Ein Raubüberfall im Supermarkt, ein Amoklauf, ein schwieriger Kunde, der einen Mitarbeiter beschimpft oder bedroht: All das sind Fälle von Gewalt am Arbeitsplatz. Was geschieht, wie Unternehmen und Beschäftigte vorbeugen können und wie die Unfallversicherungsträger helfen, erfuhren Besucher einer Vortragsveranstaltung der Fachvereinigung Arbeitssicherheit (FASI).
Ein Überfall an der Arbeitsstätte ist ein Arbeitsunfall. Ebenso wie eine psychische Krankheit, die jemand bekommt, nachdem er einen schweren Unfall miterlebt hat. Darauf wies Henning Krüger von der Berufsgenossenschaft Gastgewerbe und Nahrungsmittel (BGN) Mainz hin. Sie hatte die eintägige Veranstaltung organisiert, bei der Präventionsexperten in fünf sehr dichten, praxisnahen Vorträgen den Zuhörern einen tiefen Einblick in die Problematik vermittelten.
Durchaus nicht selten werden Beschäftigte Opfer von Gewalt. 1289 „von Menschen ausgelöste Unfälle“, d.h. Überfälle und Ladendiebstähle, die mit Gewalt einhergingen, verzeichnete allein die BG Handel und Warendistribution (BGHW) im Jahr 2010, so Dirk Gerten von der BGHW. Drei Viertel aller Gewalt im Einzelhandel geschieht durch Raubüberfälle. In vielen Fällen befolgten Opfer die Anweisungen der Täter nicht, machten die Kasse oder den Tresor nicht auf oder versuchten sogar, den Täter zu stellen – zu ihrem eigenen Schaden. Ein Mensch kam im Jahr 2010 ums Leben, es gab aber auch schon Jahre mit acht oder neun Toten. Am häufigsten trifft es Beschäftigte des Lebensmittelhandels. Besonders gefährlich sind im Lebensmittelhandel die Zeiten um den Ladenschluss. Außerdem die Nebeneingänge, durch die sich fremde Personen Zutritt verschaffen können. Fremde in nicht öffentlichen Bereichen sollten deshalb unbedingt überprüft werden, betonte Dirk Gerten.
Was Profis abschreckt
Bei Juwelieren und Tankstellen passiert nicht so viel. Dies sei ein Erfolg von deren relativ guten, vor allem bei den Tankstellen in den letzten Jahren verbesserten Sicherungsmaßnahmen, sagte Dirk Gerten.
Zu den Präventionsmaßnahmen zähle „alles, wodurch weniger Geld im Laden ist“, so der Fachmann von der BGHW: Kartenzahlung, regelmäßiges Abschöpfen der Kasse. Auch ein Tresor-im-Tresor-System oder Zeitschloss-gesicherte Tresore, die es für Mitarbeiter unmöglich machen, an Geld heranzukommen, schrecken Profis ab. Natürlich nur, wenn Schilder gut sichtbar, am besten in mehreren Sprachen, darauf hinweisen. Den Anreiz zum Diebstahl oder Überfall senkt auch ein sehr tiefer, hoher Tresen, der verhindert, dass potentielle Täter den Inhalt der Schublade einsehen können. Effektiv ist natürlich auch eine Kamera-Überwachung mit deutlich sichtbarem Hinweis darauf.
Allerdings: Sind Verkaufsstellen gut gesichert, verlagerten sich Überfälle auf das „nächstschwächere“ Glied, also auf weniger gesicherte Verkaufsstellen, erklärte Gerten. Die wichtigsten Schutzmaßnahmen fasste er kurz zusammen:
- Davor: Anreize minimieren und es dem Täter möglichst schwer machen.
- Dabei: Es ihm möglichst leicht machen, das heißt, seine Anweisungen befolgen, um Gewalt zu vermeiden. So solle man einem Ladendieb nicht den Fluchtweg verstellen, denn gerade dann könne er gewalttätig werden.
- Danach: Betroffenen helfen sowie Beobachtetes genau an die Polizei weitergeben, um den Fahndungserfolg zu erhöhen.
Zu sicherem Verhalten während eines Überfalls gibt es verschiedene Schulungsmaterialien, auch Filme der BG, zu finden unter www.bghw.de. Die BGHW führt auch Seminare zusammen mit polizeilichen Präventionsstellen und den Industrie- und Handelskammern durch. Sie hat außerdem eine Handlungsanleitung zur Gefährdungsbeurteilung „Raubüberfälle im Einzelhandel“ für Klein- und Mittelunternehmen herausgegeben. Raubüberfälle seien eine typische Gefährdung, die der Unternehmer nicht wahrnehme, so Dirk Gerten. Nach einem Überfall bietet die BGHW ein psychologisches Nachsorgeverfahren. Ein Psychologe meldet sich innerhalb von 48 Stunden bei den Betroffenen und versucht, ein Stimmungsbild aufzunehmen.
Wie geht man als Mitarbeiter mit aggressiven Kunden um? Tipps dazu gab Diplom-Psychologin Justine Glaz-Ocik. Bedrohliche Situationen reichten von Beleidigungen, über Kunden, die starren, drohen, stalken bis hin zu Personen, die eine Waffe in der Hand halten. Jeder fühle sich an anderer Stelle bedroht, das führe zu einer Stressreaktion, zum Rückzug oder sich wehren, wobei man dann oft unüberlegt handle. Deshalb sei es wichtig, früh Grenzen zu ziehen, aber so, dass sich die Situation beruhigt. Das heißt, mit Deeskalationsstrategien gegenzuwirken, ehe sich eine Situation hochschaukelt.
Situative und kalte Aggression
Wie dies geschehen könne, erläuterte Glaz-Ocik: Die Person mit Namen ansprechen, sie ernst nehmen, herablassende Formulierungen wie „Beruhigen Sie sich“ vermeiden, höflich auftreten und der Person zuhören, ihr nicht widersprechen. Wichtig sei auch eine offene und aufrechte Körperhaltung, also keine verschränkten Arme und sich der Person seitlich, schräg von Vorne zu nähern statt frontal. „Menschen, die gewaltbereit sind, haben einen größeren Sicherheitsbereich“, so die Psychologin. Berührung empfänden sie oft als Bedrohung. Positiv sei es, dem verärgerten Kunden Lösungen anzubieten, etwa „wir klären das“. Eigene Stressreaktionen sollte man akzeptieren.
Neben so genannter „situativer“, sich hochschaukelnder Aggression, gebe es die „kalte“ zielgerichtete Aggression. Dieser „geplante Angriff auf ein bestimmtes Ziel, etwa aus Rache oder zur Machtausübung“ sei allerdings seltener. „Hier muss man ganz klare Grenzen ziehen“, so Justine Glaz-Ocik. Ein Vorgesetzter sollte früh hinzugezogen werden. Falls keine Deeskalation möglich sei, die Person Lösungsoptionen ablehne, solle man im Zweifelsfall fliehen. Der oder die Angestellte solle auf sein/ihr intuitives Gefühl der Angst hören. Im Notfall könne dabei eine List helfen. So könne man mit Wünschen des Kunden arbeiten, etwa ihm sagen, dass man schnell etwas für ihn Wichtiges holen müsse.
Drohungen ernst nehmen
Als weiterer Referent gab Dr. Jens Hoffmann vom Team Psychologie und Sicherheit Einblicke in seine Tätigkeit als Experte, der bei Bedrohungen hinzugezogen wird. Er betonte, wie wichtig ein Bedrohungsmanagement für Organisationen sei, dass es sogar Fälle von schwerer Gewalt, etwa Amokläufe, verhindern oder Mitarbeiter vor Stalkern schützen könne. Drohungen müssten ernst genommen werden, so Jens Hoffmann. Bevor es zu schweren Gewalttaten in Organisationen gekommen sei, hätten Kollegen oft etwas gemerkt, aber nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollten. „Jemand ist bedrohlich, und alle schleichen darum herum“, beschrieb er eine häufige Situation. Aber: „Menschen, die schwere Gewalttaten begehen, haben fast immer ein Muster von Verhaltensweisen“, so Hoffmann. Fachleute könnten dieses Muster erkennen und rechtzeitig eingreifen. Die Mitglieder eines Bedrohungsmanagement-Teams, am besten aus verschiedenen Bereichen kommend, sollten geschult und als Ansprechpartner in der Organisation bekannt gemacht werden. Sie müssten ein internes und externes Netzwerk, mit Polizei und Psychiatern, aufbauen.
Es betrifft viele Branchen
Über den Umgang mit schwierigen Kundensituationen sprach Tobias Belz, von der Verwaltungsberufsgenossenschaft (VBG). Sie versichert Mitarbeiter von über hundert Branchen, darunter viele mit Kundenkontakt. Als von Gewalt betroffene Branchen in der VBG zählte er auf: Bildungseinrichtungen, Sportvereine, ÖPNV/Bahnen, Wach- und Sicherungsunternehmen, Banken, Spielstätten, Sozialversicherungsträger, Automobilclubs, Freizeitparks, Callcenter durch verbale Gewalt am Telefon, Hausmeister von Wohnungsbaugesellschaften und Gasableser. Die Liste ist also lang. Risikofaktoren seien neben Kundenkontakt der Umgang mit Waren und Geld, Einzelarbeitsplätze, Kontakt zu verhaltensauffälligen Personen oder etwa Drogenabhängigen, die Beschäftigung in Unternehmen, die viele Fehler machen, und Entscheidungen zu treffen, die in das Leben anderer eingreifen.
Unternehmen haben Nachholbedarf
„Belastungen durch Kunden gehen mit psychischen Belastungen einher. Diese müssen Inhalt der Gefährdungsbeurteilung sein“, sagte der Vertreter der VBG, der hier noch Nachholbedarf bei den Unternehmen sieht. Damit den Mitarbeitern der Kontakt zu schwierigen Kunden leichter falle, müsse man ihre Ressourcen stärken. Etwa durch Unterstützung von Kollegen und wertschätzendes Führungsverhalten durch Vorgesetzte, klare Handlungsanweisungen oder auch Ausgleich in der Freizeit. Häufig stünden die Mitarbeiter in einem Spagat zwischen den Regeln des Unternehmens, freundlich zu schwierigen Kunden zu sein, und ihren eigenen Gefühlen ihnen gegenüber. Hier helfe so genanntes Deep-Acting. Dabei sollten Mitarbeiter Gefühle, die das Unternehmen von ihnen erwarte, möglichst auch selbst empfinden. – Hört sich nicht einfach an, aber man könne es lernen, versicherte Tobias Belz. Die Präventionsmaßnahmen gegen Gewalt reichten von der Klärung des rechtlichen Rahmens, über die Möblierung (nichts Schweres auf dem Schreibtisch), Notrufeinrichtungen bis zu regelmäßigen Gesprächen und Möglichkeiten für Auszeiten beziehungsweise Ruhepausen.
Fahrstunden nach dem Taxi-Überfall
Was die Unfallversicherungsträger nach einem belastenden Ereignis leisten, erläuterte Claudia Drechsel-Schlund von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Dabei kann es sich um ein Trauma nach einem bestimmten Ereignis handeln, einen Unfall mit schweren körperlichen Verletzungen, der verarbeitet werden muss, oder psychische Dauerbelastungen durch Stalking, Mobbing oder beispielsweise auch Beobachten von lebensbedrohlichen Situationen etwa bei der freiwilligen Feuerwehr. Bei Dauerbelastungen handle es sich um keinen Berufskrankheiten-Tatbestand, da sie sich über einen längeren Zeitraum hinziehen. Die Unfallversicherung löst dieses Problem, indem sie ein einmaliges Ereignis als Grundlage nimmt. Wichtig sei, dass Fälle frühzeitig, zuerst beim Durchgangsarzt, gemeldet werden. Daraufhin recherchiert die Unfallversicherung den Krankheitsverlauf nach dem Ereignis und entwickelt abgestimmte Therapie-Ziele. Die Therapie kann zum Beispiel auch Fahrstunden für überfallene Taxifahrer beinhalten. Neuerdings stehen Betroffenen auf jeden Fall fünf probatorische Sitzungen bei einem Therapeuten zu. Genauere Informationen enthält eine Broschüre, herausgegeben von der DGUV, mit dem Titel: „Empfehlungen der Gesetzlichen Unfallversicherung zur Prävention und Rehabilitation von psychischen Störungen nach Arbeitsunfällen“. Da sich psychische Störungen leicht chronifizieren, versuchen die Unfallversicherungsträger Betroffene innerhalb von sechs Monaten wieder an ihren Arbeitsplatz, aber unter sicheren Bedingungen, einzugliedern oder sie an einen anderen Arbeitsplatz umzusetzen.
Verena Manek
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