Herr Pernack, die Gefährdungsbeurteilung ist bereits seit 1996 durch das Arbeitsschutzgesetz vorgeschrieben. Dennoch zeigen die Zahlen der GDA-Befragungen, dass viele Betriebe sie noch vernachlässigen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
In den letzten drei Jahrzehnten hat sich hier zwar schon etwas zum Positiven entwickelt, leider ist es aber dennoch so: Der Umsetzungsstand bei der Gefährdungsbeurteilung ist bis heute mangelhaft – trotz vielfältiger, teils auch branchen- und tätigkeitsorientierter Hilfestellungen, beispielsweise durch Unfallversicherungsträger, die staatlichen Arbeitsschutzbehörden oder die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
So ergaben im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) durchgeführte Betriebsbefragungen, dass in den Zeiträumen 2011 und 2015 nur circa die Hälfte (51/54 Prozent) aller Betriebe eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt hatten. Mit diesem Ergebnis können wir nicht zufrieden sein. Ein wesentliches Ziel der derzeit laufenden dritten GDA-Periode (2019 bis 2024) ist daher, die Zahl der Betriebe signifikant zu steigern, die eine angemessene Gefährdungsbeurteilung vorweisen können.
Dazu werden unter anderem von den Präventionsdiensten der Unfallversicherungsträger und von den staatlichen Arbeitsschutzbehörden jeweils 100.000 Betriebe mit einem einheitlichen Erhebungsinstrumentarium aufgesucht und mit den Schwerpunkten Arbeitsschutzorganisation und Gefährdungsbeurteilung besichtigt. Mit den Ergebnissen dieser aufwendigen Aktivität ist frühestens 2026 zu rechnen. Letztendlich streben wir an, den Umsetzungsstand entscheidend zu verbessern.
Was ist noch geplant, damit dies auch gelingt?
Wir werden wohl auch darüber nachdenken müssen, ob das Wording für den Prozess vielleicht einfacher gestaltet werden kann: Der Begriff der Gefährdungsbeurteilung… das klingt insbesondere für kleine Betriebe schon etwas bürokratisch. Auch könnte die eine oder andere Vorschrift noch praxisfreundlicher ausgestaltet werden.
Zudem müssten die vielen Regelungen des Arbeitsschutzes für bestimmte Branchen so aufbereitet werden, dass der Arbeitgeber diese entlang seines Wertschöpfungsprozesses in einfacher und bebilderter Form dargelegt bekommt. Bund, Länder und Unfallversicherungsträger haben sich hierzu schon 2011 im „Leitlinienpapier zur Neuregelung des Vorschriften- und Regelwerks im Arbeitsschutz“ darauf verständigt, dass die Unfallversicherungsträger hierfür sogenannte Branchenregeln erstellen, mit denen sich die Anforderungen aus den staatlichen Regeln an die Gefährdungsbeurteilung zusammenfassen sowie gegebenenfalls visualisieren und anschaulich umsetzen lassen.
So etwas gibt es in Einzelfällen schon, aber bei weitem noch nicht für sämtliche Branchen und Tätigkeitsfelder.
Wie hat sich die ASR V3 seit ihrem Erscheinen in 2017 in der Praxis bewährt?
Auf diese Arbeitsstättenregel sind wir vom ASTA schon etwas stolz, denn ich meine, dass sie den Prozess der Gefährdungsbeurteilung sehr anschaulich beschreibt und auch gute praxisrelevante Hinweise liefert. Alle, die im betrieblichen Arbeitsschutz tätig sind, also auch Sicherheitsbeauftragte, sollten sich zum Beispiel mal die darin beschriebenen Beurteilungsmaßstäbe anschauen.
Für die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung beschreibt die ASR V3 übersichtlich alle acht Prozessschritte, das ist schon ziemlich hilfreich. Übrigens: Bei Fragen zur Auslegung oder Umsetzung dieser oder anderer ASR können sich auch Sicherheitsbeauftragte immer gern an die BAuA wenden.
Inwiefern können Sicherheitsbeauftragte zur Gefährdungsbeurteilung beitragen?
Für die Durchführung an sich sind natürlich die Sicherheitsfachkräfte und andere fachkundige Personen zuständig. Sicherheitsbeauftragte können den Prozess der Gefährdungsbeurteilung aber unterstützen, weil sie gute Hinweisgeber sind und durch ihre Nähe zu den anderen Beschäftigten auch als Sprachrohr fungieren können.
Sibe können auch dazu beitragen, dass die Umsetzung der Arbeitsschutzaufgaben gut von den Kolleginnen und Kollegen angenommen wird. Was vielen nicht bewusst ist: Nach dem Arbeitsschutzgesetz müssen alle Beschäftigten, also auch Sibe, ihre Arbeitgeber auf beobachtete Defizite hinweisen. Wenn diese daraufhin die Mängel nicht beheben, haben sie das Recht, sich an die zuständigen Arbeitsschutzbehörden zu wenden. Diese gehen solchen Meldungen dann auch vorrangig nach.
Die Gefährdungsbeurteilung
Die Technische Regel für Arbeitsstätten ASR V3 erklärt den Begriff wie folgt: „Die Gefährdungsbeurteilung nach § 3 ArbStättV ist die auf das Einrichten und Betreiben der Arbeitsstätte ausgerichtete systematische Ermittlung und Beurteilung aller möglichen Gefährdungen der Beschäftigten einschließlich der Festlegung der erforderlichen Maßnahmen für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.“
Sie ist also nicht (nur) als Einschätzung und Dokumentation von möglichen Gefährdungen der Sicherheit und Gesundheit zu verstehen, sondern als ein mehrstufiger kontinuierlicher Prozess mit Maßnahmenfestlegung und Wirksamkeitskontrolle.