Seit Jahren erleben wir einen rasanten Wandel der Arbeitswelt. Begriffe wie „Arbeit 4.0“, „Industrie 4.0“, „Demografischer Wandel“, „Einsatz künstlicher Intelligenz“, „Pandemien“, „New Normal“, „New Work“, „Great Place to Work“ ‚„Digitalisierung“ und viele mehr sowie die fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse markieren diesen Prozess.
Gemäß ihrer Zielsetzung, „substanzielle Beiträge zu einer menschengerechten Gestaltung der Arbeit“ in Betrieben und Organisationen zu leisten, gibt insbesondere die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in ihrem „Handbuch Gefährdungsbeurteilung“ umfassende Hilfestellung für eine systematische und ganzheitliche Vorgehensweise bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen (BdA) [1].
Auch in der 2019 neugestalteten Ausbildung der Fachkräfte für Arbeitssicherheit (FASI) wird dem Rechnung getragen mit einem ganzheitlichen und systemischen Ansatz [2]. Diese Strategie setzt immer mehr interdisziplinäres, integratives Denken wie Handel der Akteure voraus, um die bestehende Komplexität und Diversität der Arbeitswelt im Rahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu bewältigen.
Der systemische Ansatz
Die systemische Beurteilung der Arbeitsbedingungen (sBdA) versteht sich als prozessualer Ansatz, der alle relevanten Bereiche des „Systems Arbeit“ einbezieht. Möglichst viele innere und äußere Einflüsse auf die betrieblichen Prozesse und ihre Auswirkungen auf Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (SGA) sollen berücksichtigt werden. Beispielhaft wären zu nennen:
- die dem Arbeitssystem immanente Wechselwirkung aller Systemelemente zueinander,
- unterschiedliche Betriebszustände (etwa Normalbetrieb, Teilbetrieb, Revision),
- übergeordnete Betriebs-/Organisationsziele und Werte,
- Transparenz der Kommunikation, zunehmende Informationsflut,
- äußere Einflüsse (etwa veränderte gesetzliche Bedingungen, Kundenanforderungen,Wettbewerb,Umwelteinflüsse etc.).
Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit im ganzheitlichen Sinne bedeutet, den Schutzaspekt wie auch die Gesundheitsförderung gemeinsam zu realisieren.
Das Arbeitssystem-Modell
Im Zentrum der systemischen Beurteilung der Arbeitsbedingungen stehen die Wechselwirkungen der Elemente des Systems Arbeit (Abbildung 1). Alle Teilelemente repräsentieren Gefahrenquellen. Daraus ergeben sich eine Fülle von Gefährdungsfaktoren, die in der systemischen Beurteilung der Arbeitsbedingungen mit „Einwirkungen“ bezeichnet werden.
Entscheidend für die Risikobewertung der Einwirkungen ist, dass neben den möglichen Unfall- und Verletzungsgefahren sowohl die individuellen Belastungen und Beanspruchungen für den Menschen als auch seine persönlichen Ressourcen (Kompetenzen, Eigenschaften etc.) einbezogen werden.
Das Gesundheitsschaden-Modell
Das Gesundheitsschaden-Modell ist nicht neu. Es schafft ein grundlegendes Verständnis der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge beim Entstehen von Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit der Arbeit. Es zeigt, wie Verletzungen und Erkrankungen zustande kommen können und welche Umstände dabei zusammenwirken (Abbildung 2). Entscheidend, ob es überhaupt zu einer Gefährdung (und daraus resultierendem Schaden) kommen kann, ist die Möglichkeit des Zusammentreffens von Mensch und Einwirkung.
Zur ganzheitlichen Beurteilung ist es unerlässlich, neben den immanenten Einwirkungen immer auch das „System“ Mensch mit seinen individuellen Leistungsmöglichkeiten und Belastungsgrenzen in die Analyse einzubeziehen.
Belastungs-Beanspruchungs-Modell
Belastungen ergeben sich aus der Gesamtheit der äußeren Bedingungen und Anforderungen im Arbeitssystem. Diese wirken auf den physiologischen und psychologischen Zustand des Menschen ein. Die Beanspruchung hingegen kennzeichnet die Wirkung der Belastung im Menschen selbst.
Das Ausmaß der Belastungen in Form von körperlichen, geistigen und/oder emotionalen Beanspruchungen kann individuell sehr unterschiedlich sein und hängt vor allem von persönlichen Leistungsvoraussetzungen des Menschen ab (Abbildung 3).
Anforderungs-Ressourcen-Modell
Jeder Mensch verfügt über individuelle Mittel und Eigenschaften (Ressourcen), die ihm zur Bewältigung seiner täglichen Aufgaben und Anforderungen zur Verfügung stehen. Diese treffen im Beruf auf die Anforderungen des Arbeitssystems. Zu unterscheiden gelten:
- Interne Eigenschaften einer Person: unter anderem Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmale, physische Verfassung (etwa körperliche Fitness), Kohärenzsinn (Fähigkeit, die Ressourcen zur Gesunderhaltung zu nutzen).
- Externe Ressourcen: unter anderem soziale Stützsysteme, intakte Beziehungen, Vereine, religiöse Gruppen, Kontrolle über die Arbeit, ergonomische Arbeitsbedingungen, Einkommen, Wohnbedingungen, Bildungssystem, Gesundheits-/Rechtssystem, intakte Umwelt.
Wenn die Anforderungen an die Person und die verfügbaren Ressourcen möglichst passgenau und langfristig aufeinander abgestimmt sind – was ein umfassendes Verständnis der Person notwendig macht – erhält und fördert das sowohl die Gesundheit als auch die Beschäftigungsfähigkeit der Person [6].
Die Umsetzung
In der systemischen Beurteilung der Arbeitsbedingungen bilden die drei Modelle die Grundlage zur Analyse und Risikobewertung der möglichen Auswirkungen, die die Arbeit auf den Menschen hat. Jeder Betrieb hat hier schon aufgrund der bestehenden Gefährdungsbeurteilung eine mehr oder weniger breite Ausgangsbasis. Eine erprobte Struktur zur weiteren Optimierung/Neugestaltung der BdA geben die im Schaubild dargestellten 9 Handlungsschritte vor (Abbildung 4).
Mit dieser Systematik ist sichergestellt, dass alle Komponenten der sBdA im Blick gehalten und so effiziente Maßnahmen abgeleitet werden können. Im Artikel soll nicht auf bekannte Verfahren der Risikobewertung – etwa die Risiko-Matrix nach Nohl – eingegangen werden. Für die Ermittlung der konkreten Gefährdung veröffentlichen BAuA, DGUV, die Berufsgenossenschaften und andere vielfache objektivierte Grenz‑, Schwellen- oder Richtwerte und anerkannte Messverfahren.
Eine weitere Bewertungsgrundlage bilden Vorschriften, Gesetze, Regeln (qualitative Anforderungen). Schließlich finden Kriterien Anwendung, die sich an Grundpflichten, betrieblichen Zielen und individuellen Erfahrungswerten orientieren.
Ziele setzen
Die Ergebnisse der Risikobewertung sind Grundlage für die Ableitung entsprechender Ziele und Maßnahmen (Abbildung 5). Ziele können dabei nicht rein individuellen Wünschen und Bedarfen entspringen, sondern müssen sich konkret an den Bewertungsergebnissen orientieren. Es ergeben sich also notwendige Mindestziele (Mussziele) und weiterführende Optimierungsziele (Sollziele).
Entwicklung von Lösungsalternativen
Je klarer die Arbeitsschutzziele, desto erfolgversprechender die Lösungsmaßnahmen. Unklare, ungenaue, fehlende Ziele fördern dagegen eher Aktionismus, Redundanzen, Energie- wie Ressourcenverschwendung. Vor allem Betroffene mit ihrem Know-how zu beteiligen, führt oft zu passgenauen, kostengünstigen und schnellen Lösungen.
Hier sind etwa Sicherheits-Workshops, ein attraktives Vorschlagswesen oder transparente Regelkommunikation (wie Unterweisung, Schichtübergabe, Team-Besprechungen etc.) geeignete Formate. Ebenso bieten Datenbanken und Regelwerke, vielfältige Best-Practice-Beispiele sowie die Expertise der zuständigen Berufsgenossenschaften und anderer hinreichende Hilfen zu erfolgversprechenden Lösungen an.
Auswahl von Lösungsalternativen
Wenn es zur Entscheidung für die beste Lösung kommen soll, sind zunächst unterschiedliche Blickwinkel, eine Varianz von Methoden und verschiedene innerbetriebliche Beteiligte zu berücksichtigen.
Wer und was heranzuziehen ist, hängt wesentlich davon ab, ob sich die Maßnahmen aus einer korrektiven Notwendigkeit (zum Beispiel nach Unfällen, erkannte Mängel, neue Vorschriften, neue betriebliche Bedingungen usw.) ergeben. Oder mehr eine präventive Absicht (etwa neue Technologien, verbesserte Organisation, effizienteres BGM, Personalentwicklung etc.) verfolgt werden soll. Schon diese Aufzählungen verdeutlichen die Notwendigkeit eines interdisziplinären Vorgehens bei der sBdA.
In der Praxis ist es zudem hilfreich, eventuell in mehreren Hierarchie-Ebenen des Arbeitssystems nach Lösungen zu suchen. Oft wird lediglich auf der untersten Ebene des Arbeitsplatzes nach Verbesserungswegen geschaut (beispielsweise neues Arbeitsmittel „Hebehilfe“), ohne auf den nächst höheren Ebenen der Arbeitsorganisation oder Veränderungen der Arbeitsaufgabe Alternativen zu entwickeln, die die Anschaffung eines neuen Arbeitsmittels eventuell überflüssig machen würden.
Zusammenfassung
Das Schaubild (Abbildung 6) verdeutlicht den Regelkreis, in dem eine sBdA steht. Es zeigt eine komplexere Vorgehensweise, als dies bisher in der Praxis vorzufinden ist. Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit liegen in der Verantwortung der Unternehmensleitung und der von ihr beauftragten Führungskräfte. Sie definieren die Werte und Ziele und prägen so die Unternehmenskultur.
Die Sicherheits- und Präventionskultur in den Betrieben im Sinne einer „menschengerechten Gestaltung der Arbeit“ voranzubringen, gehört daher zu den vornehmlichen Aufgaben aller beteiligten Akteure und Experten. Die Beurteilung der Arbeitsbedingungen ist integrierter Teil der betrieblichen Prozesse. Wer hierbei mit hoher Professionalität vorgeht, wird über kurz oder lang die Synergien mit Qualität, Produktivität, Unternehmensattraktivität erkennen und das Verbesserungspotenzial nutzen können.
Literaturhinweise:
[1] „Handbuch Gefährdungsbeurteilung“ BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin; www.gefaehrdungsbeurteilung.de
[2] Weiterentwickelter Ausbildungslehrgang für Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Sifa: Weiterentwicklung (dguv.de)
[3] Sifa-Lernwelt 7.0, Bibliothek, Themenfeld 4: Erklärungs- und Beschreibungsmodelle, 4.01 Das Arbeitssystem und seine Elemente
[4] Sifa-Lernwelt 7.0, Bibliothek, Themenfeld 4: Erklärungs- und Beschreibungsmodelle, 4.03 Gesundheits-Schadenmodell
[5] Sifa-Lernwelt 7.0, Bibliothek, Themenfeld 4: Erklärungs- und Beschreibungsmodelle, 4.04 Belastungs-Beanspruchungs-Modell
[6] Sifa-Lernwelt 7.0, Bibliothek, Themenfeld 4: Erklärungs- und Beschreibungsmodelle, 4.05 Systemisches Anforderungs-Ressourcen-Modell ff.
[7] Sifa-Lernwelt 7.0, Bibliothek, Themenfeld 5: Beurteilung der Arbeitsbedingungen, 5.02 Vorgehen bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen ff
[8] Sifa-Lernwelt 7.0, Bibliothek, Themenfeld 5 Beurteilung der Arbeitsbedingungen, 5.12 Setzen von Arbeitsschutz und Gestaltungszielen