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Notfallpsychologische Interventionen bei psychisch belastenden Extremsituationen

Notfallpsychologische Interventionen
Psychisch belastende Extremsituationen

Psychisch belastende Extremsituationen
Extreme Ereignisse können bei Betroffen zu vielfältigen negativen Anpassungsstörungen führen. Unternehmen sollten frühzeitig, auch im eigenen Interesse, darauf reagieren und Unterstützung anbieten. Foto: © Photographee.eu – stock.adobe.com
Auch Fachkräfte für Arbeitssicher­heit sind mit psy­chisch belas­ten­den Extrem­si­t­u­a­tio­nen von Mitar­beit­ern kon­fron­tiert. Ob es der schwere Arbeit­sun­fall, der tödlich ver­laufende Herz­in­farkt oder ein unver­schulde­ter schw­er­er Verkehrsun­fall eines Mitar­beit­ers ist, sehr oft hat das Fol­gen auf den Arbeit­sprozess und die Arbeitssicherheit.

Auch wenn Unternehmensleitun­gen und Fachkräfte für Arbeitssicher­heit immer hof­fen, dass belas­tende Extrem­si­t­u­a­tio­nen nie ein­treten mögen: Sie treten auf. Und diese kön­nen bei betrof­fe­nen Mitar­beit­er zu psy­chis­chen Schä­den führen, bedin­gen oft lange Fehlzeit­en, führen zu Sub­stanzge­brauch und enden oft genug auch in Kündigungen.

Psy­chisch belas­tende Extrem­si­t­u­a­tio­nen von Mitar­beit­ern bedür­fen im Sinne der Für­sorgepflicht des Arbeit­ge­bers daher präven­tive Maßnahmen.

Beispiel: Bei Reparat­u­rar­beit­en ist heute Mor­gen ein Arbeit­er getötet wor­den. Der Mann war mit fünf Kol­le­gen an der Brem­sen­wartung an Wag­gons eines Güterzuges beschäftigt, als er plöt­zlich zwis­chen rol­lende Wag­gons geri­et. Ein Wag­gon set­zte sich in Bewe­gung und klemmte den 54-Jähri­gen ein, hieß es bei der Polizei. Ein alarmiert­er Notarzt und San­itäter began­nen mit der Rean­i­ma­tion, die jedoch nach kurz­er Zeit eingestellt wer­den musste, weil der Mann noch an der Unfall­stelle ver­starb. (Pressemel­dung aus Nordeutschland)

So oder ähn­lich ist es mehrfach im Jahr in der Presse zu lesen. Die Auf­gaben­stel­lung im geschilderten Fall ist für den Arbeitss­chutz sehr vielfältig. Fol­gende Fra­gen sind zu stellen:

  • Wer ist wie vom tödlichen Unfall betroffen?
  • Fam­i­lie des Verstorbenen?
  • Anwe­sende Kol­le­gen in unmit­tle­bar­er Nähe des Unfallortes?
  • Kol­le­gen, die weit­er weg standen und den Unfall sel­ber nicht mit­bekom­men haben, jedoch den Ver­stor­be­nen sehr gut kannten?
  • Kol­le­gen, die gar nicht dabei waren, jedoch schon ein­mal eine ähn­liche Sit­u­a­tion erlebt und unver­let­zt über­standen haben?

Je nach­dem wie nah die Kol­le­gen am Unfallgeschehen dran waren, muss unter­schiedlich inter­ve­niert wer­den, weil der alltägliche Bezugsrah­men (Fam­i­lie, Arbeit, Freizeit) in seinen Grun­dan­nah­men tief erschüt­tert wurde. Die Grun­dan­nah­men – die eigene Welt ist sich­er, schlimme Ereignisse kön­nen durch kon­trol­lierte Hand­lun­gen abgewehrt wer­den, wichtige Ereignisse ste­hen in einem Sinnzusam­men­hang und Ver­lass auf wichtige Bezugsper­so­n­en – kom­men gewaltig ins Schwanken. Die Not­fallpsy­cholo­gie spricht in dieser Sit­u­a­tion von Not­fall, Trau­ma und Krise.

Als Not­fall beze­ichend wird

  • ein plöt­zlich auftre­tendes, bedrohlich­es Ereig­nis, das die psy­chis­che Sta­bil­ität gefährdet,
  • die mas­sive Beanspruchung der indi­vidu­elle Bewältigungsstrategien,
  • das Aus­lösen mas­siv­er Reak­tio­nen, was zu gravieren­den Folgestörun­gen führen kann.

Ein psy­chis­ches Trau­ma ist definiert als

  • nach­haltige psy­chis­che Verletzung,
  • Ereig­nis, welch­es als entset­zlich und äußerst bedrohlich erlebt wird,
  • sub­jek­tive Hil­flosigkeit gegenüber der Bedrohung,
  • zu tief­st erschüt­tertes Selb­st- und Weltverständnis.

Eine psy­chis­che Krise wird beschrieben mit

  • dem Ver­lust des seel­is­chen Gle­ichgewichts wenn Ereignisse und Leben­sum­stände nicht bewältigt wer­den können,
  • beste­hende Ressourcen reichen nicht aus, die Sit­u­a­tion zu sta­bil­isieren und
  • bewährte Hil­f­s­mit­tel versagen.

Die Akutphase nach einem Ereignis

In der Akut­phase ste­ht die psy­chol­o­gis­che Erste Hil­fe, psy­chosoziale Betreu­ung und die not­fallpsy­chol­o­gis­che Akutin­ter­ven­tion durch einen von der Leit­stelle gerufe­nen Kris­en­in­ter­ven­tions­di­enst, Not­fallseel­sorg­er oder Not­fallpsy­cholo­gen im Vorder­grund. Die Auf­gaben­stel­lung liegt darin eine Ein­schätzung zu find­en, die Sicher­heit der Betrof­fe­nen und der Helfer wieder zu gewin­nen und Men­schen mit drin­gen­den Grundbedürfnis­sen und mit ern­sten Belas­tungsreak­tio­nen zu identifizieren.

Die Haup­tauf­gabe in dieser ersten Phase ist es, Entschle­u­ni­gung und Ruhe in die Sit­u­a­tion brin­gen. Der Kris­en­in­ter­ven­tios­di­enst ste­ht, nach Auswer­tun­gen von 18.000 Ein­sätzen, im Durch­schnitt zwei Stun­den zur Ver­fü­gung. Danach sind Unternehmensleitung und Arbeitssicher­heit auf sich allein gestellt.

Die Stabilisierungspase

In der Sta­bil­isierungsphase kom­men unternehmen­seigene und im Vor­feld gut aus­ge­bildete Peers (Kol­le­gen helfen Kol­le­gen) oder externe Spezial­is­ten für Einzel- und Grup­penge­spräche sowie für Organ­i­sa­tions- und Fam­i­lienun­ter­stützung zum Ein­satz. Helfer soll­ten aktiv auf Betrof­fene zuge­hen, die Unter­stützung brauchen, Betrof­fene nach ihren Bedürfnis­sen und Sor­gen fra­gen und durch Hin­hören den Betrof­fe­nen helfen, emo­tion­al wieder ins Gle­ichgewicht zu kom­men. Das Dasein, Hin­hören und Zuver­sicht ver­mit­teln sind die wichtig­sten Helfer­eigen­schaften in dieser Situation.

Betrof­fe­nen helfen Prob­leme zu bewälti­gen, Infor­ma­tio­nen geben, Betrof­fene mit ihren Ange­höri­gen zusam­men brin­gen und soziale Unter­stützung organ­isieren, ist in der Sit­u­a­tion äußerst wichtig. Wenn Helfer in der Sit­u­a­tion ruhig und konzen­tri­ert auftreten, strahlt das nach aussen ab und gibt Betrof­fe­nen die ver­lorene aber notwendi­ge Sicher­heit zurück.

Diese Vorge­hensweise hat sich als her­vor­ra­gend für Betrof­fene her­aus­gestellt, ver­langt jedoch eine sehr gute Aus­bil­dung, pro­fes­sionelle Struk­turen im Unternehmen sowie Zugriff auf regionale Net­zw­erke. Ger­ade im Bere­ich der Organ­i­sa­tions- und Fam­i­lienun­ter­stützung kommt jede Menge Arbeit auf die han­del­nden Per­so­n­en zu, wie zum Beispiel Kon­takt mit der Fam­i­lie des Verunglück­ten aufnehmen, interne Kom­mu­nika­tion an die Mitar­beit­er und externe Kom­mu­nika­tion an die eventuell wartende Presse.

Diese Vorge­hensweise hil­ft beim Gesprächsverhalten:

  • Reden Sie über den Unfall. Gezielte Fra­gen zum Unfall­her­gang ent­las­ten das Unterbewusstsein.
  • Erk­lären Sie alle visuellen Ein­drücke. Das ver­mit­telt das Gefühl von Sicherheit.
  • Keine Bew­er­tun­gen son­dern empathis­ches Ver­ständ­nis. Aus­sagen ver­ständ­nisvoll und ohne emo­tionale Beteili­gung aufnehmen.
  • Floskeln sind fehl am Platz, wie „Das wird schon wieder.“ / „Anderen geht es viel schlechter …!“
  • Hoff­nung durch Manip­u­la­tion kann helfen, wie „Meinst Du nicht auch, dass alles getan wird?“ / „Glaub­st Du nicht auch dass …“
  • Bleiben Sie ehrlich! Die Grund­vo­raus­set­zung für diese Aufgabe.

Außergewöhn­lich belas­tende Ereignisse wie zum Beispiel ein Unfall, ein Todes­fall oder eine Katas­tro­phe kön­nen zu unter­schiedlichen kör­per­lichen und psy­chis­chen Reak­tio­nen wie auch Ver­hal­tensverän­derun­gen führen, was ganz nor­mal ist. Hier han­delt es sich um natür­liche Stress­reak­tio­nen, die nach einiger Zeit wieder abklin­gen. Diese Verän­derun­gen zu erken­nen und Lösun­gen parat zu haben, ist auch Auf­gabe der Arbeit­sicher­heit, weil es in dieser Sit­u­ata­tion auch zu Sub­stanzge­brauch (vor allem Alko­hol) kom­men kann.

Wenn bei­de voraus­ge­gan­gen Inter­ven­tio­nen nicht aus­re­ichend sein soll­ten, emp­fiehlt sich eine indi­vidu­elle Weit­er­be­treu­ung wie zum Beispiel eine Trauer­be­gleitung oder ein schneller Kon­takt zu einem Trau­mather­a­peuten. Diese Option kommt erfahrungs­gemäß nur zu 1,5 Prozent zum Tra­gen, weil 98,5 Prozent der voraus­ge­gan­gen Inter­ven­tio­nen bestens funk­tion­ieren und sich Betrof­fe­nen erfahrungs­g­mäß nach eini­gen Tagen psy­chisch sta­bil­isieren – dies set­zt jedoch voraus, dass vor­ab regionale Net­zw­erke aufge­baut wor­den sind.

Was bringt Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen?

Beim oben genan­nten tödlichen Unfall ist es wichtig, den fünf unmit­tel­bar vor Ort anwe­senden Kol­le­gen eine Gespräch­srunde anzubieten.

In den 1990er Jahren haben die bei­den Amerikan­er Burns und Harm die per­sön­lichen Erfahrun­gen mit kri­tis­chen Zwis­chen­fällen und Nachbe­sprechun­gen von Ret­tungskräften erforscht. Die Ergeb­nisse, ob eine Nachbe­sprechung hil­fre­ich war, wurde wie fol­gt beantwortet:

  • 86% sagten: Sprechen über das Ereig­nis hilft.
  • 85,1% sagten: Ich erkan­nte, dass ich mit meinen Reak­tio­nen nicht allein bin.
  • 83% sagten: Ich hörte andere über den Vor­fall reden (und das hat mir geholfen).
  • 73,2 % sagten: Ich war Teil ein­er Gruppe, die das Erleb­nis auch miter­lebt hat.
  • 58,2 % sagten: Ich hörte, wie andere mit der Belas­tung umgehen.
  • 46,9% sagten: Meine Stress­reak­tio­nen ließen an Inten­sität nach.

Diese Ergeb­nisse nutzt die Not­fallpsy­cholo­gie schon lange mit großem Erfolg und ist Basis der Peer­aus­bil­dung. Burns und Harm hat­ten aber auch unter­sucht, wann Nachbe­sprechung nicht hil­fre­ich waren:

  • 26,9% sagten: Der Team-Leit­er hat­ten keine rel­e­vante Erfahrungen.
  • 23,1% sagten: Es gibt in der Gruppe Per­so­n­en, in deren Anwe­sen­heit ich mich nicht wohl fühle.
  • 19,2% sagten: Nachbe­sprechun­gen wer­den zu lange nach dem Ereig­nis angeboten.
  • 9,6% sagten: Ich füh­le mich nicht wohl dabei, das Ereig­nis in ein­er Gruppe zu besprechen.
  • 9,6% sagten: Ich bereue die Zeit, die ich für die Nachbe­sprechung ver­schwen­det habe.
  • 3,8% sagten: Die Nachbe­sprechung wurde zu früh nach dem Ereig­nis angeboten.

Wer­den Nachbe­sprechun­gen nicht oder stüm­per­haft durchge­führt, kann dies unmit­tel­bare Auswirkun­gen auf die Beschäf­ti­gungs­fähigkeit zur Folge haben und zu starken finanziellen Belas­tun­gen für das Unternehmen führen.

Die Forschung zu finanziellen Auswirkun­gen früher Inter­ven­tion bei Extremere­inis­sen haben ein­deutige Ergeb­nisse gebracht:

  • Bei später Inter­ven­tion und nicht geschul­ten Spezial­is­ten lagen die Kosten für das unter­sucht Unternehmen bei 46.000 US-Dol­lar, bei ein­er Erhol­ungsphase von 46 Wochen pro betrof­fen­em Mitar­beit­er. Diese Zahlen auf die heutige Zeit umgerech­net bedeutet für betrof­fene Unternehmen einen Ver­lust an Brut­tow­ertschöp­fung durch Arbeit­saus­fall von rund 90.000 Euro.
  • Ganz anders lag das Ergeb­nis bei früher Inter­ven­tion und zeit­na­her Nachbe­sprechung mit Spezial­is­ten. Hier lagen die Kosten bei 8.500 US-Dol­lar und ein­er wesentlich verkürzten Erhol­ungsphase von nur 12 Wochen. Herun­terge­brochen auf die heutige Zeit ste­ht hier nur ein Ver­lust an Brut­tow­ertschöp­fung von rund 24.000 Euro zu Buche.

Fazit

Eine Vor­bere­itung auf den Fall der Fälle ist ein Muss. Hierzu sollte das betrieblichen Not­fall­man­age­ment kri­tisch über­prüft wer­den. Die Schu­lung von Mitar­beit­ern (Peer-Aus­bil­dung) macht sich für die Arbeit­sicher­heit, Mitar­beit­er und Unternehmen bezahlt. Auch hil­ft es, wenn es region­al Net­zw­erke gibt, die helfen, psy­chisch belas­tende Extrem­si­t­u­a­tio­nen bess­er zu überstehen.


10 goldene Regeln im Umgang mit Notfall, Trauma und Krise (nach Hans Oberschulte, BASF)

  1. Seien Sie vorbereitet!
  2. Seien Sie schnell!
  3. Glauben Sie keinen Gerücht­en! Dop­pel­ter Fak­tencheck hilft!
  4. Gegen Social Media haben Sie keine Chance. Kom­mu­nizieren Sie den­noch so schnell und aus­führlich wie irgend möglich, nach außen und innen.
  5. Unter­stützung und Anwe­sen­heit von Führungskräften hilft.
  6. Definieren Sie „Betrof­fene“ nicht zu eng und betreuen Sie (erst mal fra­gend) auch Ret­tungskräfte und zufäl­lig Anwesende!
  7. Drän­gen Sie sich nicht auf, aber seien Sie unüberse­hbar anwe­send und hilfsbereit.
  8. Betreu­ung von Betrof­fe­nen kann eine sehr große Band­bre­ite umfassen – bis hin zu Haus­be­suchen und Unter­stützung bei der Erledi­gung alltäglich­er Dinge.
  9. Lassen Sie sich von der Trauer und dem Schmerz Betrof­fen­er nicht mitreißen.
  10. Acht­en Sie auf Ihre eigene Kraft! In Extrem­si­t­u­a­tio­nen hält man erstaunlich lange durch – und zehrt doch stark von der Substanz.

Foto: privat

Autor: Ulrich Welzel

Not­fallseel­sorg­er, San­itäter, Hospizbegleiter
Er betreut Unternehmen bei der Inter­ven­tion und Nach­sorge von Mitar­beit­ern nach extrem belas­te­nen Ereignissen

E‑Mail: ulrich.welzel@trauma-am-arbeitsplatz.de

www.trauma-am-arbeitsplatz.de

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