Während sich viele Unternehmen auf die krankheitsbedingten Fehlzeiten und deren Senkung konzentrieren, wird ein Phänomen häufig kaum wahrgenommen: Präsentismus. Der Begriff bezeichnet das Verhalten, krank zur Arbeit zu gehen, obwohl ein Krankenschein möglich gewesen wäre. Wer dies macht, spielt mit seiner Gesundheit, aber auch für das Unternehmen rechnet sich die Anwesenheit von Kranken nicht. Im ersten Teil dieses Artikels erfahren Sie Grundsätzliches zum Präsentismus, im zweiten Teil geht es dann um die Prävention.
Stephan Oster
Bis auf wenige Ausnahmen sind die krankheitsbedingten Fehlzeiten in den Unternehmen bundesweit seit Jahren rückläufig. Die Ursachen dafür sind vielfältig: So wird oft angenommen, dass die insgesamt bessere Gesundheitsversorgung sowie die größere Verbreitung der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) die Gesundheit der Beschäftigten positiv beeinflusst haben. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Hinweise dafür, dass der Rückgang der Krankenstände in weiten Teilen nur ein statistischer ist. Danach sind die Beschäftigten aktuell kaum gesünder als früher – sie gehen heute nur häufiger aus den unterschiedlichsten Gründen krank zur Arbeit. Dieses Verhalten – krank zur Arbeit zu gehen, obgleich eine Krankmeldung gerechtfertigt und auch möglich wäre – wird in Deutschland Präsentismus genannt.
Weit verbreitet
Präsentismus ist augenscheinlich weit verbreitet. So haben zum Beispiel bei einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK über 70 Prozent der Befragten angegeben, in den letzten Monaten krank zur Arbeit gegangen zu sein (siehe Tabelle 1). Das bedeutet nicht, dass Beschäftigte aus Angst vor Arbeitsplatzverlust oder Karriereknick, wegen zu großer Loyalität zu Kollegen oder Unternehmen, aus finanziellen oder anderen Gründen schwer krank am Arbeitsplatz erschienen wären. Mit Blick auf die Verbreitung chronischer Erkrankungen auch in der Erwerbsbevölkerung (Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems) ist es wohl eher so, dass „krank zur Arbeit gehen“ mehr Regel als Ausnahme ist.
Wenn insofern jemand mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Arbeit geht, ist das nicht immer wünschenswert, aber eben nicht ungewöhnlich – schließlich ist kaum jemand jeden Tag völlig gesund. Präsentismus darf auch nicht mit dem Verhalten von motivierten Beschäftigten verwechselt werden, die trotz vorübergehenden Unwohlseins, leichter Erkältung oder auch mäßigen Kopfschmerzen am Arbeitsplatz erscheinen. Problematisch wird es allerdings dann, wenn Arbeitnehmer häufiger gegen den ausdrücklichen ärztlichen Rat krank zur Arbeit gehen. Hier zeigen Studien, dass ein solches Verhalten auf Dauer der Gesundheit schadet und zu chronischen Erkrankungen führen kann. Wenn Beschäftigte mit Infektionskrankheiten am Arbeitsplatz erscheinen, besteht darüber hinaus Ansteckungsgefahr für die übrige Belegschaft.
Teuer für die Unternehmen
Auch betriebswirtschaftlich ist Präsentismus ein Problem. Gesundheitlich angeschlagene Beschäftigte sind weniger leistungsfähig, machen mehr Fehler und erleiden und verursachen unter Umständen mehr Unfälle. Mit anderen Worten: Präsentismus kommt auch die Unternehmen teuer zu stehen. Das ist vor allem dort der Fall, wo Beschäftigte Präsentismus als normales Verhalten betrachten, was auf Dauer zu großen Produktivitätseinbußen führt.
Deshalb sollten sich Unternehmen intensiver mit dem Thema Präsentismus befassen. Und das auch mit Blick auf die demografische Entwicklung, die künftig für durchschnittlich ältere Belegschaften mit einem höheren Anteil chronisch kranker Mitarbeiter sorgen wird. Insofern hat die Analyse der Fehlzeiten als klassisches Messinstrument der Mitarbeitergesundheit zwar nicht ausgedient, zusätzlich sollten aber auch Gesundheit und Wohlbefinden der anwesenden Mitarbeiter stärker in den Blick rücken.
Fakten für Deutschland
- Im IGA-Barometer 2007 gaben 27 Prozent der Befragten an, zum Zeitpunkt der Befragung unter einem gesundheitlichen Problem zu leiden. Von diesen 27 Prozent räumten aber nur 15 Prozent ein, in den letzten sieben Tagen wegen Krankheit am Arbeitsplatz gefehlt zu haben. Demgegenüber haben sich allerdings 59 Prozent der Befragten mit gesundheitlichen Problemen deswegen in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt gefühlt. Rund ein Fünftel der Befragten mit gesundheitlichen Problemen schätzt, dass ihre Produktivität um 20 Prozent beziehungsweise um bis zu 40 Prozent vermindert ist. Damit wird die Gesamtbeeinträchtigung der Arbeit durch Gesundheitsprobleme in erster Linie von Produktivitätseinbußen geprägt und weniger von Fehlzeiten.
- Präsentismus ist stärker verbreitet im Bereich von personenbezogenen Dienstleistungen, zum Beispiel bei Lehrern oder Beschäftigten im Gesundheitswesen. Das bestätigt auch das IGA-Barometer 2007. Nur zehn Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen und 13 Prozent der Lehrer und Sozialarbeiter waren danach auf Nachfrage in der vergangenen Woche krankheitsbedingt zuhause geblieben. In den Fertigungsberufen (20 Prozent) und in den technischen Berufen (24 Prozent) geschah das deutlich häufiger. Hingegen berichteten 65 Prozent der befragten Lehrer und Sozialarbeiter von Präsentismus in der vergangenen Woche, andere Berufsgruppen waren deutlich weniger krank am Arbeitsplatz erschienen.
- Die häufig eingeschränkte oder fehlende Akzeptanz von psychischen Erkrankungen im Umfeld der Betroffenen führt dazu, dass Beschäftigte wegen dieser Erkrankungen der Arbeit nicht beziehungsweise nur ungern fernbleiben. Die Ergebnisse des DAK-Gesundheitsreports 2005 zeigen, dass 56 Prozent der Befragten große Bedenken haben, wegen einer psychischen Erkrankung nicht am Arbeitsplatz zu erscheinen.
- Angst um den Arbeitsplatz ist zweifellos ein Einflussfaktor auf Präsentismus. Das bestätigen auch die Ergebnisse des DGB-Index-Gute Arbeit 2009: Danach ist der Anteil derjenigen, die trotz Krankheit zur Arbeit gehen, erheblich höher (71 Prozent) bei denen, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, als bei denen, die davor gar keine Angst haben (41 Prozent).
- Die Bereitschaft zum Präsentismus steigt bei den Beschäftigten, je angespannter die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist. Im Umkehrschluss gilt: Die Bereitschaft sinkt, wenn sich der Arbeitsmarkt entspannt.
- Im Rahmen einer Studie einer großen Unternehmensberatung wurden Kosten in Höhe von 2400 Euro pro Jahr errechnet, die einem Unternehmen pro Mitarbeiter entstehen, der trotz Krankheit am Arbeitsplatz erscheint. Kostenfaktoren waren hier eingeschränkte Leistungsfähigkeit, Fehler und Unfälle. Damit verursachen kranke Mitarbeiter, die trotzdem arbeiten, nach dieser Studie doppelt so hohe Kosten wie kranke Beschäftigte, die zu Hause bleiben.
Arbeitsbezogene Faktoren als Grund
Präsentismus ist riskant. Es drohen akute und langfristige Erkrankungen, ein höheres Unfallrisiko, die Ansteckung von Kollegen usw. Warum gehen Beschäftigte diese Risiken ein? Welche Faktoren fördern Präsentismus? Gibt es so etwas wie Präsentismus-prävention? Antworten auf diese Fragen gibt die Wissenschaft – allerdings keine eindeutigen. Vielmehr zeigt sich: Die Bereitschaft zum Präsentismus wird von persönlichen, arbeitsbezogenen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst.
Zu den persönlichen Einflussfaktoren gehören zum Beispiel Alter, Geschlecht, Beziehungsstatus und Gesundheitszustand. Als strukturelle im Sinne gesellschaftlicher Faktoren gelten zum Beispiel Arbeitsplatzunsicherheit sowie die allgemeine konjunkturelle Lage. Die größte Rolle bei der Entscheidung, krank zur Arbeit zu gehen, spielen aber nach derzeitigem Wissen wohl die arbeitsbezogenen Faktoren. Dazu gehören unter anderem Zeit- und Termindruck, die Unternehmens- und Führungskultur, die Arbeitsorganisation, der Umgang mit Fehlzeiten im Betrieb und anderes mehr.
Vorbeugen ist möglich
Weil das so ist, lässt sich Präsentismus durch Vorbeugung verringern, denn arbeitsbezogene Faktoren lassen sich beeinflussen und gestalten. Voraussetzung dafür ist allerdings ein Umdenken in sicherlich noch zahlreichen Unternehmen. So sollte das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) nicht nur die Fehlzeiten im Blick haben. Ziel sollte vielmehr der langfristige Erhalt von Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten sein. Möglich wird das durch geeignete Maßnahmen in den Bereichen Arbeitsorganisation, Personalwesen, Unternehmens- und Führungskultur. Dazu gehört auch, dass Führungskräfte das eigene Gesundheitsverhalten im Hinblick auf ihre Vorbildfunktion überprüfen. Denn welcher Mitarbeiter wird schon krank nach Hause gehen, wenn der Vorgesetzte gesundheitlich angeschlagen die Stellung hält?
Weiterführende Informationen
- Hägerbäumer, M.: Ursachen und Folgen des Arbeitens trotz Krankheit – Implikationen des Präsentismus für das betriebliche Fehlzeiten- und Gesundheitsmanagement, Dissertation, Osnabrück 2011
- Steinke, M.; Badura, B.: Präsentismus. Ein Review zum Stand der Forschung, Hrsg.: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund/Berlin/Dresden 2011
- Vogt J. et al: Krank bei der Arbeit: Präsentismusphänomene, in: Gesundheitsmonitor 2009, Gesundheitsversorgung und Gestaltungsoptionen aus der Perspektive der Bevölkerung; hrsg. v. Jan Böcken, Bernard Braun, Juliane Landmann; 2009, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
- Zok, K.: Krank zur Arbeit: Einstellungen und Verhalten von Frauen und Männern beim Umgang mit Krankheit am Arbeitsplatz. In: B. Badura, H. Schröder & C. Vetter (Hrsg.), Fehlzeiten-Report 2007. Arbeit, Geschlecht & Gesundheit (S. 121–144). 2008 Springer, Heidelberg
Betriebliche Instrumente
Im Unterschied zu Deutschland und Europa, wo mehr die Ursachen von Präsentismus sowie die gesundheitlichen Folgen für die Beschäftigten im Blickpunkt stehen, wird in den USA Präsentismus mit einem anderen Schwerpunkt definiert. Hier stehen stärker die Einbußen der Arbeitsproduktivität im Fokus, die Organisationen dadurch entstehen, dass ihre Mitarbeiter durch gesundheitliche Beschwerden in ihrer Arbeit eingeschränkt sind und unterhalb ihres durchschnittlichen Arbeitspensums bleiben. Mit Blick auf Demografie und Epidemiologie interessieren dabei in erster Linie chronische Erkrankungen wie Diabetes, Depression, Rückenbeschwerden usw. und deren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit. Für die Erfassung von Präsentismus im Sinne der eingeschränkten Arbeitsproduktivität durch anwesende kranke Mitarbeiter stehen zahlreiche Instrumente zur Verfügung, die fast alle in den USA entwickelt wurden.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hat neun dieser Befragungsinstrumente beschrieben und bewertet, die in der Literatur als derzeitiger Standard bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um die folgenden:
- Endicott Work Productivity Scale (EWPS)
- Health and Labour Questionnaire (HLQ)
- Health and Work Performance Questionnaire (HPQ)
- Health and Work Questionnaire (HWQ)
- Stanford Presenteeism Scale (SPS)
- Work and Health Interview (WHI)
- Work Limitations Questionnaire (WLQ)
- Work Productivity and Activity Impairment Questionnaire (WPAI)
- Work Productivity Short Inventory (WPSI)
Allen diesen Instrumenten wird nicht zuletzt wegen ihrer Kürze eine gute Praxistauglichkeit bescheinigt. Sie liefern belastbare Ergebnisse, was insbesondere für den HPQ, den WLQ und das WHI gilt. Insofern stehen der betrieblichen Praxis unterschiedliche Befragungsinstrumente zur Verfügung, mit denen die gesundheitsbezogene Produktivität erfasst werden kann. Obwohl für einige der Tools bereits deutsche Übersetzungen vorliegen, sollten sie aber nicht ohne vorherige Überarbeitung außerhalb des Ursprungslandes eingesetzt werden.
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