenden: GBU) psychischer Belastung von Bedeutung. Warum? Das wird im Folgenden anhand eines Forschungsprojekts bei der thyssenkrupp Steel Europe AG näher beleuchtet.
Die Frage nach den Grenzwerten
Psychische Belastung ist ein wertneutraler Sammelbegriff, der alle von außen erfassbaren Einflüsse zusammenfasst, die psychisch auf den Menschen einwirken und von dem Begriff der Beanspruchung – den daraus resultierender Folgen – abzugrenzen ist. Die im Arbeitsschutzgesetz verankerte GBU fordert, Gefährdungen zu erfassen und diese über das Kriterium des Risikos zu beurteilen.
Auch wenn heute Operationalisierungen des Gefährdungsfaktors psychische Belastung hinsichtlich der in der GBU zu erfassenden Inhalte verfügbar sind (die vier Merkmalsbereiche bzw. Gefährdungen Arbeitsinhalt/-aufgabe, Arbeitsorganisation, Soziale Beziehungen und Arbeitsumgebung aus dem Arbeitsprogramm Psyche der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA, 2017)), kann der interessierte Fachmann oder Fachfrau bei genauerem Hinsehen schnell in eine missliche Lage geraten. Denn Anzahl und Inhalte der Verfahren wirken ebenso vielfältig wie unübersichtlich, und das Wissen, über die Eignung solcher Verfahren zu befinden, ist oft nicht vorhanden.
Zudem bleibt eine Frage häufig unklar:
- Wie lässt sich feststellen, welche der erfassten Gefährdungen mit welchem Risiko einzustufen sind und mit welcher Priorität?
Die Frage kann zunächst irreführend wirken, bieten Instrumente zur GBU psychischer Belastung doch üblicherweise einen Maßstab zur Beurteilung der erzielten Ergebnisse gleich mit an. Dies geschieht unter anderem durch Anwendung statistischer Streuungsmaße (z. B. arithmetisches Mittel, Median, Varianz, Standardabweichung), multivariater Analyseverfahren (wie z. B. Regressionsanalysen), oder einfacherer Anwendungen, wie zum Beispiel die Darstellung von Häufigkeitsverteilungen im Sinne einer Ampel-Logik (viel – mittel – wenig). Darüber hinaus existieren weitere Verfahren, die an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden.
Auch wenn eine solche Vielfalt in der Arbeitswissenschaft nicht unüblich ist (da ein Verfahren und dessen Beurteilungssystematik für sich stehen kann, solange es auf Eignung hin untersucht wurde), offenbart sich dem kritischen Leser letztlich doch eins: Während für viele andere Faktoren im Arbeitsschutz einheitliche und vermeintlich objektivere Verfahren sowohl zur Erfassung als auch zur Beurteilung existieren – exemplarisch Grenzwerte für Schall oder zum Strahlenschutz –, scheint das für psychische Belastung nicht zu gelten. Ist das korrekt? Im Zuge dieser Frage wird auch deutlich, warum der Leitsatz „better safe than sorry“ hier so bedeutsam ist. Wenn Unklarheiten hinsichtlich der Frage bestehen, welches Risiko mit der Belastungsexposition einhergeht, muss besondere Vorsicht an den Tag gelegt werden.
Ein Lösungsversuch
Der Fokus des eingangs genannten Forschungsprojekts (Metzler, von Groeling-Müller, & Bellingrath, 2019) lag in dieser Konsequenz auf einem Aspekt, der bis heute erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erhalten hat:
- Wie kann das, was im Rahmen der Gefährdungsanalyse psychischer Belastung erfasst wurde, sinnvoll evaluiert beziehungsweise beurteilt werden?
Die thyssenkrupp Steel Europe AG hat sich als Ergebnis mehrerer Pilotstudien und in Zusammenarbeit mit der Arbeitnehmervertretung für die Anwendung eines Fragebogens, des Copenhagen Psychosocial Questionnaires (COPSOQ) (Nübling, Stößel, Hasselhorn, Michaelis, & Hofmann, 2005), im Rahmen der GBU psychischer Belastung entschieden und dies in einer Betriebsvereinbarung festgehalten. Die Abbildung 1 zeigt die Belastungsfaktoren zu psychischer Belastung und Beanspruchung (Outcomes), die die verwendete Version des COPSOQs abfragt. Dabei kommt ein mehrstufiges Vorgehen zum Einsatz. Während im ersten Schritt die Befragung direkt am Arbeitsplatz auf freiwilliger Basis durchführt wird, werden anschließend die Ergebnisse der Befragung in Workshops zusammen mit der Belegschaft verdichtet. Das wird im Sinne einer Ursachenanalyse unternommen, um herauszufinden, wie die Beantwortung der Fragen zustande gekommen ist, und somit die entsprechenden Quellen ausfindig zu machen. Im dritten Schritt werden die im Workshop direkt erarbeiteten Verbesserungsvorschläge durch ein Beurteilungsteam, bestehend aus Betriebsleitung, Betriebsarzt, Sicherheitsfachkraft und Betriebsrat, diskutiert und abschließend Maßnahmen zur Risikominimierung / ‑eliminierung eingeleitet.
Auch der COPSOQ bietet dabei unterschiedliche Methoden zur Beurteilung der erfassten Belastungsfaktoren an. Zum einen durch die Antwortskala zu den gestellten Fragen selbst. Hinter der größtenteils fünfstufigen Antwortskala (fast nie – … – fast immer) ist wiederum eine Punkteskala von 0 – 100 Punkten hinterlegt. Darauf aufbauend können Mittelwerte der einzelnen Belastungsfaktoren gebildet werden, deren Ausprägung Informationen über die Frequenz bzw. die Eintrittswahrscheinlichkeit geben (0 = fast nie – … – 100 = fast immer). Zum anderen durch einen Vergleich der Mittelwerte aus der eigenen COPSOQ-Befragung mit Mittelwerten von Belastungsfaktoren aus einer Referenzdatenbank. Die COPSOQ-Referenzdatenbank stellt Mittelwerte aus 10.000 berufsrepräsentativen Fällen der deutschen Erwerbsbevölkerung zur Verfügung (Nübling et al., 2017). Referenzdatenbanken bzw. Expositionsmatrizen sind im Sinne von Grenzwerten gängige Verfahren zur Beurteilung erfasster Gefährdungen, deren wesentlicher Vorteil darin besteht, gruppenbezogene Messwerte – z. B. für bestimmte Tätigkeiten oder Branchen – über Einzelbetrachtungen hinaus zur Verfügung zu stellen (Latza & Seidler, 2017). Weiterhin erlauben die mittels COPSOQ generierten Daten die Anwendung diverser statistischer Analyseverfahren. Womit der Kreis zur Vielfalt der Beurteilungsmethoden wieder geschlossen, die Ausgangsfrage aber keinesfalls beantwortet ist.
Im Rahmen des erwähnten Forschungsprojekts wurden daher auf Grundlage einer umfangreichen Befragung mittels COPSOQ an 549 Hochofenmitarbeitern vier verschiedene Methoden zur Risikoevaluation – also zur Beurteilung psychischer Belastung – in vier verschiedenen Mitarbeitergruppen (1. Schichtkoordinatoren, 2. Mitarbeiter in der Produktion, 3. Mitarbeiter in der Instandhaltung, 4. Mitarbeiter im Leitstand) miteinander verglichen:
- Ein direkter Mittelwertvergleich der Belastungsfaktoren untereinander – d. h. welche Belastungsfaktoren haben der Reihenfolge nach die höchsten Mittelwerte erzielt und sind damit am schlechtesten bewertet worden.
- Ein Vergleich der Mittelwerte der Belastungsfaktoren aus der Befragung mit den Mittelwerten der COPSOQ-Referenzdatenbank. Unterschiede zwischen den Mittelwerten wurden außerdem auf statistische Signifikanz hin überprüft.
- Die Anwendung einer multiplen Regressionsanalyse – ein statistisches Verfahren, das den Einfluss der COPSOQ-Skalen zu psychischer Belastung auf psychische Beanspruchung errechnet.
- Die Anwendung eines Risikoschätzers von Clarke and Cooper (2000) (im Folgenden: CCA). Dieser Risikoschätzer basiert auf einer Korrelation zwischen psychischer Belastung und Beanspruchung. Das Ergebnis dieser Korrelation wird im Sinne gängiger Risikoformeln (Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensschwere) mit den Mittelwerten der Belastungsfaktoren multipliziert.
Die Ergebnisse zeigen, dass der Umstand, welcher Belastungsfaktor mit welcher Priorität tatsächlich als Risiko eingestuft wird, stark von der verwendeten Beurteilungsmethode abhängt (Tabelle 1). Während innerhalb der verwendeten Beurteilungsmethode über die Berufsgruppen hinweg die Ergebnisse eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen, sind die Ergebnisse je nach Beurteilungsmethode stark unterschiedlich. So stellen sich z. B. bei Anwendung des direkten Mittelwertvergleichs (Methode Nr. 1) in der Gruppe der Produktionsmitarbeiter die Faktoren Einfluss bei der Arbeit, Entscheidungsspielraum und Feedback als relevant heraus, während sich unter Anwendung des CCA (Methode Nr. 4) die Faktoren Gemeinschaftsgefühl, Rollenkonflikte und Vertrauen und Gerechtigkeit als wesentliche Risiken herausstellen.
Diese Erkenntnis ist insoweit wichtig, als sie ein zentrales Anliegen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, nämlich die relevantesten Einflussgrößen auf Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten zu identifizieren und Lösungsansätze dazu zu entwickeln, herausfordert. Natürlich ist hiermit aber auch der Aspekt optimaler Ressourcenallokation unternehmerischer Mittel verbunden, der schlussendlich auch ein Licht auf die Professionalität des Arbeits- und Gesundheitsschutzes wirft.
Die in Tabelle 1 dargestellten Unterschiede sind jedoch aus den verwendeten Methoden heraus erklärbar. Während der direkte Mittelwertvergleich (Methode Nr. 1) vor allem die direkte Einschätzung der Mitarbeiter zu den Belastungsfaktoren widerspiegelt, stellt der Vergleich mit Werten aus einer Expositionsmatrix (Methode Nr. 2) einen grundlegend anderen Ansatz dar. Vor allem bei psychischer Belastung muss außerdem beachtet werden, dass insbesondere Belastungsfaktoren wie Gemeinschaftsgefühl oder Führungsqualität übergreifend weder tätigkeits- noch berufsbezogene Charakteristika sein können, sondern vielmehr Situationsbeschreibungen der vor Ort herrschenden Bedingungen. Ebenso verhält es sich mit den Methoden 3 und 4, die auf unterschiedliche Weise einen korrelativen Bezug zu der Beanspruchung herstellen.
Auch wenn laut Arbeitsschutzgesetz Gefahren an ihrer Quelle zu bekämpfen sind, womit klar auf Belastungsfaktoren referiert wird, muss der Einbezug der Beanspruchung in die GBU psychischer Belastung diskutiert werden. Das liegt unter anderem auch darin begründet, dass bislang nicht feststellbar ist, welcher Wert bei einer wie im Falle des COPSOQ verwendeten Bewertungsskala von 0 – 100 Punkten verlässlich impliziert, wann „zu viel“ denn auch wirklich „zu viel“ ist. Ist es ein Mittelwert von 76, oder vielleicht ein Mittelwert von 80 Punkten, der die Grenze der Zumutbarkeit anzeigt? Solche Informationen könnten nur dann erlangt werden, wenn man die Ausprägung psychischer Belastung im Kontext mit den daraus resultierenden Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden betrachtet, wie es bei häufig angewendeten Risikobestimmungen mit den Komponenten Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensschwere (z. B. Nohl, 1989) auch erfolgt. Sowohl hinsichtlich psychischer Belastung als auch Beanspruchung ist die Frage nach einem einheitlichen Referenz- oder Bewertungssystem allerdings nach wie vor unklar (Nachreiner, 2002). In dieser Hinsicht besteht weiterhin Forschungsbedarf.
Und was nun?
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts haben gezeigt, dass die verwendete Beurteilungsmethode die Wahl der Handlungsschwerpunkte im Rahmen der GBU stark beeinflussen kann. Die wichtige Einsicht jedoch, die mit der Beleuchtung der hier dargestellten Problemlage einhergeht, ist, dass dieser Umstand aus praktischer Sicht erst einmal nicht problematisch sein muss. Da die gezeigten Unterschiede zwischen den Beurteilungsmethoden nämlich ein Produkt der gewählten Verfahrensweisen und Methoden zur Beurteilung psychischer Belastung sind, können die Erkenntnisse aus der Studie letztlich keine inhaltlich-theoretische Begründung für oder gegen einen der gezeigten Ansätze bieten. Bis weitere Erkenntnisse neue Schlüsse zulassen, spielen statt messtheoretischer Aspekte praktische Fragestellungen eine viel größere Rolle dafür, ob im Rahmen der GBU psychischer Belastung als kontinuierlicher Verbesserungsprozess ein spürbarer Nutzen erzielt werden kann (Krause & Deufel, 2014). So bietet sich die Freiheit, einen zu der Ausgangslage der eigenen Organisation passenden Ansatz zu wählen.
Und dadurch statt des zu Anfang dieses Artikels skizzierten Dilemmas, trotz der vielleicht ungewohnt vielfältigen Herangehensweisen, auch eine Chance. In keinem Fall kann die Komplexität der GBU psychischer Belastung jedoch als Vorwand herangezogen werden, untätig zu bleiben. Denn in jedem Fall gilt: Better safe than sorry!
Literatur / Quellen
- Clarke, S. G., & Cooper, C. L. (2000). The risk management of occupational stress. Health, Risk & Society, 2(2), 173–187.
- Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie. (2017). Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (Arbeitsschutz in der Praxis).
- Jardine, C., Hrudey, S., Shortreed, J., Craig, L., Krewski, D., Furgal, C., & McColl, S. (2003). Risk management frameworks for human health and environmental risks. Journal of toxicology and environmental health. Part B, Critical reviews, 6(6), 569–720.
- Krause, A., & Deufel, A. (2014). Kombinierter Einsatz von Fragebogen, Beobachtung und Gruppendiskussion im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung. In BAuA (Ed.), Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Erfahrungen und Empfehlungen. Berlin: Schmidt.
- Latza, U., & Seidler, A. (2017). What is a job exposure matrix (JEM), and what are the benefits? Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie, 67(3), 141–142.
- Metzler, Y. A., Groeling-Müller, G. von, & Bellingrath, S. (2019). Better safe than sorry: Methods for risk assessment of psychosocial hazards. Safety Science, 114, 122–139.
- Nachreiner, F. (2002). Über einige aktuelle Probleme der Erfassung, Messung und Beurteilung der psychischen Belastung und Beanspruchung. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 56(1–2), 10–21.
- Nohl, J. (1989). Grundlagen zur Sicherheitsanalyse: Grundlagen und Aufbau einer prospektiven Vorgehensweise im Arbeitsschutz. Zugl.: Kassel, Gesamthochsch., Diss., 1989. Studies in industrial and organizational psychology: Vol. 7. Frankfurt am Main: Lang.
- Nübling, M., Stößel, U., Hasselhorn, H.-M., Michaelis, M., & Hofmann, F. (2005). Methoden zur Erfassung psychischer Belastungen: Erprobung eines Messinstrumentes (COPSOQ) (Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin No. Fb 1058). Wirtschaftsverlag NW Verlag für neue Wissenschaft GmbH. Bremerhaven.
- Nübling, M., Vomstein, M., Haug, A., & Lincke, H.-J. (2017). Are reference data from the COPSOQ database suitable for a JEM on psychosocial factors at work? Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie, 67(3), 151–154.
Autor: Dr. Yannick Metzler
Koordinator für den Gesundheitsschutz im Geschäftsfeld Stahl der
thyssenkrupp Steel Europe AG.
E‑Mail: yannick.metzler@thyssenkrupp.com