Vom hochtrabend klingenden Begriff „Evaluation“ oder seiner Variante „Evaluierung“ sollte sich niemand schrecken lassen. Gemeint ist schlichtweg eine Bewertung. Wenn eine Untersuchung und eine Bewertung ein gewisses Niveau aufweisen, d. h. sach- und fachgerecht durchgeführt wurden, spricht man auch von einer Evaluation, das gilt auch für die Evaluation der Gefährdungsbeurteilung. So steht z. B. das „E“ in REACH, der Verordnung, die das Registrieren, Bewerten, Zulassen und Beschränken von Chemikalien regelt, für Evaluation.
Den Begriff Fortschreibung kennt man eher im Finanz- und Steuerwesen, auch in der Statistik. Aber er wird auch mit Bezug zum Arbeitsschutz verständlich. Eine Gefährdungsbeurteilung fortzuschreiben bedeutet, den Prozess fortzusetzen und dies zu dokumentieren.
Was sagt das Arbeitsschutzrecht zur Evaluation und Fortschreibung Gefährdungsbeurteilung?
In Gesetzen und Verordnungen zum Arbeitsschutz kommen die Begriffe Evaluation und Fortschreibung überraschend selten vor und wenn, dann nicht im Zusammenhang mit der Gefährdungsbeurteilung. Woher stammt dann die Forderung aus dem Titel dieses Beitrags? Sucht man nicht nach dem Wortlaut, sondern dem Sinngehalt, wird man fündig. So fordert das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) in § 3 vom Arbeitgeber im Hinblick auf Arbeitsschutzmaßnahmen, dass dieser „die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen“ hat. § 6 ergänzt, dass der Arbeitgeber nicht nur den Befund der Gefährdungsbeurteilung und die festgelegten Maßnahmen, sondern auch das Ergebnis der Maßnahmen-Überprüfung dokumentieren muss.
Diese Grundpflicht des Arbeitgebers spiegelt sich auf Ebene der Verordnungen, wie die folgenden beiden Zitate zeigen:
„Die Gefährdungsbeurteilung ist regelmäßig zu überprüfen. Dabei ist der Stand der Technik zu berücksichtigen.“ (§ 3, Abs. 7 BetrSichV)
„Der Arbeitgeber hat die Funktion und die Wirksamkeit der technischen Schutzmaßnahmen regelmäßig, mindestens jedoch jedes dritte Jahr, zu überprüfen.“ (§ 7 Abs. 7 GefStoffV)
Es geht somit es bei der Evaluation der Gefährdungsbeurteilung um zwei Forderungen bzw. Prüfungen, die jedoch eng miteinander verwoben und kaum zu trennen sind:
- Die Gefährdungsbeurteilung als solche, als Prozess ist zu überprüfen.
- Die getroffenen Maßnahmen sind im Hinblick auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.
Das berufsgenossenschaftliche Regelwerk greift beide Punkte auf. In Anlage 1 der DGUV Vorschrift 2 heißt es: „Die Gefährdungsbeurteilung und die Maßnahmen sind auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls an sich ändernde Gegebenheiten anzupassen.“
Anders ausgedrückt bedeutet dies: Eine Gefährdungsbeurteilung ist keine einmalige Aktion, die nach Abschluss abgeheftet, abgespeichert und vergessen werden kann. Sie soll stattdessen immer wieder kritisch betrachtet werden, um festzustellen, ob sie ihren Zweck erfüllt und die festgelegten Maßnahmen tatsächlich greifen.
Risiken am Arbeitsplatz sind selten statisch
Über die Dynamik der Arbeitswelt 4.0 wird viel geschrieben und in der Tat dreht sich das Rad in vielen Branchen gefühlt immer schneller. Jahr für Jahr mit den immer gleichen Kollegen unter konstanten Arbeitsbedingungen mit den gleichen Maschinen und Materialien umzugehen, mag für Handwerker im Mittelalter der Normalfall gewesen sein. An heutigen Arbeitsplätzen ist eine solche stabil gleichförmige Situation die große Ausnahme. Mit jeder Neuerung – ob durch Materialien, Ausrüstung oder Maschinen – ändern sich jedoch auch die Risiken am Arbeitsplatz.
Dazu kommt, dass der Faktor Mensch selbst auch nicht statisch ist. Mitarbeitende werden älter, die Kollegin wird schwanger, bewährte Fachkräfte gehen und neue Auszubildende kommen hinzu. All dies hat Folgen für den Arbeitsschutz. Und selbst ohne jede personelle Fluktuation und bei gleichbleibender Tätigkeit kann sich – aus Sicht des Arbeitsschützers – die Risikolage verändern, wenn z. B. sicherheitsrelevante Einrichtungen verschleißen oder Sicherheitskennzeichnungen verschmutzen, vergilben, beschädigt werden oder verloren gehen.
Kurzum, schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass eine Arbeitsumgebung mit statischen Risiken, gleichbleibender Gefährdungslage und Einmal-und-für-immer-Maßnahmen unrealistisch ist. Damit ist die Forderung nach einer Evaluation der Gefährdungsbeurteilung sinnvoll und berechtigt.
Gefährdungsbeurteilung auf dem Prüfstand
Wann die Evaluation der Gefährdungsbeurteilung erfolgen sollte, ist nirgendwo rechtsverbindlich festgelegt. Wieder einmal ist hier die Eigenverantwortung der Betriebe und Unternehmen gefragt. Dringliche Anlässe wären:
- ein schwerer Arbeitsunfall
- eine Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage oder der Dauer krankheitsbedingter Fehlzeiten
- Auffälligkeiten im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge
Hat die Zahl von Arbeitsunfällen zugenommen, kommt die Evaluierung der Gefährdungsbeurteilung im Grunde schon zu spät. Wer präventiv denkt, wird nicht erst warten, bis es zu Auffälligkeiten bei den Unfallzahlen oder Fehlzeiten kommt, sondern – unabhängig von Branche oder Betriebsgröße – jede Menge Anlässe finden, seine Gefährdungsbeurteilungen erneut zu checken, z. B.:
- neue Arbeitsmittel, Handwerkzeuge, Elektrogeräte, Maschinen
- neue Materialien, Rohstoffe, Werkstoffe mit anderen Eigenschaften
- Änderungen bei Arbeitsverfahren, neue Methoden, Prozesse, Arbeitsabläufe
- neue räumliche Gegebenheiten, z. B. nach Umbauten, Erweiterungen, Umnutzungen
- organisatorische Veränderungen im Betrieb, neue Zuständigkeiten, Freigabeverfahren
- neu erkannte Gefährdungen
- neue Vorschriften, Sicherheitsvorgaben, Grenzwerte, Qualifikationsnachweise
- Veränderungen beim Stand der Technik, die z. B. Nachrüstpflichten auslösen können, etwa für Schutzeinrichtungen an Maschinen
- Erkenntnisse aus der Wirksamkeitskontrolle
Last, but not least, sind auch personelle Veränderungen ein Anlass für eine Neubewertung von Gefährdungen und Maßnahmen. Ob Berufseinsteiger, Auszubildende oder Saisonaushilfen, ob Fusion oder Ausgliederung – wenn sich die Zuordnungen von Mitarbeitenden zu Arbeitsstätten und Arbeitsplätzen verändern, kann es zu neuen Gefährdungssituationen kommen. Zudem sind derartige Wechsel und Übergänge per se unfallträchtige Phasen, weil die Neulinge noch nicht mit den innerbetrieblichen Routinen vertraut sind und die vorhandenen Risiken nicht kennen. Je nach Ausmaß solcher Umstellungen und Umstrukturierungen eines Betriebs kann eine ganz eigene Gefährdungsbeurteilung vorab speziell für diesen Change-Prozess angeraten sein.
Aktualisierte Gefährdungsbeurteilung
Jeder aufmerksame Arbeitsschützer wird erkennen, dass die oben angedeuteten Situationen genau diejenigen sind, an denen der Gesetzgeber und die Berufsgenossenschaften dazu aufrufen, eine aktualisierte Unterweisung anzusetzen. Dies ist kein Zufall, denn eine erneuerte Gefährdungsbeurteilung impliziert stets auch eine aktualisierte Sicherheitsunterweisung, welche auf die aktuell erkannte veränderte Risikosituation abgestimmt ist.
Wichtig ist, auch solche betrieblichen Veränderungen kritisch zu hinterfragen, die auf den ersten Blick gar nichts mit Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz zu tun haben. Wenn etwa ein Unternehmensteil von einem Zweischichtbetrieb auf Dreischichtbetrieb umstellt, dann bleiben die akuten Verletzungsrisiken und Gesundheitsgefahren an den Arbeitsplätzen unverändert. Aber es ändern sich die Zeiten, an denen Mitarbeiter an ihren Arbeitsplatz kommen, den Betrieb verlassen, Pausen machen usw. Dies erzeugt völlig neue Bewegungsmuster oder kann mit anderen Prozessen (Entsorgung, Stapler- und Lieferantenverkehr, Reinigungsabläufe) kollidieren, was zu bislang nicht erkannten (oder nicht vorhandenen) Gefährdungen führen kann. Wo ein Nebeneinander von Personen und Fahrzeugen bislang kein Problem war, weil Fahr- und Gehbereiche klar getrennt sind, treten plötzlich Risiken auf, weil größere Fußgängergruppen zu anderen Zeiten unterwegs sind. Solche Gefährdungen müssen erkannt und durch geeignete Maßnahmen entschärft werden, etwa durch Zutrittssperren, Umleitungen, Ausweisen anderer Laufwege oder Staplerrouten. Werden derartige Maßnahmen festgelegt und umgesetzt, wurde die Gefährdungsbeurteilung fortgeschrieben.
Ein anderes Beispiel wäre ein Betrieb der Metallbearbeitung, der – neben Schweißen, Drehen, Bohren, Stanzen usw. – in die additive Fertigung einsteigt. Die beim 3D-Druck verwendeten Metallpulver stellen eine – womöglich in diesem Betrieb völlig neue – Gefährdung dar, es müssen – zuvor vielleicht nie benötigte – Schutzausrüstung angeschafft und neue Verhaltensregeln unterwiesen werden usw. Die frühere Gefährdungsbeurteilung mag perfekt gewesen sein, kann aber die neuen Risiken durch neue Materialien nicht abbilden und auffangen, ergo muss sie fortgeschrieben werden.
Kritischer Blick von außen
Viele betriebliche Gefährdungssituationen sind deutlich komplexer als die geschilderten eher banalen Beispiele. Es ist daher keine schlechte Idee, sich zur Aufgabe zu machen, den eigenen Betrieb immer wieder achtsam und mit „kritischem Sicherheitsblick“ zu begehen und auf neue oder veränderte Risiken zu achten. Clever ist, einen solchen Rundgang zu variieren, d. h. auch zu unüblichen Zeiten oder in anderer Richtung oder in Begleitung.
Diese Begleitung kann ein Kollege sein, Sicherheits- oder Brandschutzbeauftragte bieten sich an, aber hier sollte man auch über die eigene Belegschaft hinaus denken. Ob Arbeitsschutzbehörde oder Berufsgenossenschaft bzw. Unfallkasse – deren Aufsichtsbeamte sind Fachleute, die weit herumkommen und in viele Betriebe und Unternehmen Einblick nehmen. Sie kennen die Unfallschwerpunkte, die typischen Versäumnisse, die Fallstricke und „Eigentore“. Davon kann jeder profitieren, der Betriebsbegehungen nicht als lästige Kontrollen sieht, sondern als Chance, sich kostenlos von ausgewiesenen Experten beraten und unterstützen zu lassen. Der kritische Blick von außen beugt der zu Recht gefürchteten Betriebsblindheit vor.
Evaluation der Gefährdungsbeurteilung und kontinuierliche Verbesserung
Wer das Konzept einer Gefährdungsbeurteilung durchdacht und seine Mächtigkeit verstanden hat, wird seine Gefährdungsbeurteilungen niemals als Einmalaufgabe abhaken, sondern als ein Change-Management-Projekt verstehen, das jede Veränderung nutzt, um noch besser zu werden. Stets die Gesamtsituation im Blick behalten und bei Veränderungen kritisch prüfen und ggf. nachsteuern. Damit wird der altbekannte Zyklus PLAN – DO – CHECK – ACT zur Spirale mit einer definierten dritten Dimension: in Richtung gesunder und unfallfreier Belegschaft durch kontinuierlich verbesserten Arbeitsschutz.
Drei Fragen zur Fortschreibung und Evaluation der Gefährdungsbeurteilung
Wie oft muss ich meine Gefährdungsbeurteilungen prüfen und aktualisieren?
Es gibt dafür keine universelle, gesetzlich festgelegte Frist, allenfalls Hinweise in einzelnen Verordnungen. So fordert die BioStoffV, eine Gefährdungsbeurteilung „mindestens jedes zweite Jahr“ zu überprüfen. Die GefStoffV verlangt, Funktion und Wirksamkeit technischer Schutzmaßnahmen „regelmäßig, mindestens jedoch jedes dritte Jahr“ zu überprüfen. Entscheidender als ein Abarbeiten von Terminen ist, dass Veränderungen bei den Arbeitsbedingungen zum Anlass werden, Risiken und Maßnahmen zu evaluieren.
Muss ich eine Gefährdungsbeurteilung jedes Mal als Ganzes wiederholen und komplett erneut dokumentieren?
Nein, es gibt keine gesetzliche Vorgabe, dass man eine Gefährdungsbeurteilung mit allen Prozessschritten vollständig wiederholen müsse. Man sollte selbstverständlich die Gesamtsituation stets im Blick behalten, aber es genügt, die bestehende Gefährdungs-beurteilung auf die konkreten Veränderungen bezogen noch mal durchzugehen. Veränderte Risiken und deren Einordnung, ggf. neue oder auch entfallene Maßnahmen usw., sind dann in der bestehenden Dokumentation zu ergänzen. Ob man Notizen dabei chronologisch oder punktuell einpflegt, ist nicht vorgegeben. Entscheidend ist, dass die ergänzenden Angaben schlüssig und nachvollziehbar sind, z. B. für einen Nachfolger oder bei juristischen Auseinandersetzungen nach einem Arbeitsunfall.
Muss ich beim Fortschreiben der Gefährdungsbeurteilung auch Risiken erfassen, die im Betrieb erkannt und beseitigt wurden?
Eine gute, aber nicht ganz einfach zu beantwortende Frage. Hier ist genau hinzuschauen: Ist die Gefährdung tatsächlich beseitigt, etwa ein Gefahrstoff vollständig substituiert und sämtliche Rest-bestände entsorgt? Oder ist ein Risiko vorübergehend stillgelegt, kann aber erneut „ausbrechen“? So könnte z. B. das Einhausen einer Maschine das Gesundheitsrisiko Lärm so vermindern, dass Gehörschutz überflüssig wurde. Wenn aber bei Einstellarbeiten oder Wartungen die Maschine geöffnet werden muss, tritt der Lärm wieder auf. Ergo wäre die Gefährdungsbeurteilung insofern anzupassen, dass Tragegebote für Gehörschutz differenziert angepasst werden. Das Nachrüsten einer Maschine durch eine Lichtschranken-gesteuerte Sicherheitsfunktion kann eine akute Einzugsgefahr beseitigen. Neu hinzu kommt dann für die Gefährdungsbeurteilung, dass zu prüfen ist, inwiefern die neue Schutzeinrichtung ausgetrickst werden kann, dass Bediener zur Schutzfunktion und dem Manipulationsgebot zu unterweisen sind usw.
Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass ein Fortschreiben und die Evaluation der Gefährdungsbeurteilung nicht nur für die Gefährdungsbeurteilung notwendig ist, sondern auch für andere Arbeitsschutzdokumente, z. B. für Gefahrstoffverzeichnisse oder für die Sicherheits- und Gesundheitsschutzpläne auf Baustellen. Je größer eine Gefährdung, desto wichtiger wird es, alle Schritte zum Bewältigen des Risikos immer wieder kritisch zu hinterfragen. Aus gutem Grund enthält beispielsweise die DGUV Information 213–106 zum Explosionsschutzdokument ein „Fortschreibungsblatt“.
Autor:
Dr. Friedhelm Kring
Redaktionsbüro BIOnline