Das Amtsgericht (AG) Cochem und das Landgericht (LG) Koblenz hatten am 5. November 2012 und am 21. April 2015 über folgenden Fall zu entscheiden:
Sachverhalt
Am 3. April 2010 fand anlässlich der 175-Jahr-Feier der Deutschen Bundesbahn ein „Dampfspektakel“ mit vielen historischen Dampflokomotiven statt. Die Dampflok N11 hatte auf der Strecke Gerolstein – Kaisersesch gerade eine Fahrt abgeschlossen und stand zur Reparatur auf Gleis 3 des Bahnhofs Ulmen.
Folgende Personen waren bei einem tragischen Unfall während der Instandhaltungsarbeiten beteiligt (siehe auch Abbildung 1 auf Seite 35):
- Y ist Pensionär und war früher bei der Bahn beschäftigt – er war Lokführer der N11.
- Z ist Maschinenbautechniker – er war der Heizer.
- A war 17 Jahre und „den beiden als Auszubildender zugewiesen“ – er verrichtete „Handlangerdienste“.
- X ist angestellter Referent – er fuhr die Lok „Hannover 7512“ mit dem Zug N16, die den späteren Unfall verursachte (siehe oben).
Nach Abschluss der Reparatur an der Lok N11 sollte eine Sichtprobe der Dichtigkeit durchgeführt werden. Y begab sich in den Führerstand der Lok und Z und A standen im Gleisbett zwischen Gleis 2 und 3 und sollten prüfen. Austretender Dampf führte zu Sichtbehinderungen und erheblicher Geräuschentwicklung.
Der Fahrdienstleiter im Bereich des Bahnhofs hatte Y und Z mitgeteilt, dass die Lok „Hannover 7512“ mit dem Zug N16 in Kürze – etwas verspätet – um 14:15 Uhr über Gleis 2 in den Bahnhof Ulmen einfahre. Tatsächlich fuhr die Lok aber schon um 14:00 Uhr mit einer Geschwindigkeit von 40 bis 41 km/h in den Bahnhof ein. Lokführer X hatte die Verspätung weitestgehend eingeholt.
Nach den Betriebsvorschriften der Vulkan-Eifel-Betriebsgesellschaft (VEB) – einer „Sammlung betrieblicher Vorschriften“ – muss bei Einfahrt in den Bahnhof Ulmen ab Weiche 2 die Geschwindigkeit auf 30 km/h reduziert werden. Die Weiche 2 liegt 142 m entfernt zum späteren Unfallort (siehe Abbildung 1). Das AG Cochem ergänzt: „Außerdem hätte X ab dem Überweg Bahnsteig 1 und Bahnsteig 2 wegen der Zuglänge von 89 m nur mit Schrittgeschwindigkeit, also ca. 5 km/h weiterfahren dürfen“. Schlussfolgerungen hieraus zog das AG indes nicht – und auch im Urteil des LG Koblenz findet sich zu diesem Aspekt keine Aussage mehr.
Vor der Weiche 2 gab X mehrfach Achtungssignale ab, ab Weiche 2 gab er Dauersignal mit der Dampfpfeife. Obwohl X die im Einfahrgleis befindlichen zwei Personen beobachtete und feststellte, dass sie ihm mit dem Rücken zugewandt waren und sie auf seine Warnsignale weder durch Blickzuwendung oder Handzeichen reagierten, hielt er die von ihm gefahrene Geschwindigkeit zunächst bei und leitete 5 m (so das AG Cochem) beziehungsweise 25 m (so das LG Koblenz) vor der späteren Unfallstelle eine Schnellbremsung ein, dann noch ein bis zwei Sekunden später eine sogenannte „Sandung“, um die Bremswirkung noch zu verstärken. Z wurde von der Lok gestreift, A wurde erfasst und erlitt schwerste Kopfverletzungen, denen er später im Krankenhaus erlag.
Verteidigung der Angeklagten
Die Staatsanwaltschaft Koblenz klagte X, Y und Z wegen fahrlässiger Tötung an. Die „Angeklagten bestreiten insgesamt jede Verantwortlichkeit bezüglich des Todes von A“:
- X meinte, „dass er den Unfall nicht vermeiden konnte. Er habe zwar die Personen im Gefahrenbereich gesehen, es sei jedoch im Bahnbetrieb immer wieder üblich, dass sich autorisierte Personen im Gleisbereich bewegten. Zudem habe er den ihm persönlich bekannten Angeklagten Z als eine der Personen wiedererkannt, sei daher davon ausgegangen, dass seine Warnsignale gehört und beachtet würden“.
- Y argumentierte, dass er den „örtlichen Betriebsbeamten im Bahnhof Ulmen über Funk von den Reparaturarbeiten informiert habe. Dieser habe ihm gegen 14:00 Uhr mitgeteilt, dass der einfahrende Zug auf Gleis 2 sich verspätet habe und gegen 14:10 Uhr erst erwartet werde. Er sei daher davon ausgegangen, dass in Ruhe die Reparatur am Ventil durchgeführt werden konnte“.
- Z sagte, „dass er sich schließlich selbst in den Gefahrenbereich begeben habe. Er sei zum Zeitpunkt des Unfalls nicht darüber im Klaren gewesen, wo sich A aufgehalten habe. Er habe darauf vertraut, dass nach der Information des örtlichen Betriebsbeamten aufgrund der Verspätung der Zug N16 noch nicht in den Bahnhof einfahren werde“.
Urteile
Das AG Cochem verurteilte alle drei Angeklagten, weil sie sich „einer fahrlässigen Tötung zum Nachteil des A schuldig gemacht haben“. Das LG Koblenz bestätigte die Urteile gegen die beiden Instandhalter, sprach den Lokführer X dagegen frei.
Auszug Strafgesetzbuch (StGB)
§ 222 Fahrlässige Tötung
Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
I. Lokführer der „Hannover 7512“ (X)
1. Amtsgericht Cochem
Das AG Cochem verurteilt X zu einer Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen, die einkommensabhängig auf 50 Euro festgesetzt werden: Er hat den „größeren Verantwortungsbeitrag“, denn er „hat die Gefahrensituation erkannt und ist sehenden Auges weiterhin mit einer Geschwindigkeit von 40 km/h mit seiner Lok gefahren“:
„X hätte spätestens ab Weiche 2, als er die im Gleisbett und im Profil seiner einfahrenden Lok befindlichen zwei Personen bemerkte, nicht nur Warnpfiffe beziehungsweise einen Dauerpfiff abgeben müssen, sondern er hätte angesichts der erkannten Gefahr bereits hier eine Schnellbremsung einleiten müssen. Er hatte erkannt, dass die beiden im Gleisbett befindlichen Personen auf seine Warnpfiffe nicht durch Handzeichen oder gar Blickzuwendung reagierten, somit durfte er nicht darauf vertrauen, dass diese rechtzeitig das Profil der einfahrenden Lok auf Gleis 2 verlassen würden. Bei rechtzeitiger Bremsung hätte der Angeklagte X den Unfall vermeiden können“.
2. Landgericht Koblenz
Das LG Koblenz sprach den Lokführer X dann aber frei: Er ist zwar „mit einer objektiv zu hohen Geschwindigkeit in den Bahnhofsbereich eingefahren“ – 40 km/h statt 30 km/h. Aber „ihm ist diesbezüglich kein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen“.
- Zunächst hat ein Sachverständiger „nachvollziehbar ausgeführt, dass aufgrund des Einsatzes eines örtlichen Betriebsbediensteten im Bahnhof Ulmen der sachliche Grund für die Geschwindigkeitsreduzierung entfallen wäre“.
- Weiterhin „hätte nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen auch bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 30 km/h der Unfall in der gleiche Weise passieren können“.
- Außerdem war dem X „nach seiner unwiderlegten Einlassung die Langsamfahrstelle nicht bekannt. Dies ist auch nachvollziehbar, da sich nachweisbar in der Lokomotive ein Geschwindigkeitsheft befunden hat, welches für die fragliche Stelle 40 km/h angegeben hat“.
- Schließlich ist dem X „auch nicht vorzuwerfen, dass er eine frühere Bremsung hätte einleiten müssen. Dabei sind die Besonderheiten des Eisenbahnverkehrs zu berücksichtigen. Ein Lokführer darf darauf vertrauen, dass die vor ihm liegende Strecke frei ist und dass sich Betriebspersonen ordnungsgemäß verhalten“. Daher „konnte dem Angeklagten erst im Zeitpunkt der Einleitung der Bremsung, also erst 25 m vorher, klar sein, dass es tatsächlich zu einer Gefährdung kommen würde“.
- Das LG Koblenz warf dem X auch kein Übernahmeverschulden vor, also „überhaupt die Fahrt angetreten zu sein“, denn er „hat durch das Eisenbahn-Betriebsunternehmen hinreichende Streckenkunde vermittelt bekommen“.
II. Instandhalter Y und Z
1. Amtsgericht Cochem
Die Instandhalter Y und Z verurteilte das AG Cochem aus drei Gründen:
- Erstens haben sie nicht dafür gesorgt, dass Y selbst und A Sicherheitswesten trugen, „obwohl auf der Lok Sicherheitswesten vorhanden waren“. Dieses Argument erstaunt, denn mit Sicherheitswesten wäre der Unfall nicht verhindert worden. X hatte die beiden Personen im Gleis ja gesehen.
- Zweitens haben die Instandhalter nicht dafür gesorgt, dass die Instandsetzungsarbeiten gesichert durchgeführt werden. Sie „durften dem Hinweis, das Gleis sei bis 14:15 Uhr sicher, nicht vertrauen. Es ist allgemein bekannt, dass Verspätungen – wie auch hier geschehen – aufgeholt werden können. Ihnen war bekannt, dass sich auf Gleis 2 ein Zug befand und in Kürze in den Bahnhofsbereich einfahren werde. Nach Durchführung der Reparatur kümmerten sich weder Y noch Z darum, wo sich A aufhielt“.
- Drittens „war das Nachbargleis Nr. 2 nicht gesperrt. Es war für beide auch vorhersehbar, dass angesichts der Geräusche und der Rauchentwicklung A einen möglicherweise einfahrenden Zug, der schließlich auch erwartet wurde, nicht bemerken würde. Beide Angeklagten hätten jedoch sicherstellen müssen, dass sich A gerade nicht im Gefahrenbereich des auf Gleis 2 einfahrenden Zuges N16 aufhielt“.
Das AG verurteilte Y und Z zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 40 Euro.
2. Landgericht Koblenz
Das LG Koblenz bestätigte das AG-Urteil. In der Begründung stellte das Gericht vor allen auf § 23 der BGV C30 Schienenbahnen (heute DGUV Vorschrift 73) ab.
- § 23 Abs. 1 war nicht eingehalten, „da die Reparatur nicht betriebsbedingt erforderlich wäre“.
- Beide Instandhalter haben gegen § 23 Abs. 6 „verstoßen. Die Angeklagten wären als verantwortliche Personen für die Reparatur verpflichtet gewesen, für eine gefahrlose Durchführung der Reparatur zu sorgen“.
- „Hierzu wäre in jedem Fall die Überwachung des Einfahrtbereiches des Gleises nötig gewesen. Dies hätten sie entweder selbst vornehmen können oder eine andere Person beauftragen können“.
- „Beide Angeklagten wären zudem verpflichtet gewesen, den A vor der Reparatur nochmals auf die besondere Sicherheitssituation hinzuweisen“.
- Zudem liegt ein Verstoß gegen § 22 JArbSchG vor. Die Angeklagten „hätten im Rahmen der Reparatur nicht zulassen dürfen, dass A mit zur Dichtigkeitsprobe hinzugezogen wird“.
Auszug aus der DGUV Vorschrift 73 Schienenbahnen (früher BGV C30)
Ҥ 23 Verhalten im Gleisbereich
(1) Versicherte dürfen den Gleisbereich nur betreten, wenn es zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig ist.
(2) Versicherte haben sich im Gleisbereich so zu verhalten, dass sie durch bewegte Schienenfahrzeuge nicht gefährdet werden.
(4) Versicherte dürfen sich nicht unmittelbar vor, hinter oder unter Schienenfahrzeugen aufhalten, die sich für sie unvermutet in Bewegung setzen können.
(6) Versicherte haben sich neben Fahrbereichen, in denen Schienenfahrzeuge bewegt werden, so zu verhalten, dass sie von vorbeifahrenden Schienenfahrzeugen nicht erfasst werden können.
Durchführungsanweisungen zu § 23 Abs. 6
Diese Forderung ist erfüllt, wenn Versicherte hierzu
- den Sicherheitsraum benutzen,
- nicht in den benachbarten Fahrbereich treten,
- anliegende Kleidung tragen,
- sich einen sicheren Halt verschaffen,
sich nicht in Bereichen aufhalten, in denen der Sicherheitsabstand nicht vorhanden ist.
Auszug aus dem Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG)
§ 22 Gefährliche Arbeiten
(1) Jugendliche dürfen nicht beschäftigt werden …
3. mit Arbeiten, die mit Unfallgefahren verbunden sind, von denen anzunehmen ist, dass Jugendliche sie wegen mangelnden Sicherheitsbewusstseins oder mangelnder Erfahrung nicht erkennen oder nicht abwenden können, …
Das LG Koblenz begründete auch noch einmal detaillierter die Verantwortlichkeit der beiden Instandhalter:
- Der Lokführer Y „war als verantwortlicher Triebfahrzeugführer für das auf seiner Lokomotive eingesetzte Personal hauptverantwortlich“.
- Der Heizer Z war „als unmittelbare Ausbildungsperson für A für dessen Sicherheit verantwortlich und zudem als die Person, die unmittelbar an der Dichtigkeitsprüfung beteiligt war, ebenfalls garantenpflichtig. Durch das gemeinsame Absteigen in das Gleisbett hat der Angeklagte zudem tatsächlich eine Schutzpflicht übernommen“.
Zur Fahrlässigkeit sagte das LG: „Das Unglück war für beide Angeklagten auch vorhersehbar“:
- „Insbesondere mussten sie damit rechnen, dass zur Zeit der Dichtigkeitsprüfung ein Zug in den Bahnhof einfährt.“
- „Ihnen war generell bekannt, dass auf dem Nachbargleis Zugverkehr herrscht.“
- „Ihnen war konkret bekannt, dass die Einfahrt eines Zuges unmittelbar bevorsteht“.
- „Insoweit durften sie sich nicht auf die Angaben des Fahrdienstleiters verlassen, der Zug komme später.“
- „Aufgrund der besonderen Gefährdungssituation erscheint es bereits an sich nicht geeignet, sich auf eine unverbindliche Angabe eines Bediensteten diesbezüglich zu verlassen.“
- „Hinzu kommt noch, dass es auch nach Laienbetrachtung jederzeit möglich ist, dass ein Zug Verspätung aufholt. Das gilt hier umso mehr, als aufgrund der Besonderheiten der Veranstaltung der Fahrplan sehr großzügig bemessen war und mehrere Bedarfshaltestellen eingerichtet waren.“
Die Angeklagten „durften sich auch nicht darauf verlassen“,
- „dass der Fahrdienstleiter aufgrund der Reparatur die Strecke sperrt“ und
- „dass der Fahrdienstleiter sie per Funk über die Aufholung der Verspätung unterrichtet“,
- denn es „war ihnen bekannt, dass der Fahrdienstleiter auch noch die Reisendensicherung am Bahnhof Ulmen durchführen musste und aufgrund des hohen Publikumsandrangs in erheblicher Weise in Anspruch genommen war“.
III. Strafzumessung
Das AG Cochem berücksichtigte bei der Strafzumessung folgende zwei Gesichtspunkte zugunsten aller Angeklagten:
- Erstens handelt es sich um ein „Augenblicksversagen. Alle Angeklagten handeln in ihrer Freizeit zur Freude der Gemeinschaft. Eine Durchführung solcher Dampflok-Events, die zahlreiche Zuschauer anziehen, wäre ohne den gesellschaftlichen Einsatz von Menschen wie den Angeklagten nicht möglich“.
- Zweitens durfte „nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass offenbar die Sicherheitsmaßnahmen im Bereich des Bahnhofs nicht hinreichend waren. Deshalb trifft die Verantwortlichen für die Durchführung dieses Dampflok-Spektakels gleichfalls ein nicht unerhebliches Verschulden“. Näheres hierzu steht im Urteil dann indes nicht, muss es aber auch nicht, denn von diesen Veranstaltern war niemand angeklagt.
Das LG Koblenz ergänzte zur Strafzumessung:
- Zugunsten des Lokführers Y war zu würdigen, dass er „nicht unmittelbar mit A im Gleisbett war“, dass „organisatorische Mängel bei der Durchführung der Veranstaltung festzustellen sind“ (insbesondere „betrifft das die Frage der Zuständigkeit des örtlichen Betriebsbediensteten“) und dass er „sich auf die Aussage des Fahrdienstleiters verlassen hat“.
- Zu Lasten des Y „war seine besondere Verantwortung als Triebfahrzeugführer für das bei ihm eingesetzte Personal zu würdigen“.
- Zugunsten des Heizers Z war zu würdigen, „dass er als Heizer nur eine nachgeordnete Aufsichtsfunktion auf der Lokomotive wahrzunehmen hat. Zudem wurde er durch den Vorfall selbst gefährdet“.
- „Zu seinen Lasten war hingegen zu würdigen, dass er durch das Absteigen gemeinsam mit A eine unmittelbare Schutzpflicht und eine nähere Zukunftsmöglichkeit1 gehabt hat.“
Fazit und Schlussfolgerungen
Die Urteile verdeutlichen:
1. Verantwortung kann sehr unterschiedlich gewertet werden
Das AG Cochem sah den „größeren Verantwortungsbeitrag“ beim Lokführer X, das LG Koblenz sprach gerade ihn dagegen als Einzigen frei.
2. Kausalitätsfragen müssen auf solider Tatsachenbasis beantwortet werden
Nach dem AG Cochem begann der Lokführer X erst 5 m vor der Unfallstelle mit der Bremsung, nach dem LG Koblenz waren es 25 m.
Das LG rechtfertigt den Freispruch des X damit, dass ihm erst 25 m vor dem Unfall „klar sein konnte, dass es tatsächlich zu einer Gefährdung kommen würde“, begründet wird das nicht: „Nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen hätte auch bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 30 km/h der Unfall in der gleiche Weise passieren können.“ Das ist zu wenig, um die Verursachung des Unfalls durch X zu verneinen. Es geht bei der Kausalität um Wahrscheinlichkeiten, nicht nur Möglichkeiten. Das AG Cochem zitiert den Sachverständigen so: „Bei einer zulässigen Geschwindigkeit von 30 km/h ab Weiche 2 und einer Entfernung von 142 m bis zum Standort der zwei Personen hätte der Bremsweg bei einer Schnellbremsung dann 58 m betragen.“
3. Unfallverhütungsvorschriften in Strafverfahren
Selbst wenn es – wie hier die BGV C30 Schienenbahnen (heute DGUV Vorschrift 73) – einschlägige Rechtsvorschriften gibt, werden sie insbesondere in Strafurteilen2 nicht immer herangezogen3: hier erst in der 2. Instanz vom LG Koblenz.
4. Unwissenheit kann – ausnahmsweise – vor Strafe schützen
Betriebsvorschriften verlangten eine Geschwindigkeit von 30 km/h, X aber fuhr 40 km/h. Das LG berücksichtigte zu seinen Gunsten, dass ihm die Langsamfahrstelle nicht bekannt war.
Strafgesetzbuch (StGB)
§ 17 Verbotsirrtum
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte.
Die Rechtsgrundregel gemäß § 17 StGB ist, dass nur „fahrlässige Unkenntnis nicht vor Strafe schützt“4, wobei aber das OLG Koblenz einmal „hohe Anforderungen“ betonte, die an die Rechtserkundigungspflichten gestellt werden5. Hier war aber ein Geschwindigkeitsheft im Zug, nach dem 40 km/h zulässig waren. Und in einem Bericht über das Gerichtsverfahren zum Unfall heißt es zur „Sammlung betrieblicher Vorschriften (SbV), es wurde letztlich festgestellt, dass eine SbV nicht zu den betrieblichen Unterlagen gehört, die einem Lokführer unmittelbare Anweisungen für die an einem konkreten Ort zu fahrende Geschwindigkeit gibt“6.
Zu den Rechtssprüchen „Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung“ und „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ siehe Sicherheitsingenieur Ausgabe 6/20, S. 14, und Ausgabe 7/20, S. 34, und in diesem Heft ab S. 38: „Die Unkenntnis des Rechts ist vorzugsweise strafverschärfend, und nur ausnahmsweise strafvermeidend.“
5. Zahlreiche und widersprüchliche Vorschriften
Die Höchstgeschwindigkeit war laut „Geschwindigkeitsheft“ 40 km/h und laut „Betriebsvorschriften“ 30 km/h. Ist die SbV wirklich keine verbindliche Anweisung?
Aus meiner Sicht stellt sich eher die Frage der Verbindlichkeit des „Geschwindigkeitshefts“. In einer DGUV-Regel wird die Verbindlichkeit der SbV so angedeutet7: „Angaben über das Durchführen von Fahrten enthalten die von den Eisenbahnunternehmen aufzustellenden Betriebsanweisungen, z.B. die ‚Sammlung betrieblicher Vorschriften (SbV)‘ oder die ‚Dienstordnung‘, die der Eisenbahnbetriebsleiter beziehungsweise der Anschlussbahnleiter aufzustellen hat.“
Die SbV beruht auf der Fahrdienstvorschrift für nichtbundeseigene Eisenbahnen (FV-NE) und diese auf der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO). § 1 Abs. 3 FV-NE sagt, die „besonderen Regelungen gibt der Eisenbahnbetriebsleiter in der Sammlung betrieblicher Vorschriften (SbV) bekannt“. Die „Fahrdienstvorschrift; FV-NE“ der DB Netz AG ist als Richtlinie 438 (Ril 438) im Internet abrufbar8. In einem Schreiben des Hauptstadtbüros des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) vom 28. September 2017 an „Anwender der FV-NE“ ist im Zusammenhang der „Fahrdienstvorschrift für nichtbundeseigene Eisenbahnen“ von „anerkannten Regel der Technik“ die Rede, und es sind als Zielgruppe neben Zugleitern, Fahrdienstleiter und Zugbegleiter auch Triebfahrzeugführer genannt.
In § 45 Abs. 2 ist zu Fahrgeschwindigkeiten geregelt: „Die zulässigen Geschwindigkeiten eines Zuges sind in seinem Fahrplan vorgeschrieben. Sie können eingeschränkt sein durch … e) Regeln in der SbV. Einschränkungen, sofern nicht im Fahrplan angegeben, sind an einer Stelle der SbV zusammenzufassen“. Und dann heißt es ausdrücklich: „Die jeweils niedrigste Geschwindigkeit ist die zulässige Geschwindigkeit des Zuges.“
6. Automatische Sicherheitspflichten
Sicherheitspflichten entstehen automatisch durch die Übernahme einer Aufgabe. Einer gesonderten Übertragung bedarf es nicht – ein Schriftstück ist nicht erforderlich9. Sicherheitsverantwortung besteht schließlich auch, wem Personen bei Ausübung eines Ehrenamtes oder in der Freizeit anvertraut sind.
7. Automatische Pflicht zur Fremdvorsorge
Wem Personen anvertraut sind, ist für deren Sicherheit (mit-)verantwortlich. Sicherheitsverantwortung kann aber sogar bestehen, ohne dass die zu schützenden Personen formell anvertraut sind – § 15 Abs. 1 ArbSchG sagt das so: „Die Beschäftigten sind verpflichtet, nach ihren Möglichkeiten sowie gemäß der Unterweisung und Weisung des Arbeitgebers für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit Sorge zu tragen“ – aber auch „für die Sicherheit und Gesundheit der Personen zu sorgen, die von ihren Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit betroffen sind.“ Die DGUV Regel 100–001 Nr. 3.1.1 spricht von einer „Verpflichtung zu Eigen- und Fremdvorsorge“.
So kritisierte das OLG Oldenburg einmal einen Vorarbeiter, dem eine Gerüststange aus der Hand fiel, die dann einen unter ihm stehenden Bauarbeiter schwer verletzte, er hätte „im Rahmen der Abbauarbeiten Umsicht walten zu lassen, damit er nicht ins Stolpern gerät“. Dem verletzten Klempner gab das Gericht ebenfalls mit, „es wäre ihm zumutbar gewesen, Vorsicht walten zu lassen und dadurch den Unfall zu verhindern“10.
8. Abgesicherte Instandhaltungsarbeiten
Instandhaltungsarbeiten müssen mit den erforderlichen „Abschirmungsmaßnahmen“ vorbereitet werden – auch wenn man meint, dass anderweitige Tätigkeiten im räumlichen Bereich der Instandhaltungsarbeiten erst später stattfinden werden. Wenn die Trennung der Gefahrenbereiche möglich ist, darf man auf den Zuruf anderer nicht vertrauen. Für den unternehmerischen Bereich sagt § 10 Abs. 1 BetrSichV, „der Arbeitgeber hat Instandhaltungsmaßnahmen auf der Grundlage einer Gefährdungsbeurteilung sicher durchführen zu lassen“. Und § 10 Abs. 3 Nr. 3 und Nr. 6 BetrSichV spezifizieren, insbesondere ist der „Arbeitsbereich während der Instandhaltungsarbeiten abzusichern“, und „Gefährdungen durch bewegte oder angehobene Arbeitsmittel oder deren Teile sowie durch gefährliche Energien oder Stoffe sind zu vermeiden“11.
9. Vertrauen auf Gefahrvermeidung durch andere?
Man darf – zumindest nach dem Amtsgericht Cochem – nicht auf die Gefahrvermeidung beziehungsweise Reaktionsschnelligkeit anderer vertrauen. Wenn eine Gefahr sichtbar wird, muss man handeln. Wenn man auf Personen zufährt, die den Rücken zukehren und auf Warnungen nicht reagieren, muss gebremst werden.
Das Landgericht Koblenz berücksichtigt dagegen beim Lokführer X Vertrauensschutz: „Ein Lokführer darf darauf vertrauen, dass die vor ihm liegende Strecke frei ist und dass sich Betriebspersonen ordnungsgemäß verhalten.“ Bei der Verurteilung des Y sagte dasselbe Gericht indes: „Aufgrund der besonderen Gefährdungssituation erscheint es bereits an sich nicht geeignet, sich auf eine unverbindliche Angabe eines Bediensteten diesbezüglich zu verlassen.“ Ohne weitere Sachverhaltsaufklärung bleibt unverständlich,
- warum die Angabe des Fahrdienstleiters zu den Zugzeiten „unverbindlich“ sein soll und inwiefern beziehungsweise inwieweit die Aussage zur Streckenfreiheit gegenüber X dagegen „verbindlich“ gewesen sein soll,
- warum nicht auch beim Lokführer X eine besondere Gefährdungssituation berücksichtigt wurde: Er hatte die Personen im Gleis gesehen, er war so nah, dass er sogar den ihm bekannten Z erkannte, und diese Personen sahen ihn dagegen nicht, weil sie ihm den Rücken zugekehrt hatten, er fuhr aber mit hoher Geschwindigkeit weiter.
Fußnoten:
1 Das steht wirklich so im Urteil. Gemeint ist wohl „Zugriffsmöglichkeit“ im Sinne von „Einflussmöglichkeit“.
2 Ausführlich Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen, 2020.
3 Ausführlich Wilrich, Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab – mit 33 Gerichtsurteilen zu anerkannten Regeln und Stand der Technik, Produktsicherheitsrecht und Verkehrssicherungspflichten, 2017.
4 OLG München, Urteil v. 28.03.1996 (Az. U (K) 3424/95).
5 OLG Koblenz, Beschluss v. 29.03.1966 (Az. 2 W 46/66).
6 So Verband Deutscher Museums- und Touristikbahnen, Ulmener Unfall vom Frühjahr 2010 (https://www.vdmt.de/163‑2015/802-ulmener-unfall-vom-fruehjahr-2010 – zuletzt abgerufen 01.03.2021).
7 DGUV Regel 114–002 – Betrieb von Funkfernsteuerungen bei Eisenbahnen, Nr. 3.2.1.
8 Auch alle folgenden Informationen sind in diesem pdf abrufbar: https://fahrweg.dbnetze.com/resource/ blob/1355916/2fe599284aec6d44becf7c242506224c
/rw_438_b19-data.pdf.
9 Ausführlich Wilrich, Arbeitsschutzverantwortung für Sicherheitsbeauftragte: Bestellung, Rechtsstellung, Pflichten und Haftung als Vertrauenspersonen und Beschäftigte – Grundwissen Arbeitssicherheit, Führungspflichten und Unternehmensorganisation, 2021.
10 Fallbesprechung in Wilrich, Bausicherheit – Arbeitsschutz, Baustellenverordnung, Koordination, Bauüberwachung, Verkehrssicherungspflichten und Haftung der Baubeteiligten, 2021, S. 144 ff.
11 Zur BetrSichV siehe Wilrich, Praxisleitfaden Betriebssicherheitsverordnung, 2. Aufl. 2020.
Autor:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Professor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht und Recht für Ingenieure