Tatsache ist, dass Mitarbeiter in einem industriellen Betrieb nicht in einem konstant gleichbleibenden Arbeitsumfeld arbeiten, in dem sie immer wieder dieselben, gänzlich planbaren Aufgaben ausführen. Sie müssen auch unerwartete oder außergewöhnliche Umstände außerhalb der standardisierten Prozesse und Verfahren bewältigen. Neue Maschinen und Geräte, ungeplante Wartungsarbeiten, Störungen im Produktionsablauf oder plötzliche Ausfälle stellen sie vor neue Herausforderungen. Hier sind die technische Sicherheitsvorkehrungen und ‑vorschriften nur so wirksam wie die Menschen, die sie anwenden. Industrieunternehmen müssen damit rechnen, dass Mitarbeiter nicht automatisch wissen, wie sie in ungewohnten Situationen sicher reagieren sollen.
Was können Unternehmen tun, um sicherzustellen, dass ihre Mitarbeiter unter Zeit- und Situationsdruck die richtige, sicherste Entscheidung treffen?
Riskante Entscheidungen — Entscheidungsprozesse verstehen
Die Antwort liegt in einem besseren Verständnis des menschlichen Entscheidungsprozesses. Laut Verhaltensforschern treffen wir jeden Tag tausende von Entscheidungen. Einige davon beinhalten Risiken. Allerdings treffen wir viele dieser Entscheidungen so schnell – fahre ich jetzt noch bei Gelb über die Ampel?, lese ich beim Gehen noch schnell eine SMS oder WhatsApp auf dem Handy? –, dass von einem rationalen, auf Informationen fundiertem Denkprozess nicht die Rede sein kann.
Neurowissenschaftler haben ermittelt, dass 85 bis 90 Prozent aller Entscheidungen automatisch (erfahrungsbasiert) und intuitiv getroffen und von Gefühlen und Emotionen beeinflusst werden. Daher ist es auch sehr wahrscheinlich, dass sich die Blitz-Reaktionen von zwei Mitarbeitern in der gleichen überraschenden Situation unterscheiden werden.
Das intuitive Denken und Handeln ist „wahrnehmungsähnlich, schnell und mühelos“, meint der für seine experimentelle Wirtschaftsforschung ausgezeichnete Nobelpreisträger Daniel Kahneman; dagegen sei das logische Denken anstrengend und langsam. Daher ist das „intuitive“ spontane Denken auch so verlockend.
Das Management ungewöhnlicher Umstände ist eine Schwachstelle aktueller Sicherheitssysteme, die sich nur auf verhaltensorientiertes Sicherheitsmanagement verlassen. Obwohl ein verhaltensorientierter Sicherheitsansatz vielen Unternehmen in den letzten Jahrzehnten geholfen hat, ihre Unfallzahlen zu reduzieren, stößt er bei der Beeinflussung von spontanen Entscheidungen an seine Grenzen. Und dies macht es auch so wichtig, dass in kritischen Bereichen, in denen falsche Handlungen enorme negative Auswirkungen haben können, heute auch die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der affektiven Psychologie berücksichtigt werden.
Risikowahrnehmung und ‑toleranz
In Situationen, die uns vertraut sind oder die als sicher wahrgenommen werden, neigen wir dazu automatisch zu reagieren. Das mag ein Grund sein, weshalb Unfälle in einem als „sicher“ eingestuften Arbeitsprozess zu 88 % wahrscheinlicher sind, als bei einem Arbeitsprozess, der als gefährlich eingeschätzt wird.[1]
Bei vermeintlich „sicheren“ Aktivitäten wiegen sich Mitarbeiter häufig wegen vorhandener Sicherheitsvorkehrungen oder aufgrund wiederholt guter Erfahrungen in Sicherheit und haben nicht das Bedürfnis, über die Risiken zu reflektieren und selbstständig Vorkehrungen zu treffen. Sie verlassen sich darauf, dass alles wie gehabt ablaufen wird (Routine). Sobald aber etwas anders als erwartet kommt, müssen sie schnell und möglicherweise unter Stress reagieren. Sie entscheiden dann oft „unüberlegt“.
Diese spontane, affektive Reaktion ist gerade dann besonders riskant, wenn das Risiko nicht präzise wahrgenommen und eingeschätzt wird. Dann können Routine und Erfahrung ein Hindernis sein und die intuitive Reaktion zu einer gewaltigen Fehlentscheidung werden. So stürzte zum Beispiel der Air-France-Flug 447 2009 ab, da routinemäßig ein fiktives Landeziel eingegeben wurde, um mehr Fracht zu laden bzw. Treibstoff zu sparen. So gab es nicht genügend Sprit das Gewitter zu umfliegen. Die Geschwindigkeitsmessungen fielen aus, die Piloten mussten blitzschnell reagieren und verloren die Kontrolle. Im Fall der Costa Concordia war der Kapitän schon öfters ohne Zwischenfall zu nah an die Küste gefahren. Als das Schiff 2012 zu nahe an die Insel Giglio fuhr, kam es zur der überstürzten, fatalen Fehlentscheidung, die 32 Menschen das Leben kostete. In der Industrie sind es zum Beispiel oft Vorfälle mit Gabelstaplern, die gravierende Verletzungen verursachen, weil Mitarbeiter das wahre Risiko, das von ihnen ausgeht, aus Gewohnheit nicht mehr richtig wahrnehmen.
Wenn nur ein kleiner Anteil unserer unbewussten Entscheidungen riskant ist, bringen wir uns täglich hunderte von Male in Gefahr. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls steigt proportional an, je mehr unbewusste Entscheidungen getroffen werden und je mehr Mitarbeiter in einem Team auf ähnliche Weise Spontanentscheidungen treffen, die sich dann auch noch voneinander unterscheiden.
Daniel Kahneman und die Co-Autoren Andrew M. Rosenfield, Linnea Ghandhi und Tom Blaser weisen in der Oktober 2016 Ausgabe der Harvard Business Review (HBR)[2] darauf hin, dass diese Art widersprüchlicher Entscheidungen für Unternehmen einen hohen Preis haben können. Das ist besonders gravierend, wenn es um Entscheidungen geht, die Sicherheit betreffen. Kahneman und seine Co-Autoren schreiben, dass „Urteile von Menschen stark von irrelevanten Faktoren wie zum Beispiel ihrer aktuellen Stimmung, dem Zeitpunkt der letzten Mahlzeit und dem Wetter beeinflusst werden. Wir nennen diese zufällige Schwankungsbreite ‚Noise‘.“
Kahneman und seine Kollegen unterscheiden zwischen sozialen und kognitiven Verzerrungen und „Noise“. Wir sind alle mit sozialen Vorurteilen vertraut, sind uns unserer kognitiven Tendenzen aber weniger bewusst. Sie bauen auf unseren Erfahrungen, Wahrnehmungen und Emotionen auf und verleiten uns dazu gedankliche Abkürzungen zu suchen. Anders gesagt, ist es viel weniger anstrengend, einfacher und schneller sich auf die Routineentscheidung zu verlassen, als neu zu überlegen.
Für das Sicherheitsmanagement industrieller Betriebe gehören zu den wichtigsten kognitiven Verzerrungen:
- Verzerrungen infolge von Gegenwärtigkeit – eine Überschätzung des Wertes vorhandener Informationen. Hat man mit angesehen, wie die Hand eines Mitarbeiters von einer Maschine eingeklemmt wurde, tendiert man dazu, das Risiko eines ähnlichen Unfalls zu überschätzen. Umgekehrt gilt das gleiche. Hat man erlebt, wie jemand ein Risiko eingeht aber glimpflich davonkommt, nimmt man eher an, dass man gefahrlos ähnliche Risiken eingehen kann.
- Verzerrungen infolge von vergangenen positiven Erlebnissen – wenn das Ergebnis wichtiger als die Entscheidungen ist, die es herbeigeführt haben. Ein Beispiel: Hat man eine Maschine mehrmals schnell ohne Lock Out – Tag Out gereinigt und sich nicht verletzt, scheint das Entscheidungs- und Handlungsrisiko relativ gering zu sein.
- Verzerrungen infolge sozialer Einflüsse – äußert eine einflussreiche Person in einer Gruppe seine Meinung zur Gefahr einer bestimmten Aktivität, beeinträchtigt das mit großer Wahrscheinlichkeit recht stark die Risikoeinschätzung einer Reihe von Personen in der Gruppe.
Mehr als nur verhaltensbasierte Sicherheit
Wie können Unternehmen dem Einfluss von „Noise“ und kognitiven Verzerrungen auf sichere und konsequente Entscheidungen ihrer Mitarbeiter entgegenwirken?
Eine Lösung, die Kahneman vorschlägt, ist „Verfahren einzuführen, die Konsistenz fördern, indem sichergestellt wird, dass Mitarbeiter in derselben Rolle auf ähnliche Weise Informationen einholen, sie in eine Beurteilung der Situation einfliessen lassen und diese Beurteilung dann auf eine Entscheidung übertragen.“ Er schlägt vor, dass „Fachkräften benutzerfreundliche Tools wie Checklisten und sorgfältig formulierte Fragen zur Verfügung gestellt werden sollten, um sie beim Sammeln von Informationen zu unterstützen (…).“
Risiko und Belohnung
Bei Entscheidungen wägen Menschen fast instinktiv das Risiko gegen die Belohnung ab. In Anbetracht bisheriger Erfahrungen neigen die meisten von uns dazu, Risiken zu unterschätzen und den Gewinn zu überschätzen. Das führt oft zur falschen, riskanten Entscheidung. In einer Arbeitsumgebung gibt es eine ganze Reihe vermeintlicher Belohnungen
- Produktionsdruck führt zu einer scheinbaren Belohnung. Wenn man schnell etwas ohne abzusperren repariert, kann ohne Unterbrechung weiter produziert werden. Die Zeitersparnis erlaubt es uns, mit der nächsten Aufgabe fortzufahren oder eine Pause zu machen oder früher nach Hause zu gehen. Die kurzfristige Belohnung überwiegt im Vergleich zum Risiko.
- Man möchte sich eine peinliche Situation ersparen oder die Schicht oder den Vorgesetzten nicht enttäuschen. Mitarbeiter wollen nicht, dass es die eigene Schicht ist, die die Aufgabe nicht erfüllt hat.
- Eine persönliche Leidenschaft bietet einen starken emotionalen Anreiz. Wartungsmechaniker reparieren liebend gerne Dinge. Wenn sie auf eine Unterschrift auf der Arbeitserlaubnis, auf das Sperren der Maschine, auf das richtige Öl usw. warten müssen, ist das das Gegenteil einer Belohnung.
- Sozialer Kontakt stellt auch eine starke emotionale Belohnung dar – warum schreiben wir eine SMS oder telefonieren während der Autofahrt?
Ein neuer Ansatz für operationelle Risiken
DuPont hat überlegt, wie Unternehmen das Arbeitsumfeld so ändern können, dass die richtige Entscheidung einfacher wird. Es gibt hier verschiedene Methoden, die Organisationen anwenden können.
Eine ist die von dem Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler entwickelte Nudge-Theorie: Ein „Nudge“ ist ein Handlungsanstoß, der das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise beeinflussen kann, ohne dabei auf Verbote oder Vorschriften zurückzugreifen oder ökonomische Anreize zu bieten. Ein einfaches Beispiel für einen „Nudge“ ist ein Fußgängerweg in der Produktionshalle mit aufgemalten Füßen, der den Anstoß gibt, diesen Weg zu benutzen.
Ein anderer Ansatz ist das, was als „Lean Thinking“ bezeichnet werden kann. Hier werden Betriebsabläufe oder Aktivitäten aus der Risiko-Belohnungs-Perspektive beurteilt. Wenn ein Gehweg mehrmals am Tag zu einem Umweg von 10 Minuten führt, ist die scheinbare Belohnung, die eine Abkürzung bietet, sehr hoch, im Gegensatz zu dem als gering eingestuften Risiko, den Gehweg nicht zu benutzen. Arbeitsabläufe sollten deshalb so verändert werden, dass Mitarbeiter nicht in Versuchung kommen, Abkürzungen zu benutzen.
Automatisches Verhalten hat immer einen Auslöser. Die Routine ist häufig Anlass für bestimmte Verhaltensweisen und lockt mit scheinbaren Belohnungen. Wenn Unternehmen schlechte Gewohnheiten ändern wollen, müssen sie den Auslöser abschaffen, den scheinbaren Gewinn zunichte machen. Neue Gewohnheiten können durch Wiederholung und Anerkennung bestärkt werden.
[1] Dell T, Berkhout J, Injuries at a metal foundry as a function of job classification, length of employment and drug screeing. Journal of Safety Research, 1998: 29: pp. 9–14.
[2] hbr.org/2016/10/noise