Im betrieblichen Arbeitsschutz liegt der Fokus oft auf den akuten Unfall- und Verletzungsgefahren. Bei Absturzrisiken, rotierenden Sägeblättern oder heißen Oberflächen ist jedem die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen und Verhaltensregeln verständlich. Doch wirkt ein Risiko mit Verzögerung, etwa bei Lärmbelastungen, nimmt die Motivation, sich zu schützen, schnell ab. Auch viele Pülverchen, Pasten oder Flüssigkeiten am Arbeitsplatz wirken – wenn sie nicht gerade brodeln, dampfen, ätzen oder stinken – harmlos. Der ungeschützte Umgang damit kann auf lange Sicht aber fatale Folgen haben.
Das klassische Beispiel für unerwartete Langzeitwirkungen ist Asbest. Zwar wurden Herstellung und Verwendung der einstmals hochgelobten Wunderfaser bereits 1993 verboten, dennoch sterben bis heute – 30 Jahre später – immer noch rund 1.500 Menschen jedes Jahr an den Spätfolgen einer Asbestexposition. Auch andere, weniger in der Öffentlichkeit bekannte beruflich bedingte Erkrankungen können sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte entwickeln. So können zum Beispiel Folgen einer Vergiftung mit Kohlenmonoxid (CO) verzögert auftreten, sodass sich Sprachstörungen oder andere neurologische Ausfälle erst eine Zeitlang später bemerkbar machen. Andere Langzeiteffekte, manchmal vage als chronisch-toxische Wirkungen umschrieben, werden für Hauterkrankungen, Allergien, Organschädigungen und Krebs diskutiert.
40 Jahre Archivierungspflicht
Chemikalien, die Krebs auslösen, gelten als besonders tückisch, weil zwischen der Exposition mit dem Gefahrstoff und dem Ausbruch oder Entdecken des Krebses mehrere Jahrzehnte vergehen können. Diese Zeitdauer zwischen der ursprünglichen Schädigung und dem Auftreten von Symptomen bezeichnet man als Latenzzeit (lateinisch latens = verborgen), die Chemikalie wirkt im Verborgenen. Die DGUV nennt für krebserzeugende Gefahrstoffe eine durchschnittliche Latenzzeit von 40 Jahren.
Jeder Betrieb, in dem Mitarbeitende krebsauslösenden Stoffen ausgesetzt sind, muss ein Expositionsverzeichnis führen. Dies ist eine Forderung aus § 14, Absatz 3 der Gefahrstoffverordnung, die bereits seit 2005 besteht und in der TRGS 401 konkretisiert wird. Das Verzeichnis soll neben den Namen und Kontaktdaten der Beschäftigten die Art, Intensität und Dauer der Exposition dokumentieren.
Das Expositionsverzeichnis muss 40 Jahre lang aufbewahrt werden. Diese unüblich lange Archivierungspflicht ist aufgrund der langen Latenzzeit vieler Substanzen berechtigt. Über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten soll für alle Akteure – vom Betriebsarzt über Aufsichtsbehörden bis zum Betroffenen selbst – jederzeit einsehbar sein, wer an welchem Arbeitsplatz wie lange beziehungsweise wie häufig in welchem Ausmaß welchen Gefahrstoffen ausgesetzt war. Die Frist von 40 Jahren startet nach Beendigung der Exposition, ob durch Ruhestand oder Wechsel der Tätigkeit.
Folgen für die nächste Generation
Neben den krebserregenden Gefahrstoffen gibt es viele weitere Substanzen mit Langzeiteffekten auf die Gesundheit. Sie werden als sogenannte CMR-Stoffe in Anhang VI der CLP-Verordnung geführt. Die Buchstaben CMR beziehungsweise KMR stehen für die Art der Schädigung wie folgt:
- Als Carcinogenic (kanzerogen/krebserzeugend) werden Substanzen bezeichnet, die Krebs erzeugen oder die Krebserzeugung (bei Mensch oder Tier) fördern. Chemische Karzinogene werden weiter unterteilt in verschiedene Kategorien oder Gruppen. Dies wird jedoch kompliziert, da es unterschiedliche Einteilungssysteme gibt. Zum GHS-System der UN kommt eine Einstufung der IARC (Internationale Agentur für Krebsforschung). In Deutschland gibt es überdies die Einstufung durch die MAK-Kommission (Ständige Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe). Langzeitwirkung kann auch bedeuten, dass der ungeschützte Umgang mit einem Stoff sich nicht nur auf den Verwender selbst auswirkt, sondern Folgen bis in die nächste Generation haben kann.
- Als Mutagenic (keimzellmutagen/erbgutverändernd) gelten Substanzen, die vererbbare Mutationen verursachen können, auch als „genetische Defekte“ bezeichnet.
- Toxic to Reproduction (reproduktionstoxisch/fortpflanzungsgefährdend) bedeutet, dass ein Stoff das Kind im Mutterleib schädigen kann. Eine solche Substanz, die beim Embryo zu Missbildungen führen kann, bezeichnet man auch als teratogen (fruchtschädigend). Es liegt auf der Hand, dass diese Substanzen für Schwangere tabu sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch nicht, dass sie für Männer oder nicht schwangere Frauen harmlos wären.
Stoffe mit CMR-Wirkungen müssen selbstverständlich gekennzeichnet sein. Die Art der Gefährlichkeit lässt sich an den H‑Sätzen ablesen, maßgeblich sind deren ersten beiden Ziffern wie folgt:
- 34x steht für Mutagenität
- 35x steht für Karzinogenität
- 36x steht für Reproduktionstoxizität
Eine Liste der KMR-Stoffe, die online zugänglich ist, wird vom IFA-Institut der DGUV geführt und aktualisiert. Diese Liste enthält auch die Stoffe, die in der TRGS 905 „Verzeichnis krebserzeugender, keimzellmutagener oder reproduktionstoxischer Stoffe“ oder in der TRGS 906 „Verzeichnis krebserzeugender Tätigkeiten oder Verfahren“ genannt sind.
Unbekannte Langzeitrisiken
Noch eher wenig bekannt sind Langzeiteffekte verständlicherweise dann, wenn eine Substanz oder ihre Verwendung an Arbeitsplätzen noch recht neu ist. Expositionen bestehen dann erst über einen begrenzten Zeitraum und mögliche Langzeitfolgen müssen abgeschätzt werden. Dies gilt zum Beispiel für die meist Nanostäube genannten winzigen Feinststaubpartikel im Nanometer-Bereich oder die metallischen Pulver, die zunehmend in der Additiven Fertigung eingesetzt werden. Typische Beispiele für unbekannte Langzeitwirkungen außerhalb des Arbeitsplatzes sind die Folgen der weltweiten Verschmutzung mit Mikroplastik für Gesundheit und Umwelt oder die Langzeitwirkungen des derzeit im Trend liegenden Hanf-Inhaltsstoffs Cannabidiol (CBD), insbesondere wenn CBD-Produkte aus dem Internet täglich beziehungsweise über einen längeren Zeitraum eingenommen werden.
Als Depoteffekt bezeichnet man, wenn eine vom Körper aufgenommene Substanz lange Zeit im Körper verbleibt und somit konstant einwirkt. Typisch ist dies für Stoffe, die schwerlöslich sind und daher weder durch den Urin ausgeschieden noch vom Körper schnell abgebaut werden. Bei fehlender Abbaubarkeit und/oder Schwerlöslichkeit kann ein Stoff sich im Körper anreichern (Bioakkumulation). Diese Gefahr besteht – neben Asbest – zum Beispiel auch für Holzstäube sowie einige Metallverbindungen.
Langfristeffekte für die Umwelt
Das Ausmaß, inwiefern ein fremder Stoff – ob durch Einatmen, Verschlucken oder über die Haut aufgenommen – vom lebenden Organismus abgebaut wird, wird als Biopersistenz bezeichnet. Je nach Anwendung soll ein bestimmter Stoff, etwa ein Pestizid, einerseits in biologischen Umgebungen eine Zeitlang persistent (beständig) sein, andererseits jedoch aber im menschlichen Körper möglichst wenig biopersistent sein. Dies ist für die Entwickler solcher Substanzen oft eine schwierige Gratwanderung.
Substanzen, die persistent, bioakkumulierbar und toxisch sind, werden als PBT-Stoffe bezeichnet, sehr (very) persistente und sehr bioakkumulierbare Substanzen als vPvB-Stoffe. Diese Einteilung fokussiert – im Unterschied zur Klassifizierung in CMR-Stoffe – auf die Umweltgefährdung. PBT- und vPvB-Stoffe müssen besonders sorgfältig beurteilt werden, weil Langzeitwirkungen schwer vorhersagbar sind und eine Anreicherung (Akkumulation) in der Umwelt kaum mehr rückgängig gemacht werden kann. Auch eine Anreicherung über Nahrungsketten kann für den Menschen am Ende einer solchen Kette zu einer schleichenden Belastung mit kaum abschätzbaren Spätfolgen führen.
Unterstützung bei der Dokumentation
Die oben geschilderte Pflicht zur Dokumentation und Archivierung von Expositionsdaten kann gerade für kleinere Betriebe eine gewaltige Aufgabe darstellen.
Hier bietet die DGUV Unterstützung durch die sogenannte Zentrale Expositionsdatenbank ZED an. Vereinfacht gesagt, übernimmt damit die Gesetzliche Unfallversicherung die Archivierungs- und Aushändigungspflicht des Arbeitgebers. Das Angebot ist für jedes Unternehmen kostenfrei nutzbar. Auch jeder Beschäftigte hat das Recht, einen Ausdruck seiner in der ZED gespeicherten Daten von der DGUV zu verlangen. Weitere Informationen und das erfreulich unkomplizierte Antragsformular dafür gibt es auf der ZED-Website (siehe Linktipps).
Spätfolgen anderer Gefährdungen
Spätfolgen können im Übrigen nicht nur bei chemischen Gefährdungen durch Gefahrstoffe auftreten. Sie sind auch bei fast allen anderen Gefährdungsarten möglich: Stürze, Quetschungen, Verbrennungen oder Infektionen können sich zeitverzögert als deutlich folgenschwerer herausstellen, als es kurz nach dem Unfall den Anschein hatte. Eine Schwerhörigkeit mit 60 oder 70 Jahren kann auf ungeschütztes Arbeiten unter Lärm im Alter von 30 oder 40 zurückzuführen sein. Ein Elektrounfall kann zu neurologischen oder kardiologischen Langzeitkomplikationen führen.
Auch die Psyche kann auf belastende Ereignisse mit Verspätung reagieren: Eine Bedrohung am Arbeitsplatz, ein Raubüberfall oder der schwere Arbeitsunfall eines Kollegen können vermeintlich „gut weggesteckt“ sein, sich aber noch Monate später subtil durch Schlafstörungen oder Angstzustände äußern. Bei allem Engagement für Prävention und Gesundheitsschutz dürfen daher neben den direkten Gefährdungen und unmittelbaren Verletzungsrisiken die möglichen Langzeitwirkungen von zunächst harmlos erscheinenden Expositionen oder Vorkommnissen nicht vernachlässigt werden. Daher ist ein sorgsames Dokumentieren aller Vorfälle im Verbandbuch so wichtig.
„Zwischen der
Belastung aufgrund
einer beruflichen
Tätigkeit und dem möglichen Ausbruch eines Krebses liegen in der Regel durchschnittlich 40 Jahre.“
Aushändigungspflicht
Wichtig für Arbeitnehmende ist die Aushändigungspflicht des Arbeitgebers: Wer seine Arbeitsstelle innerhalb eines Zeitraums von 40 Jahren verlässt – was ja keineswegs selten vorkommt –, dem muss der Arbeitgeber die ihn oder sie betreffenden Auszüge aus dem Expositionsverzeichnis aushändigen. Mit dieser Regelung soll niemand in die Situation geraten, Jahre später in einem neuen Job oder als Rentner oder in einem Verfahren um eine Anerkennung einer Erkrankung als Berufskrankheit eine frühere Gefahrstoffexposition nicht nachweisen zu können.
Linktipps
- Die Liste der krebserzeugenden, keimzellmutagenen und reproduktionstoxischen Stoffe (KMR-Stoffe) des IFA Instituts für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung ist online zugänglich unter https://publikationen.dguv.de (Suchziffer 12750).
- Zur Führung eines Expositionsverzeichnisses können Arbeitgeber die Zentrale Expositionsdatenbank ZED nutzen. Voraussetzung hierfür ist die Einwilligung der Beschäftigten. Um sich zunächst einen Überblick über die Funktionalität der ZED machen zu können, stellt die DGUV eine Testversion zur Verfügung. Nähere Informationen und die Links zu den kostenlosen Angeboten gibt es unter www.dguv.de (Webcode: d1014446).
REACH-Verordnung verlangt nach Untersuchungen
Die Problematik der Langzeitwirkungen von Chemikalien auf die Gesundheit ist auch auf EU-Ebene in das Chemikalienrecht eingeflossen. So verlangt die REACH-Verordnung von der chemischen Industrie Untersuchungen zur Toxizität von Chemikalien nach wiederholter Aufnahme sowie Untersuchungen zu erbgutverändernden und fortpflanzungsgefährdenden Wirkungen. Versuche dazu sind jedoch aufwendig und – wenig überraschend – langwierig. Computermodelle und Versuche an Zellkulturen stoßen hier an Grenzen, sodass oft an Tierarten geforscht wird, die sich möglichst schnell fortpflanzen. Schleichende Wirkungen lassen sich nur schwer messen und das eindeutige Zuordnen von Ursache und Wirkung wird mit zunehmender Zeitdauer immer heikler. Insofern ist es keine große Überraschung, dass das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) bereits mehrfach monierte, dass in den nach REACH geforderten Registrierungsdossiers für Chemikalien wichtige Angaben zur Beurteilung der Langzeitwirkungen fehlen.
Nachgehende Vorsorge – auch als Rentner!
Der Begriff „Nachgehende Vorsorge“ klingt nach einem Widerspruch in sich, doch Gefahrstoffarbeiter sollten wissen, was es damit auf sich hat. Wer in seinem Berufsleben mit krebserzeugenden oder keimzellmutagenen Gefahrstoffen in Kontakt kam, hat nach Beendigung dieser Tätigkeit gemäß § 5, Absatz 3 ArbMedVV (Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge) Anspruch auf eine nachgehende Vorsorge. Wechselt man den Arbeitgeber, kann die Organisation der nachgehenden Vorsorge an die zuständige Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse übertragen werden. Diese Regelung soll sicherstellen, dass jeder Betroffene auch über sein aktives Berufsleben hinaus arbeitsmedizinisch betreut wird. Sie gilt – aufgrund der langen Latenzzeiten – auch für Tätigkeiten mit Blei und Bleiverbindungen oder mit Hochtemperaturwollen. An der nachgehenden Vorsorge teilzunehmen, ist freiwillig und kostenlos, auch die Reisekosten werden erstattet. Treten gesundheitliche Beschwerden auf, die mit einer früheren beruflichen Gefährdung durch die genannten Gefahrstoffe zusammenhängen, sollte man sich somit auch als Rentner noch an seine BG oder Unfallkassen wenden.
Die Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) hat ein Merkblatt mit Informationen rund um die nachgehende Vorsorge zusammengestellt. Die Übersicht kann online aufgerufen werden über www.bghm.de (Webcode: 631)