Ein Labortechniker sitzt an seinem Schreibtisch und tippt konzentriert in die Tastatur. Das Büro ist geräumig und ordentlich, hier findet das zwölfköpfige Team genügend Platz. Ein Muntermacher täte nun gut, fällt dem Mann plötzlich ein. Entschlossen steht er auf, greift seinen leeren Becher und macht sich auf den Weg zur Kaffeemaschine.
Den Blick erwartungsfroh nach vorn gerichtet, übersieht er einige lose Kabel zwischen den Arbeitsplätzen. Schon ist es passiert: Er bleibt mit dem Schuh daran hängen, stürzt und knallt mit der Stirn hart auf den Boden. Ein Mitarbeiter eilt sofort herbei, beruhigt seinen Kollegen. Der kommt zum Glück mit einer Beule davon. Beide wissen genau, was nun zu tun ist.
Warnhütchen als Gefahrenmelder
Zuerst holt der Hilfeleistende ein orangerotes Warnhütchen aus dem Schrank – nur acht Zentimeter groß, aber auffällig genug, um die Gefahrenstelle zu markieren, die sich durch diesen Unfall offenbarte.
Dann ruft er umgehend die zuständige Sicherheitsfachkraft an, die wiederum sofort die nötige technische Schutzmaßnahme in die Wege leitet: Ein Handwerker rückt an, um die Stolperfalle mithilfe einer Kabelbrücke zu beseitigen.
Diese kleinen Gefahrenmelder aus Schaumstoff liegen bei Roche in allen Arbeitsbereichen parat. Alle Mitarbeitenden sind dazu aufgefordert, kurzfristig auf Gefährdungen aufmerksam zu machen, wenn sie selbst welche bemerken. Die oben beschriebene Szene stammt aus einem Video, das extra produziert wurde, um den Sinn und Zweck dieser Maßnahme zu veranschaulichen.
Es sind Elemente der kollektiven Aktion „Schau hin – Take care“: Aufmerksam sein und aufeinander achten, das sollen hier nicht nur die Sicherheitsverantwortlichen und Sicherheitsbeauftragten, sondern alle Beschäftigten von Roche mit den größten Standorten in Mannheim (8.600 MA) und Penzberg (7.500 MA).
Ziel: Niedrigere Unfallzahlen
„Schau hin – Take care“ wiederum ist eine tragende Säule der Initiative Safety@Work. Die wurde im Jahr 2020 aus guten Gründen ins Leben gerufen, wie Antonia Sanna-Henrich erläutert, Head of Safety am Standort Mannheim. „Vor der Corona-Pandemie hatten wir sehr hohe Unfallzahlen.
Um diese gezielt und langfristig zu minimieren und dafür Ideen zu entwickeln, haben wir uns im Auftrag der Geschäftsleitung zu dieser Initiative entschlossen, uns zusammengesetzt und überlegt, wie wir wirklich etwas bewegen können.“
Nach einem Auftaktworkshop mit Sebastian Brandtstaedter, Head of Safety, Security and Environment in Mannheim, wurde zunächst Input aus sämtlichen Unternehmensbereichen und Abteilungen gesammelt – ein komplexes Gefüge unterschiedlichster Tätigkeitsfelder vom Büroarbeitsplatz über die Logistik, Produktionsbereiche, Lagerstätten, das Rechenzentrum, bis hin zum Werksgelände mit regem innerbetrieblichen Verkehr. Entsprechend vielschichtig und aufwendig ist es, sämtliche Gefährdungen wahrzunehmen und zu beurteilen.
Es war also klar, dass sich bei der Vorgehensweise etwas ändern musste, damit sich auch die Fallzahlen ändern konnten. Eine grundsätzliche Frage, die in den Safety@Work-Gruppen auftauchte, war von Anfang an: Welche sind unsere Kernthemen, die wir bei der Gefährdungsbeurteilung noch gezielter angehen oder optimieren müssen? Arbeitsschutzbegehungen, kristallisierte sich dabei heraus.
„Einige Betriebsbereiche hatten das auch schon ganz gut gemacht, andere hatten hier noch Optimierungsbedarf,“ berichtet Antonia Sanna-Henrich. „Vor allem wurde uns bewusst, dass es Begehungen auf mehreren Ebenen geben musste. Um auch wirklich so viele Risiken wie möglich zu erfassen, müssen alle mitmachen – nicht nur die Sicherheitsverantwortlichen.“ Damit war „Schau hin – Take care“ geboren, als ein zentrales Ergebnis der Initiative Safety@work.
Interview zum Thema Gefährdungsbeurteilung mit Ernst-Friedrich Pernack
Unangemeldete Begehungen für alle
Konkret sieht es bei Roche inzwischen so aus: Neben den regulären Audits durch den SHE Officer, Sicherheitstechnischen Begehungen durch die Sicherheitsfachkräfte der jeweiligen Sites sowie externen Audits durch Behörden, Berufsgenossenschaften, TÜV etc. gibt es nun auch „Schau hin – Take Care“-Begehungen für alle.
Und dies ist wörtlich zu nehmen: Verantwortlich sind zwar die Sifas und Führungskräfte, die diese Maßnahme auch für sich durchführen sollen. Genauso aber wurde jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin dazu ermuntert, eine der Checklisten zu nehmen und auf eigene Faust loszuziehen – möglichst unangemeldet.
„Das war uns in der Gruppe ganz wichtig, auch die Sifas und Vorgesetzten sollten es ab und zu so machen“, sagt Antonia Sanna-Henrich. „Wir brauchen den Spiegel der Realität, denn wenn wir sagen: ‚Wir kommen‘, wird natürlich erstmal aufgeräumt. Wir wollen aber doch Business as usual beurteilen.“
In der Belegschaft kommt die Idee gut an, das machte sich bei der leitenden Sifa direkt bemerkbar. „Nach der Einführung dieser Begehungen habe ich E‑Mails von Mitarbeitern bekommen mit Sätzen wie: ‚Das ist ja ganz einfach. Super, wie Ihr das vorbereitet habt!‘“
Jeder darf sich auch mal ganz spontan die Viertelstunde für diesen Check nehmen, ganz nach dem Motto „Schau hin – Take care: Wir kümmern uns um unsere Kollegen und achten aufeinander.“
Die Checklisten für die Begehungen sind für alle Beschäftigten online abrufbar. Sie enthalten Fragen wie „Ist es am Arbeitsplatz ausreichend hell?“ Dazu gibt es hinterlegte Beispiele. Es ist auch möglich, selbst etwas einzutragen und Fotos zu hinterlegen.
Über ein digitales Formblatt, das sogenannte Monitoring-Tool, werden sämtliche Daten erfasst und zusammengetragen. So ist ersichtlich, wer zu welchem Zeitpunkt welche Begehungen gemacht hat und was dabei herausgekommen ist. Den Sifas und Führungskräften dient dies auch als Dokumentation.
Tatort-Motive als Botschaft
Bevor es richtig losgehen konnte, musste „Schau hin – Take care“ an alle Beschäftigten kommuniziert werden. Und zwar so, dass sich alle sofort angesprochen fühlten und gern mitmachen wollten. Vielleicht die Kollegen und Kolleginnen anders adressieren als zuvor und provokanter sein, überlegte die Safety@Work-Gruppe.
Gesagt, getan: Um auf die kollektive Maßnahme aufmerksam zu machen und darüber zu informieren, was jeder Einzelne dazu beitragen kann, wurde das Team kreativ. So entstand regelrecht eine Eigenmarke mit aufrüttelnder Wirkung.
Die „Schau hin – Take care“ begleitenden Medien wie etwa Plakate, Flyer oder Kurzvideos sind mit Bildern gestaltet, die an Tatorte erinnern: Umrisse von verletzten Personen, dazu mit Ziffern markierte Beweismittel und ein rot-weißes Absperrband, wie die Polizei es verwendet.
So verkündet ein Motiv „Offene Türen einrennen – Das könnte ins Auge gehen“ und zeigt dabei offenstehende Schubladen von Büroschränken, an deren spitzen Ecken sich Mitarbeitende schnell mal verletzen können. Hinein gezeichnete Blutspuren verdeutlichen dies eindrucksvoll. Ähnlich gestaltet sind Motive zu verstellten Fluchtwegen, Explosionen, mobilem Arbeiten und vielen anderen Situationen mehr.
Foto: © Roche
Sebastian Brandtstaedter, Head of Safety, Security and Environment Mannheim, Mit-Initiator von Safety@Work
Foto: © Roche
„Bei der Initiative Safety@Work und im Speziellen der Gefährdungsbeurteilung geht es uns darum, in die Breite zu kommen und über viele Multiplikatoren die maximale Sicherheitskultur zu erreichen. Wir haben auch bewusst die Formulierung „Schau hin – Take care“ gewählt und nicht: „Schau hin – Kontrolliere“, weil wir smartere Lösungen wollen, die sich einfach anwenden lassen und alle Beschäftigten einbinden.“
Foto: © Roche
Ein „Smombie-Parcours“ und mehr
Die Initiative Safety@Work bei Roche umfasst noch etliche weitere Elemente, darunter auch Mitmach-Aktionen. So gibt es zum Beispiel den „Smombie-Parcours“, auf dem die Beschäftigten feststellen können, ob sie bereits ein Smartphone-Zombie sind. Auf sein Handy starrend beim Weg über das Werksgelände ist schon manch einer gestolpert und böse gestürzt. Der Parcours mit künstlichen Hindernissen bietet eine sichere Umgebung, um diese Effekte auszuprobieren. Indirekt lassen sich also auch so Gefährdungen ermitteln und das Bewusstsein dafür schärfen.
Damit alle Aktionen und Maßnahmen als Bausteine zusammengreifen und eine umfassende Gefährdungsbeurteilung dabei herauskommt, muss natürlich der Arbeitsschutz mit allen Beteiligten gut organisiert sein. So gibt es an den Hauptstandorten jeweils eine Leitende Sicherheitsfachkraft (Head of Safety).
Für Penzberg ist die Kollegin Doreen Pruntsch (Leitung Arbeitsschutz und Anlagensicherheit) zuständig. Die Business Units werden von bereichsbetreuenden Sifas unterstützt. Hinzu kommen jeweils weitere Sifas für die einzelnen Unterbereiche. Außerdem gibt es im Safety-Team verschiedene Experten mit Fachkunde zu bestimmten Themen, etwa für Gefahrstoffe, Ex-Schutz oder Lastenhandhabung, die über das Know-how der Sifas hinausgehen.
Koop mit Sicherheitsbeauftragten
Großen Wert legen die leitenden Sifas auch auf die Zusammenarbeit der Vorgesetzten mit den Sicherheitsbeauftragten, wie Doreen Pruntsch erläutert. „Unsere Führungskräfte sollen unsere ehrenamtlichen Sibes als wertvolle Kooperationspartner und nicht als Ausführungsgehilfen betrachten. Sie sind essentiell, wenn es darum geht, Gefährdungen zu ermitteln und Maßnahmen umzusetzen.“
So ergaben interne Umfragen: Wo die Sibe schon immer einen hohen Stellenwert hatten, hat diese Kooperation auch Früchte getragen. In anderen Bereichen gilt es die Führungskräfte zu sensibilisieren und die Sibe zu ermutigen, sich noch mehr einzubringen.
Wenn es um Neues zum Thema Arbeitsschutz geht – seien es beispielsweise Templates, Seminare oder Begehungen – werden auch die Sicherheitsbeauftragten in den Verteiler mit aufgenommen und bekommen solche Informationen zeitgleich mit den Führungskräften.
Gefördert wird ihre Rolle auch durch extra Praxistrainings. Um ihr Auge zu schulen und Gefährdungen noch besser zu erkennen, wurden die Sibe beispielsweise über das Werksgelände geschickt mit der Aufgabe: Findet unsichere Situationen!
„Es hat keine Viertelstunde gedauert, und jeder kam mit entsprechenden Handyfotos wieder“, berichtet Doreen Pruntsch. „Die Aktion diente dazu, das Selbstbewusstsein der Sibe zu stärken, ihnen zu zeigen, dass auch sie in Sachen Arbeitsschutz einiges wissen und unsichere Situationen erkennen können.“