Auch wenn Unternehmensleitungen und Fachkräfte für Arbeitssicherheit immer hoffen, dass belastende Extremsituationen nie eintreten mögen: Sie treten auf. Und diese können bei betroffenen Mitarbeiter zu psychischen Schäden führen, bedingen oft lange Fehlzeiten, führen zu Substanzgebrauch und enden oft genug auch in Kündigungen.
Psychisch belastende Extremsituationen von Mitarbeitern bedürfen im Sinne der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers daher präventive Maßnahmen.
Beispiel: Bei Reparaturarbeiten ist heute Morgen ein Arbeiter getötet worden. Der Mann war mit fünf Kollegen an der Bremsenwartung an Waggons eines Güterzuges beschäftigt, als er plötzlich zwischen rollende Waggons geriet. Ein Waggon setzte sich in Bewegung und klemmte den 54-Jährigen ein, hieß es bei der Polizei. Ein alarmierter Notarzt und Sanitäter begannen mit der Reanimation, die jedoch nach kurzer Zeit eingestellt werden musste, weil der Mann noch an der Unfallstelle verstarb. (Pressemeldung aus Nordeutschland)
So oder ähnlich ist es mehrfach im Jahr in der Presse zu lesen. Die Aufgabenstellung im geschilderten Fall ist für den Arbeitsschutz sehr vielfältig. Folgende Fragen sind zu stellen:
- Wer ist wie vom tödlichen Unfall betroffen?
- Familie des Verstorbenen?
- Anwesende Kollegen in unmittlebarer Nähe des Unfallortes?
- Kollegen, die weiter weg standen und den Unfall selber nicht mitbekommen haben, jedoch den Verstorbenen sehr gut kannten?
- Kollegen, die gar nicht dabei waren, jedoch schon einmal eine ähnliche Situation erlebt und unverletzt überstanden haben?
Je nachdem wie nah die Kollegen am Unfallgeschehen dran waren, muss unterschiedlich interveniert werden, weil der alltägliche Bezugsrahmen (Familie, Arbeit, Freizeit) in seinen Grundannahmen tief erschüttert wurde. Die Grundannahmen – die eigene Welt ist sicher, schlimme Ereignisse können durch kontrollierte Handlungen abgewehrt werden, wichtige Ereignisse stehen in einem Sinnzusammenhang und Verlass auf wichtige Bezugspersonen – kommen gewaltig ins Schwanken. Die Notfallpsychologie spricht in dieser Situation von Notfall, Trauma und Krise.
Als Notfall bezeichend wird
- ein plötzlich auftretendes, bedrohliches Ereignis, das die psychische Stabilität gefährdet,
- die massive Beanspruchung der individuelle Bewältigungsstrategien,
- das Auslösen massiver Reaktionen, was zu gravierenden Folgestörungen führen kann.
Ein psychisches Trauma ist definiert als
- nachhaltige psychische Verletzung,
- Ereignis, welches als entsetzlich und äußerst bedrohlich erlebt wird,
- subjektive Hilflosigkeit gegenüber der Bedrohung,
- zu tiefst erschüttertes Selbst- und Weltverständnis.
Eine psychische Krise wird beschrieben mit
- dem Verlust des seelischen Gleichgewichts wenn Ereignisse und Lebensumstände nicht bewältigt werden können,
- bestehende Ressourcen reichen nicht aus, die Situation zu stabilisieren und
- bewährte Hilfsmittel versagen.
Die Akutphase nach einem Ereignis
In der Akutphase steht die psychologische Erste Hilfe, psychosoziale Betreuung und die notfallpsychologische Akutintervention durch einen von der Leitstelle gerufenen Kriseninterventionsdienst, Notfallseelsorger oder Notfallpsychologen im Vordergrund. Die Aufgabenstellung liegt darin eine Einschätzung zu finden, die Sicherheit der Betroffenen und der Helfer wieder zu gewinnen und Menschen mit dringenden Grundbedürfnissen und mit ernsten Belastungsreaktionen zu identifizieren.
Die Hauptaufgabe in dieser ersten Phase ist es, Entschleunigung und Ruhe in die Situation bringen. Der Kriseninterventiosdienst steht, nach Auswertungen von 18.000 Einsätzen, im Durchschnitt zwei Stunden zur Verfügung. Danach sind Unternehmensleitung und Arbeitssicherheit auf sich allein gestellt.
Die Stabilisierungspase
In der Stabilisierungsphase kommen unternehmenseigene und im Vorfeld gut ausgebildete Peers (Kollegen helfen Kollegen) oder externe Spezialisten für Einzel- und Gruppengespräche sowie für Organisations- und Familienunterstützung zum Einsatz. Helfer sollten aktiv auf Betroffene zugehen, die Unterstützung brauchen, Betroffene nach ihren Bedürfnissen und Sorgen fragen und durch Hinhören den Betroffenen helfen, emotional wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Das Dasein, Hinhören und Zuversicht vermitteln sind die wichtigsten Helfereigenschaften in dieser Situation.
Betroffenen helfen Probleme zu bewältigen, Informationen geben, Betroffene mit ihren Angehörigen zusammen bringen und soziale Unterstützung organisieren, ist in der Situation äußerst wichtig. Wenn Helfer in der Situation ruhig und konzentriert auftreten, strahlt das nach aussen ab und gibt Betroffenen die verlorene aber notwendige Sicherheit zurück.
Diese Vorgehensweise hat sich als hervorragend für Betroffene herausgestellt, verlangt jedoch eine sehr gute Ausbildung, professionelle Strukturen im Unternehmen sowie Zugriff auf regionale Netzwerke. Gerade im Bereich der Organisations- und Familienunterstützung kommt jede Menge Arbeit auf die handelnden Personen zu, wie zum Beispiel Kontakt mit der Familie des Verunglückten aufnehmen, interne Kommunikation an die Mitarbeiter und externe Kommunikation an die eventuell wartende Presse.
Diese Vorgehensweise hilft beim Gesprächsverhalten:
- Reden Sie über den Unfall. Gezielte Fragen zum Unfallhergang entlasten das Unterbewusstsein.
- Erklären Sie alle visuellen Eindrücke. Das vermittelt das Gefühl von Sicherheit.
- Keine Bewertungen sondern empathisches Verständnis. Aussagen verständnisvoll und ohne emotionale Beteiligung aufnehmen.
- Floskeln sind fehl am Platz, wie „Das wird schon wieder.“ / „Anderen geht es viel schlechter …!“
- Hoffnung durch Manipulation kann helfen, wie „Meinst Du nicht auch, dass alles getan wird?“ / „Glaubst Du nicht auch dass …“
- Bleiben Sie ehrlich! Die Grundvoraussetzung für diese Aufgabe.
Außergewöhnlich belastende Ereignisse wie zum Beispiel ein Unfall, ein Todesfall oder eine Katastrophe können zu unterschiedlichen körperlichen und psychischen Reaktionen wie auch Verhaltensveränderungen führen, was ganz normal ist. Hier handelt es sich um natürliche Stressreaktionen, die nach einiger Zeit wieder abklingen. Diese Veränderungen zu erkennen und Lösungen parat zu haben, ist auch Aufgabe der Arbeitsicherheit, weil es in dieser Situatation auch zu Substanzgebrauch (vor allem Alkohol) kommen kann.
Wenn beide vorausgegangen Interventionen nicht ausreichend sein sollten, empfiehlt sich eine individuelle Weiterbetreuung wie zum Beispiel eine Trauerbegleitung oder ein schneller Kontakt zu einem Traumatherapeuten. Diese Option kommt erfahrungsgemäß nur zu 1,5 Prozent zum Tragen, weil 98,5 Prozent der vorausgegangen Interventionen bestens funktionieren und sich Betroffenen erfahrungsgmäß nach einigen Tagen psychisch stabilisieren – dies setzt jedoch voraus, dass vorab regionale Netzwerke aufgebaut worden sind.
Was bringt Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen?
Beim oben genannten tödlichen Unfall ist es wichtig, den fünf unmittelbar vor Ort anwesenden Kollegen eine Gesprächsrunde anzubieten.
In den 1990er Jahren haben die beiden Amerikaner Burns und Harm die persönlichen Erfahrungen mit kritischen Zwischenfällen und Nachbesprechungen von Rettungskräften erforscht. Die Ergebnisse, ob eine Nachbesprechung hilfreich war, wurde wie folgt beantwortet:
- 86% sagten: Sprechen über das Ereignis hilft.
- 85,1% sagten: Ich erkannte, dass ich mit meinen Reaktionen nicht allein bin.
- 83% sagten: Ich hörte andere über den Vorfall reden (und das hat mir geholfen).
- 73,2 % sagten: Ich war Teil einer Gruppe, die das Erlebnis auch miterlebt hat.
- 58,2 % sagten: Ich hörte, wie andere mit der Belastung umgehen.
- 46,9% sagten: Meine Stressreaktionen ließen an Intensität nach.
Diese Ergebnisse nutzt die Notfallpsychologie schon lange mit großem Erfolg und ist Basis der Peerausbildung. Burns und Harm hatten aber auch untersucht, wann Nachbesprechung nicht hilfreich waren:
- 26,9% sagten: Der Team-Leiter hatten keine relevante Erfahrungen.
- 23,1% sagten: Es gibt in der Gruppe Personen, in deren Anwesenheit ich mich nicht wohl fühle.
- 19,2% sagten: Nachbesprechungen werden zu lange nach dem Ereignis angeboten.
- 9,6% sagten: Ich fühle mich nicht wohl dabei, das Ereignis in einer Gruppe zu besprechen.
- 9,6% sagten: Ich bereue die Zeit, die ich für die Nachbesprechung verschwendet habe.
- 3,8% sagten: Die Nachbesprechung wurde zu früh nach dem Ereignis angeboten.
Werden Nachbesprechungen nicht oder stümperhaft durchgeführt, kann dies unmittelbare Auswirkungen auf die Beschäftigungsfähigkeit zur Folge haben und zu starken finanziellen Belastungen für das Unternehmen führen.
Die Forschung zu finanziellen Auswirkungen früher Intervention bei Extremereinissen haben eindeutige Ergebnisse gebracht:
- Bei später Intervention und nicht geschulten Spezialisten lagen die Kosten für das untersucht Unternehmen bei 46.000 US-Dollar, bei einer Erholungsphase von 46 Wochen pro betroffenem Mitarbeiter. Diese Zahlen auf die heutige Zeit umgerechnet bedeutet für betroffene Unternehmen einen Verlust an Bruttowertschöpfung durch Arbeitsausfall von rund 90.000 Euro.
- Ganz anders lag das Ergebnis bei früher Intervention und zeitnaher Nachbesprechung mit Spezialisten. Hier lagen die Kosten bei 8.500 US-Dollar und einer wesentlich verkürzten Erholungsphase von nur 12 Wochen. Heruntergebrochen auf die heutige Zeit steht hier nur ein Verlust an Bruttowertschöpfung von rund 24.000 Euro zu Buche.
Fazit
Eine Vorbereitung auf den Fall der Fälle ist ein Muss. Hierzu sollte das betrieblichen Notfallmanagement kritisch überprüft werden. Die Schulung von Mitarbeitern (Peer-Ausbildung) macht sich für die Arbeitsicherheit, Mitarbeiter und Unternehmen bezahlt. Auch hilft es, wenn es regional Netzwerke gibt, die helfen, psychisch belastende Extremsituationen besser zu überstehen.
10 goldene Regeln im Umgang mit Notfall, Trauma und Krise (nach Hans Oberschulte, BASF)
- Seien Sie vorbereitet!
- Seien Sie schnell!
- Glauben Sie keinen Gerüchten! Doppelter Faktencheck hilft!
- Gegen Social Media haben Sie keine Chance. Kommunizieren Sie dennoch so schnell und ausführlich wie irgend möglich, nach außen und innen.
- Unterstützung und Anwesenheit von Führungskräften hilft.
- Definieren Sie „Betroffene“ nicht zu eng und betreuen Sie (erst mal fragend) auch Rettungskräfte und zufällig Anwesende!
- Drängen Sie sich nicht auf, aber seien Sie unübersehbar anwesend und hilfsbereit.
- Betreuung von Betroffenen kann eine sehr große Bandbreite umfassen – bis hin zu Hausbesuchen und Unterstützung bei der Erledigung alltäglicher Dinge.
- Lassen Sie sich von der Trauer und dem Schmerz Betroffener nicht mitreißen.
- Achten Sie auf Ihre eigene Kraft! In Extremsituationen hält man erstaunlich lange durch – und zehrt doch stark von der Substanz.
Autor: Ulrich Welzel
Notfallseelsorger, Sanitäter, Hospizbegleiter
Er betreut Unternehmen bei der Intervention und Nachsorge von Mitarbeitern nach extrem belastenen Ereignissen