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Gefährdungsbeurteilung mit dem Bow-Tie-Verfahren

Methoden der Risikoanalyse
Gefährdungsbeurteilung mit dem Bow-Tie-Verfahren

Bei der Ermit­tlung von Gefährdun­gen kann das Bow-Tie-Ver­fahren hil­fre­ich sein. Mas­ter­studierende des Fachge­bi­ets Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit an der Ber­gis­chen Uni­ver­sität Wup­per­tal unter­suchen die Anwen­dungsmöglichkeit­en und Gren­zen dieses Analyseinstruments.

Für die Durch­führung von Gefährdungs­beurteilun­gen ste­hen dem Arbeit­ge­ber eine Vielzahl von Hand­lung­shil­fen und Ver­fahren zur Ver­fü­gung. Aus diesen Instru­menten kann er die für seinen Betrieb geeigneten Ver­fahren auswählen. Möglich ist auch, neue Ver­fahren­zu entwick­eln oder diese aus anderen The­men­bere­ichen, wie beispiel­sweise dem Risiko­man­age­ment, anzu­passen und zu übernehmen. Dazu gehört auch das aus dem Bere­ich der Risiko­analyse stam­mende Bow-Tie-Ver­fahren (vgl. Glos­sar), das vere­inzelt auch als „Schmetter­lings­di­a­gramm“ beze­ich­net wird. Der Name „Bow-Tie-Ver­fahren“ leit­et sich aus dem Ausse­hen des Dia­gramms ab: Es ähnelt dem ein­er Fliege (engl. „bow tie“).

So wird ein Bow-Tie-Diagramm erstellt

Die Erstel­lung eines Bow-Tie-Dia­gramms lässt sich in ins­ge­samt sieben Schritte unterteilen. Diese wer­den nacheinan­der bear­beit­et. Die Ergeb­nisse der einzel­nen Schritte wer­den miteinan­der verknüpft (vgl. Abbil­dung 1). Die Iden­ti­fizierung der Gefährdung (Haz­ard) stellt den ersten Schritt dar. Hier­auf auf­bauend wird ein uner­wün­scht­es Ereig­nis (Top Event) ermit­telt, bei dem die Kon­trolle über das iden­ti­fizierte Haz­ard ver­loren wird. Für dieses Ereig­nis wer­den ein­er­seits Aus­lös­er (Threats) iden­ti­fiziert, die dazu führen kön­nen, dass das Ereig­nis aus­gelöst wer­den kann. Ander­er­seits wer­den Auswirkun­gen (Con­se­quences) ermit­telt, die durch das Top Event aus­gelöst wer­den kön­nen. Um zu ver­hin­dern, dass die Con­se­quences ein­treten und wirk­sam wer­den, müssen Bar­ri­eren (Con­trols) in Form von Sicher­heits­maß­nah­men iden­ti­fiziert wer­den. Im näch­sten Schritt wer­den Gefahren für Bar­ri­eren (Esca­la­tion Fac­tors) ermit­telt, die bei ihrem Ein­tritt die Wirk­samkeit der fest­gestell­ten Con­trols her­ab­set­zen oder zu ihrem Ver­sagen führen. Abschließend wer­den Esca­la­tion Con­trols iden­ti­fiziert, die das Wirk­samw­er­den der Esca­la­tion Fac­tors ver­hin­dern. Abbil­dung 2 zeigt das Ergeb­nis ein­er beispiel­haften Anwen­dung des Bow-Tie-Ver­fahrens auf den Betrieb ein­er Espressomaschine.

Ein optimales Verfahren zur Unfallanalyse

Das größte Poten­zial bietet das Bow-Tie-Ver­fahren in dem Teilschritt der Gefährdungs­beurteilung, der auf die Ermit­tlung von Gefährdun­gen abzielt. So wer­den nach dem Erken­nen ein­er Gefährdung die Möglichkeit­en ermit­telt, wie es zur Freiset­zung der Gefährdung – also zur konkreten Gefahr – kom­men kann beziehungsweise wie diese zu ver­mei­den ist.

Beson­ders geeignet ist das Ver­fahren, um inner­halb eines Unternehmens die Ursachen von Arbeits- oder Beina­he­un­fällen festzustellen. Dabei lassen sich gemein­sam mit den betrof­fe­nen Beschäftigten die Ursachen iden­ti­fizieren und geeignete Schutz­maß­nah­men ableit­en. Denkbar ist es auch, das Bow-Tie-Ver­fahren inner­halb der Pla­nungsphase von neuen Ein­rich­tun­gen und Arbeitsver­fahren anzuwen­den: So lassen sich bere­its zu einem frühen Zeit­punkt mögliche Gefährdung­sur­sachen und ‑auswirkun­gen erken­nen und entsprechend aus­gerichtete Schutz­maß­nah­men umset­zen. Außer­dem unter­schei­det das Ver­fahren die Schutz­maß­nah­men hin­sichtlich ihres präven­tiv­en oder reak­tiv­en Charakters.

Es ermöglicht so eine tiefer­ge­hende Analyse bezüglich des Wirkzeit­punk­tes. Hier­aus lässt sich ableit­en, ob Bar­ri­eren fehlen beziehungsweise ein Bedarf an zusät­zlichen präven­tiv­en oder reak­tiv­en Bar­ri­eren besteht.

Sicherheitskultur mit Bow-Tie-Verfahren stärken

Weit­er­hin hat das Bow-Tie-Ver­fahren eine hohe Rel­e­vanz als Kom­mu­nika­tion­swerkzeug: Beschäftigte kön­nen damit bei der Erstel­lung ein­er Gefährdungs­beurteilung aktiv ein­be­zo­gen wer­den. Eine Gruppe aus Beschäftigten, Fach­leuten und Führungskräften trägt dabei die Ergeb­nisse des Bow-Tie-Ver­fahrens zusam­men: Diese bilden die Grund­lage für eine Gefährdungs­beurteilung, welche die prak­tis­chen Erfahrun­gen der Beschäftigten berücksichtigt.

Gle­ichzeit­ig lässt sich so die Akzep­tanz von Schutz­maß­nah­men inner­halb der Belegschaft erhöhen. Durch die Anwen­dung des Ver­fahrens im Team wer­den viele ver­schiedene Denkan­sätze und Sichtweisen bei der Iden­ti­fika­tion von Ursachen und Auswirkun­gen berück­sichtigt. Dieser par­tizipa­tive Ansatz kann ein Baustein sein, um die Sicher­heit­skul­tur des Unternehmens – zumin­d­est im Kon­text der Gefährdungs­beurteilung – zu stärken.

Grenzen und Probleme des Verfahrens

Das Bow-Tie-Ver­fahren ist ein visuell und hier­durch struk­turell gegliedertes Analy­se­in­stru­ment. Es lässt in der Umset­zung großen Spiel­raum. Ob das volle Analy­se­poten­zial des Ver­fahrens aus­geschöpft wird, hängt auch von den beteiligten Per­so­n­en ab. Aufwand, Voll­ständigkeit und Qual­ität des Bow-Tie-Ver­fahrens wird sowohl von dem Fach­wis­sen der Beschäftigten beziehungsweise der extern hinzuge­zo­ge­nen Fach­leute als auch von dem betra­chteten Szenario beeinflusst.

Wie bere­its dargestellt, eignet sich die Methodik des Ver­fahrens her­vor­ra­gend für die Erar­beitung inner­halb ein­er Gruppe. Dies hat den Vorteil, dass ein inter­diszi­plinär­er Aus­tausch zwis­chen sicher­heits- und ver­fahren­stech­nis­chen Fach­leuten sowie gegebe­nen­falls Vertretern weit­er­er Diszi­plinen, erfol­gt. Daraus fol­gt ein erhöhter per­son­eller Ressource­naufwand: Der Kosten-Nutzen-Fak­tor fällt daher – je nach Betra­ch­tungs­ge­gen­stand und per­son­ellen Kom­pe­ten­zen – nicht immer pos­i­tiv aus. Da das Analy­sev­er­fahren nicht selb­sterk­lärend ist, son­dern Ken­nt­nisse und Erfahrung in der Anwen­dung erfordert, ist ein Mod­er­a­tor unabdingbar.

Generell kann das Ergeb­nis, je nach indi­vidu­eller Beteili­gung, sehr unter­schiedlich aus­fall­en. Beispiel­sweise kön­nen Esca­la­tion Con­trols auch als Con­trols (Bar­ri­eren) ange­se­hen wer­den. Somit ist, auch bei definiert­er Detailtiefe (Anzahl der Ebe­nen), die Zuord­nung Def­i­n­i­tion­ssache. Die Zahl der vorhan­de­nen Bar­ri­eren ist vari­abel und kann ein zweifel­haftes Sicher­heit­sniveau suggerieren.

Eine ver­fahrensspez­i­fis­che Hil­fe hin­sichtlich der Urteilsverz­er­rung ist nicht vorgesehen.

Zusät­zlich zu dem offe­nen Def­i­n­i­tion­sspiel­raum wer­den Ereignisse und Auswirkun­gen sin­gulär, voneinan­der unab­hängig und ohne eine Ursache-Wirkungs-Beziehung betra­chtet. Damit wird eine innere Unab­hängigkeit geschaf­fen, die Wech­sel­wirkun­gen (beispiel­sweise von Bar­ri­eren) nicht unmit­tel­bar aufzeigt. Demge­genüber wird hier­durch die präven­tive und reak­tive Betra­ch­tungsweise gewährleis­tet. Die Def­i­n­i­tion des Top Events – also des Zus­tands des Kon­trol­lver­lustes über die Gefährdung (Haz­ard) – gestal­tet sich meist schwierig. Es wer­den hier­durch möglicher­weise Gren­zen geschaf­fen, die eine Nicht­berück­sich­ti­gung von Ursachen, Wirkun­gen und Gefährdun­gen nach sich ziehen kön­nen. Eine Präzisierung des Top Events sollte dem­nach möglichst nachrangig erfolgen.

Durch die Visu­al­isierungsmöglichkeit von kom­plex­eren Sys­te­men ist eine gesamtheitliche Darstel­lung möglich. Damit diese nicht unüber­sichtlich wird, emp­fiehlt es sich, anwen­dungsspez­i­fis­che Hil­f­s­mit­tel zu ver­wen­den oder auf entsprechende Soft­ware zurückzugreifen.

Außer­dem ist durch die stich­punk­tar­tige Ver­schriftlichung die Nachvol­lziehbarkeit des Bow-Tie-Ver­fahrens, ins­beson­dere für Unbeteiligte, gele­gentlich schwierig. Generell ist es empfehlenswert, möglichst umfassend Rah­menbe­din­gun­gen, wie die Sys­tem­gren­zen, die Detailtiefe und die weit­ere Ver­wen­dung vor­ab festzule­gen sowie ein gut geschultes Team mit der Erar­beitung eines Bow-Ties zu betrauen. Im Zusam­men­hang mit der Durch­führung von Gefährdungs­beurteilun­gen ist noch zu erwäh­nen, dass durch die Def­i­n­i­tion eines Top Events der Fokus auf ein­er spez­i­fis­chen Gefährdung liegen kann. Nicht vor­dringliche Gefährdun­gen bleiben unter Umstän­den unberück­sichtigt beziehungsweise erfordern weit­ere Bow-Ties, um die ver­schiede­nen Gefährdungs­fak­toren in der späteren Gefährdungs­beurteilung nicht zu übergehen.

Weit­er­hin umfasst das Bow-Tie-Ver­fahren prinzip­iell keine Pri­or­isierung der Maß­nah­men (Bar­ri­eren) nach dem STOP-Prinzip, da die Denkweise einem Kausalzusam­men­hang zwis­chen Ursache und Ereig­nis beziehungsweise Ereig­nis und Auswirkung fol­gt. Dies sollte eben­so wie bei anderen Ver­fahren in der Ausar­beitung berück­sichtigt wer­den. So ist anzunehmen, dass auch eine Sub­sti­tu­tion des Betra­ch­tungs­ge­gen­standes nicht in Erwä­gung gezo­gen, son­dern der Aus­gangspunkt als gegeben angenom­men wird.

Ein weit­er­er Vorteil des Bow-Tie-Ver­fahrens ist, dass ein höheres Schutzniveau erre­icht wird, denn es wird immer davon aus­ge­gan­gen, dass ein Schaden­sein­tritt möglich ist.

Abb. 1: Ele­mente eines Bow-Tie-Diagramms
Quelle: © eigene Darstellung
Abb. 2: Exem­plar­isches Bow-Tie-Dia­gramm für den Betrieb ein­er Espressomaschine
Quelle: © eigene Darstellung

 

 

Autoren:

Mari­na Bier, Pas­cal Deseyve,
Lau­ra Kues, Fabi­an Ladzin­s­ki, Stephan
Lau­den­bach­er und Alwis Runte


Prof. Dr. Anke Kahl

Ber­gis­che Uni­ver­sität Wuppertal

Lei­t­erin des Fachge­bi­ets Sicherheitstechnik/

Arbeitssicher­heit

E‑Mail: akahl@uni-wuppertal.de


Glossar: Das Bow-Tie-Verfahren

Das Bow-Tie-Ver­fahren ist ein grafis­ches Ver­fahren zur Beschrei­bung und Analyse von Risikop­faden zwis­chen Aus­lösern (Threats) und Auswirkun­gen (Con­se­quences). Es kom­biniert die Grundgedanken ein­er Fehler­baum- und ein­er Ereignis­bau­m­analyse, die über ein uner­wün­scht­es Ereig­nis (Top Event) miteinan­der verknüpft wer­den. Fokussiert wer­den hier­bei jedoch ins­beson­dere die Schutz­maß­nah­men zwis­chen den Threats und dem Top Event beziehungsweise zwis­chen dem Top Event und den Con­se­quences. Diese wer­den als Bar­ri­eren (Con­trols) beze­ich­net. Das Bow-Tie-Ver­fahren kann qual­i­ta­tiv als auch quan­ti­ta­tiv einge­set­zt wer­den; allerd­ings ist der quan­ti­ta­tive Anwen­dungs­fall bish­er kaum verbreitet.

Die DIN EN 31010 beschreibt die Grundzüge des Bow-Tie-Ver­fahrens, das in der Prax­is aber auch abwe­ichend hier­von einge­set­zt wird.

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