Konflikte gibt es überall, privat und im Arbeitsumfeld. Sie verlaufen häufig nach einem ähnlichen Schema. Doch muss dieses Schema immer zwangsläufig ablaufen? Welche Möglichkeiten gibt es für jeden Einzelnen, Eskalationen zu vermeiden und dennoch nicht als Verlierer am Ende dazustehen? Können alle Konflikte gelöst werden, oder hängt dies immer vom Einzelfall ab?
Dipl.-Psych. Rolf Mohr
Vielen ist nicht klar, dass sie mit jedem Vorwurf, den sie direkt äußern, das Beheben dessen, was sie vorwerfen, selbst erschweren, indem doch ihr Gegenüber auf den Vorwurf sofort und reflexhaft mit offener oder verdeckter Opposition reagiert: jeder macht das; also haben sie damit den Weg zur Lösung verlängert und beschwerlicher gemacht. Und selbst wenn ich begriffen hätte, dass ich mit meinem Vorwurf gegen meine eigenen Interessen handele, bliebe doch die Frage, wie ich dasselbe denn ohne Vorwurf ansprechen kann, also im Sinne meiner Interessen?
Eine probate Methode ist die sogenannte ’Ich-Botschaft’. Auf solche Zusammenhänge können wir gewiss leicht selbst kommen, nämlich, wenn wir darüber nachdenken; aber wer tut das schon? Neigung und Befähigung zur Analyse sind üblicherweise da besonders gering, wo wir erregt sind, und das sind wir, wenn wir zum Vorwurf neigen.
Drei Ursachen für Konflikte
Meist beginnt ein Konflikt so: Wir haben eine Vorwurfshaltung zu unserem Gegenüber eingenommen, sind erregt und wollen die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Eine von drei Ursachen hat diese konfliktträchtige Lage herbeigeführt:
- Fehlverständnis,
- ausschließende Interessen oder
- Verletzung.
Der einen tatsächlich auslösenden Ursache werden gern und schnell die zwei anderen als Brandbeschleuniger hinzugegeben. So wird der falsch aufgefassten Bemerkung des anderen sogleich eine herabwürdigende Absicht unterstellt und schon sind auch Unvereinbarkeiten in Reichweite. Im späteren Rückblick gelingt so nur schwer, den wahren Auslöser noch zweifelsfrei auszumachen.
Nach meiner Beobachtung ist Fehlverständnis die häufigste, aber häufig unerkannte Ursache von Konflikten. Besonders in kulturellen Milieus, in denen implizit kommuniziert wird, in welchen man also das Gemeinte gern ’zwischen den Zeilen’ mitteilt, und der andere es dann mehr oder weniger treffsicher herausinterpretiert.
Zur Ursache „ausschließende Interessen“ möchte ich aus Erfahrung ein ’vermeintlich’ ergänzen; denn häufig ist zu beobachten, dass beide Kontrahenten mit zunehmender Vehemenz der Auseinandersetzung immer engere Scheuklappen tragen und an sich plausible Wege zur Vereinbarkeit nicht mehr leicht erkennen.
Mit Verletzung als Konfliktursache sind neben (den selteneren) körperlichen vor allem die Beeinträchtigungen des Selbstkonzepts, des persönlichen Ehrgefühls des Partners, wie auch solche der Achtung in einem sozialen Umfeld gemeint.
Die Nichtbeachtung der von einem der Partner als allgemeinverbindlich angesehenen Norm durch den anderen (etwa das ’Verpetzen’: der Kollege schwärzt mich gleich beim Vorgesetzten an, statt zunächst mit mir das Gespräch zu suchen) lassen sich als Verletzung auffassen wie auch als einander ausschließende Interessen. Solche Inkompatibilität von Normen und Gepflogenheiten ist typisch für die konfliktträchtige Begegnung von Trägern unterschiedlicher Sozialisation oder Kultur. Zusammenschauend lässt sich feststellen, dass Konflikten jeweils ein Mangel an Komplementarität zugrunde liegt.
Der begonnene Konflikt macht bald jeden der Partner zum Gegner des anderen. Es entsteht eine mechanisch anmutende Regelhaftigkeit wechselseitiger Zumutungen, die wir im Rückblick gern mit ’ein Wort hat das andere ergeben’ kennzeichnen. Der entstandene Eskalationsprozess, das beiderseitige ’Klettern auf die Palme’, nähert sich mehr und mehr dem ’point of no return’, ab welchem beide Kontrahenten das Empfinden haben, ohne Gesichtsverlust nicht mehr zurück zu können. Schlimmerweise geht’s dann vielfach darüber hinaus.
Meine konkrete Konfliktlage könnte beispielsweise so aussehen:
„Geärgert hab ich mich, sehr sogar; denn das war schon arg beleidigend, wie herablassend, ja hämisch sich der Kollege in der Besprechung über meinen Arbeitsbereich und mich persönlich geäußert hat. Hätte ich mir derlei Verletzung etwa gefallen lassen sollen? Von wegen! Nichts da! – Meine Replik war dann ja auch entsprechend schmerzhaft für den. Nun gut, er hat sich dann noch bemüht, eins drauf zu setzen; aber das hat wohl jeder als ’ziemlich daneben’ verbucht; war es ja auch: völlig unsachlich. Dann hat eins das andere ergeben, bis der Chef, erregt, wie ich ihn bisher nicht gekannt hab, uns beiden ’den Mund verboten’ hat. Insgesamt bin wohl eher ich als Sieger aus dem Schlagabtausch hervorgegangen.“
Sieger oder Gewinner?
Sieger? Vielleicht, nach Punkten; aber auch als Gewinner?
Meist ist es mit einem Gefecht nicht getan. Oftmals bricht danach offener Krieg aus, oder gar verdeckter, der länger währt und mehr zerstört. Mehrfach habe ich in der Folge ähnlicher Anfänge erlebt, wie bald darauf Reifen zerstochen oder andere Attentate auf Besitz, Ruf oder Leib des Kontrahenten vorgenommen wurden. Häufig formiert jeder der Kampfhähne eilig eine Partei um sich, die dann gegen die andere Front macht – verheerend für betriebliche Abläufe, für nachbarschaftliches Leben, für jederlei gedeihliche Lebensgestaltung überhaupt.
Klar geworden ist mir, dass im Alltag mein Interesse nicht Sieg sein kann – nicht nur wegen der Gefahr von Pyrrhussiegen1. Wen ich besiegt habe, den habe ich ab da als Feind, und ’viel Feind, viel Ehr’ ist doch ein schlimmes Postulat, zudem mit einem Begriff von Ehre, der nicht meiner werden kann. ’Viel Feind, Leben schwer’ überzeugt mich mehr. Nicht Sieger über meinen Gegner will ich sein, sondern Gewinner, was möglich macht und anstreben lässt, dass auch mein Partner (nicht Gegner) einen Gewinn davonträgt; umso lieber wird er künftig mit mir zu tun haben wollen.
Selbst (oder gerade!) Ehen sind an lächerlichen Konfliktauslösern zerbrochen wie an einer Zahnpastatube, die wiederholt in der Mitte gedrückt, statt, wie es der Partner wünschte, vom Ende her aufgewickelt wurde, oder an anderen Nichtigkeiten, über die man außerhalb nicht mal sprechen würde. Kurios ist, dass sich ab einem gewissen Punkt die Auseinandersetzung verselbständigt, so als wären nicht mehr zwei vernunftbegabte Menschen am Werk, sondern zwei Automaten, deren Programm die Wucht ihrer zerstörerischen Attacken wechselseitig in die Höhe treibt, bis diese zum tödlichen Infarkt für die Ehe wird. Die gedrückte Tube wird von Mal zu Mal deutlicher ein Beleg dafür, dass wir nicht (mehr) respektiert werden, wie wir glauben, es verdient zu haben, zum untrüglichen Indiz für Missachtung, unabweisbares Zustandsbild einer gescheiterten Beziehung. Der Pfennigartikel erhält das Gewicht unserer persönlichen Ehre.
Vormalige Partner werden Gegner und stehen am Ende vor einem Scherbenhaufen der zerrütteten Beziehung, jeder auf seiner Seite: verkorkste Verhältnisse plötzlich, wo vorher alles leidlich funktionierte. Aus geringstem Anlass führen wir nun einen kräftezehrenden und verwundungsintensiven Krieg, wo wir zuvor kooperierten: Nachteile also auf beiden Seiten, wo vorher für beide Vorteile waren! Wir machen’s trotzdem – sogar immer wieder aufs neue: Wir degradieren uns selbst zur Marionette, zum Sklaven eines Funktionsreflexes unserer wunden Seele. Kommt Ihnen das bekannt vor? Wir alle haben es in unterschiedlichen Szenarien erlebt – erleben müssen?
Was sich so in Ehe und Beruf zuträgt, in Nachbar- und Verwandtschaft, in Verein, Hochschule, Politik und wo immer sonst sich Leute begegnen, kostet wertvolle Zeit und Energie, opfert Ressourcen und Lebensqualität – und wofür? Wo ist der Ertrag? Einzig, dass man den anderen schädigt. Schaden auf meiner Seite nehme ich in Kauf um des Schadens auf der anderen Seite willen – nur Schaden, nicht ein wenig wirklicher Nutzen! Keine Vernunft der Welt kann das rechtfertigen.
Daher nun fünf entscheidende Fragen zu meiner Haltung und Gestaltung:
- 1. Warum gebe ich meine Vernunft an einer bestimmten Stelle auf und folge dem Weg in die pure Unvernunft?
- 2. Wie erkenne ich diese bestimmte kritische Stelle?
- 3. Wie schalte ich um auf – nennen wir es ’Vernunftbetrieb’?
- 4. Wie, wenn mir das gelingt, kriege ich meinen Kontrahenten dazu, gleichfalls ’umzuschalten’ und anstelle des destruktiven auch den konstruktiven Weg zu suchen oder wenigstens zu akzeptieren?
- 5. Wie lässt sich das ohne Gesichtsverlust auf einer der Seiten hinbekommen?
Konflikte gestalten
Diesen fünf Fragen will ich nachgehen; denn immerhin: Wenn es gelingt, sie zu beantworten, eröffnen sich Möglichkeiten, planvoll und verlustfrei in ein sowohl menschlich als auch materiell erfüllteres Leben besserer Qualität zu steuern. Es öffnet sich damit der Weg aus der Kultur des einseitigen Besiegenwollens in eine des beiderseitigen Gewinnens.
Mit Konfliktlagen konstruktiv, gar synergetisch umzugehen erfordert nur wenige Einsichten, Fertigkeiten und Werkzeuge. Einsicht gewinnen muss ich zunächst in eine mir eigene Fehlsteuerung – davon haben wir Menschen mehrere –, in diesem Fall meine physiologisch bedingte Neigung zu unreflektierter Rache, die ich alsbald unter meine Kontrolle bringen sollte.
Unser eingebautes Vergeltungsprogramm ’Fehlsteuerung’ zu nennen, ist zwar einerseits vermessen, handelt es sich dabei doch um ein in unserer Stammesgeschichte entstandenes Reaktionsmuster, das helfen konnte, Angehörige und Lebensgrundlagen notfalls auch unter Inkaufnahme eigener Opfer bis hin zum Tod zu verteidigen, um das eigene Erbgut in Form der Verwandtschaft zu retten.
Andererseits ist es wohl nichts anderes als eine Fehlsteuerung, wenn dieses Programm uns heutzutage – etwa in einem Betrieb mit vielfältig verzahnten Funktionen – dazu bringt, alle Kontrolle, alle Souveränität aufzugeben und unmündig, quasi automatenhaft in den eigenen Schaden zu steuern, nur weil wir uns am Anderen rächen wollen. Gewiss, wir sind vernunftbegabt; aber wir verhalten uns üblicherweise entsprechend unseren art- und geschlechtstypischen Dispositionen und den vermeintlich ’bewährten’ Mustern, und die steuern dann heute bisweilen auch mal in die pure Unvernunft. Hier gilt es, unser tradiertes Programm entsprechend unseren gewandelten Lebensbedingungen zu differenzieren.
Grob skizziert geschieht traditionell nämlich folgendes: Mein Empfinden, dass mir soeben schreiendes Unrecht widerfährt, lässt meine physikochemische Küche im Hirn hochkochen. Mein Aggressionszentrum (Nucleus taeniae) wird durch Botenstoffe und neuronal gereizt, sendet bioelektrische Impulse an alle für Racheakte in Betracht kommenden Steuerungsareale. Diese weisen Vergeltungshandlungen an. Deren Vollzug aktiviert im Hirn den Schweifkern (Nucleus caudatus – ich nenne ihn auch den ’Kern der Unvernunft’; er ist übrigens auch beim Verlieben beteiligt), der mich mit körpereigenen Drogen belohnt: ich erlebe das mit Dopamin und Anderem euphorisierte Hochgefühl der Genugtuung. Mich zu rächen verschafft mir Glücksgefühle, sogar, obwohl ich dabei selbst Schaden nehme: ’Rache ist süß’.
Lasse ich mich über einen kritischen Punkt hinaus reizen, kann diese Fehlsteuerung sich zum ’Ausrasten’ auswachsen, dem Kamikazeprogramm der ’blinden Wut’. Der kritische Punkt dafür liegt individuell verschieden, je nach Persönlichkeit, sozialer oder kultureller Prägung: Wir kennen z.B. den individuellen ’Jähzorn’; wir kennen auch die ’was-guckst-du-Reaktion’ bestimmter Milieus.
Auslöser: „Unangemessen“
Die Antwort auf die erste Frage, warum ich plötzlich unvernünftig werde, bringt folglich die Einsicht: weil mein Körper angesichts meiner Bewertung des Verhaltens eines anderen als ’unangemessen, als Zumutung’ (wie z.B. Unrecht) ein neurophysiologisches Programm der Vergeltung in Gang setzt, ich mich sozusagen unter das Joch des Nucleus caudatus begebe. Und, da ja offenbar mein Gegenüber die guten Sitten nicht mehr achtet, muss ich’s nun auch nicht mehr.
Die zweite Frage war, wie ich die kritische Stelle erkenne. Die Antwort: Ich muss mich ertappen bei der Empfindung ’Zumutung’, bewusst ertappen; denn ab hier will mein Körper etwas anderes, als meine Vernunft rechtfertigen kann. Ich muss bewusst registrieren, wie in mir Rachegelüste aufsteigen.
Die dritte Frage: Wie schalte ich um auf “Vernunftbetrieb“, wie gelingt es mir, am kritischen Punkt die Kontrolle zu behalten oder wiederzugewinnen, verlangt eine andere Fertigkeit, nämlich die zur Pause. Mein innerer Wecker hat mir bewusst werden lassen, dass ich im Moment ein Bedürfnis nach Vergeltung verspüre, etwa: “Da der mir so kommt, werd ich’s ihm jetzt aber mal zeigen“. Mir ist klar, dass im selben Moment mein Körper den Schritt unter das Joch des ’Nucleus caudatus’ getan hat und nun Drogen will. Die eskalative Mechanik der Vergeltung ist in Gang gesetzt. Nun mache ich Pause.
Wir alle verfügen über eine Reihe kulturell anerzogener Programme, uns zu kontrollieren, unsere spontanen Neigungen zu zügeln: Gesellschaftliche Konventionen etwa, Benimm oder Angst vor Sanktionen sind es, die helfen, uns nicht gehen zu lassen, uns selbst zu zügeln. Aber jetzt, und umso mehr, je intensiver wir das Verhalten des Anderen als Zumutung erleben, ist unser ganzer Körper gegen alle Mäßigung.
Was hilft mir jetzt?
Bin ich dem physiologischen Racheprogramm meines Körpers willenlos unterworfen? Nein, keineswegs; ich bin ja zur Vernunft fähig (Sie sind es auch) – und gerade jetzt sollte ich dieser Instanz die Hoheit über mein Handeln sichern. Aber wie? Das Mittel der Wahl ist die Selbstbeherrschung. Aber genau die fällt wegen unserer Dopaminsucht im Fall des Provoziertwerdens besonders schwer. Bleiben wir bescheidener, machen wir einfach eine Pause, nur kurz, nicht mal eine Sekunde, nämlich für das Besinnen, ob das, wonach mir jetzt ist, wirklich in meinem Interesse liegen kann. Wenn mir bewusst wird, dass ich das soeben Erlebte als ungerechtfertigt werte, als Zumutung, und registriere, wie Rachegelüste in mir aufsteigen, verlange ich von mir selbst diese knappe Sekunde Auszeit. Das ist der Trick. Die reicht, um mir klar zu werden, ob ich wirklich will, oder deutlicher: Ob ich vernünftigerweise wollen kann, worauf ich in meiner Empörung gerade hinstrebe, bzw. ob ich später bereuen werde, was ich jetzt Unumkehrbares zu tun bereit bin.
Ich nenne solche Auszeit gern ’respice-finem-Sekunde’ (’wohin-führt-das?-Sekunde’ – nach dem weisen lateinischen Aufruf, man solle schon früh bedenken, wie das Ende sein wird). Wir können unser deutsches Sprichwort ’der Klügere gibt nach’ (ein wahrlich beschämender, ja unverantwortlicher Teil unseres Kulturschatzes, denn, wenn wir nur einen Schritt weiterdenken, lassen wir damit die Dummen die Geschicke unserer Welt lenken!) umformulieren in: ’der Wachere sieht auf’s Ende’, und das wird ihn in der Regel veranlassen, die begonnene Eskalation stoppen zu wollen. Das wird bisweilen als Nachgeben missverstanden. Dabei beginnt er eigentlich genau jetzt im Sinn des eigenen Interesses zu handeln, nicht mehr als Marionette.
Wie mache ich es besser/richtig?
Die kurze Besinnung wird mir in der Regel bewusst machen, dass jede weitere Eskalation außer dem Schaden für den Gegner (welcher mir im Moment ja gerade recht ist) ganz erhebliche Aufwendungen meiner Seite bedingt, welche die kurze Genugtuung an Wert und Dauer erheblich übersteigen: Pläne schmieden, Allianzen schaffen, Angriffe durchführen, gegnerische Attacken parieren, Absicherungsmühen, Rufschäden reparieren, Rechtfertigungen, Einbußen an Effizienz etc.. Deutlich wird, dass ich solche klar absehbare Negativbilanz vernünftigerweise nicht anstreben kann.
Dieses sekundenweise ’auf´s‑Ende-sehen’ klappt, wie ich weiß, umso müheloser, wenn ich auf ein Schema zurückgreifen kann, das mir das Aufspüren meiner wahren Interessen erleichtert, mich unabhängiger macht von den Einflüssen meiner Dopaminsucht. Ich selbst greife hierzu gern auf ein ständig präsentes imaginäres Koordinatensystem zurück, dessen Ordinate meine eigenen, dessen Abszisse offenkundige oder vermutete Interessen der anderen Seite abbilden lässt, mit jeweiligen Abstufungen ins Plus und ins Minus. Damit braucht es nur einen Wimpernschlag, und die eigentlichen Interessen nicht nur meiner, sondern gleich beider Seiten sind mir klar vor Augen: ich sehe förmlich, dass ich’s nicht wirklich wollen kann, und, dass (in der Regel) sogar mein Gegenüber aus der fortschreitenden Eskalation mehr Nach- als Vorteile beziehen wird, er es folglich auch nicht wirklich wollen kann.
Wenn ich ein paar Mal in minder heftigen Fällen hingekriegt habe, mir diese knappe Sekunde Auszeit abzunötigen, gelingt mir die Selbstkontrolle auch in schlimmen Konflikten leichter, in denen meine Physis umso gieriger nach Dopamin lechzt. Auf Basis solch aufbauender Übung stellt sich ein überaus wertvoller Nebeneffekt ein: Ich entwickle mehr und mehr persönliche Souveränität, eine auch die Außenwelt beeindruckende und überzeugende Fähigkeit, schwierige Situationen verantwortungsbewusst und durchaus im eigenen Sinne zu gestalten.
Nun stellt sich die vierte Frage: Wie gelingt es, den in Gang gekommenen, unverantwortlichen, weil für mindestens meine Seite, meist jedoch auch für die andere nachteiligen Prozess rasch zu stoppen? Natürlich kann ich ’aus-dem-Felde-gehen’, wie Psychologen es bezeichnen, wenn ich mich als Beteiligter der Auseinandersetzung entziehe, den Fehdehandschuh sozusagen nicht aufnehme. Diese (Nicht-)Lösung kommt vielfach nicht in Betracht, weil sie neben etwaigem Ehrverlust den Nachteil erbringt, dass eine Klärung weiterhin aussteht, was Stillstand oder gar Rückschritte in der Sache zur Folge hat. Eine konfliktäre Situation birgt ja neben dem Risiko der Zerstörung immer eine Reihe nutzbarer Chancen, auch für mich.
Die richtige Methode hilft!
Am Beispiel eines Partnerschaftskonflikts lässt sich eine probate Methodik vernunftgesteuerter und vernunftorientierter Intervention illustrieren: Metakommunikation. Metakommunikation besagt nicht mehr – aber immerhin – als: ’Kommunikation über die Kommunikation’ oder ’Gespräch über das Gespräch’ und stellt ein hochgeeignetes Repertoire an Methoden zur Verfügung für all jene Lagen, in denen ich die Kontrolle über das Geschehen (rück-)gewinnen will. Bildhaft begebe ich mich mittels Metakommunikation aus der Ebene des Gesprächsgegenstandes heraus – hier also des Konfliktpunktes – nach oben und blicke, sozusagen aus der Vogelperspektive auf das gegenwärtige, zurückliegende oder künftige Gesprächsgeschehen als solches, um hierfür meine Wünsche zu formulieren und realisieren.
Die Lage sei folgende: Partner und Partnerin haben sich ob irgendeiner wie auch immer beschaffenen Kleinigkeit aneinander erzürnt. Ein Wort ergibt das andere und die auf jeder Seite empfundene Unangemessenheit der jeweiligen Partnerreaktion hat bereits zum Überschreiten des imaginären ’pint-of-no-return’ geführt; beide Beteiligten dreschen mit gehöriger Vehemenz und ebensolcher Verletzungsabsicht aufeinander ein. Der Wachere von beiden wird sich in einem Augenblick (vielleicht mit Blick auf sein Ziel-Koordinatensystem) klar, dass weder er noch sein Gegenüber das bereits in Reichweite liegende Ende dieser wertvollen Beziehung mit kühlem Kopf wollen oder auch nur später tatsächlich verantworten könnte, dass folglich auf beiden Seiten kalkulierbar spätere Reue einsetzen würde – zu späte, weil die Trennung irreversibel wäre.
Dass der Wachere nun einseitig zurücksteckt, um mit letztem Einsatz die Beziehung zu retten, ist kaum möglich und insbesondere auch nicht ratsam, zumal jede Partnerschaft, will sie auf Dauer fortbestehen, dem Postulat einer Gleichwertigkeit beider Partner füreinander folgen muss, und nun klein beizugeben käme einem nicht zu kompensierenden Ehrverlust gleich; die Gleichwertigkeit wäre dahin und das Ende der noch bestehenden Beziehung auf andere Weise eingeleitet. Was tun?
Dem wacheren Partner sollte klar sein, dass, wenn er die Kontrolle über das Geschehen gewinnen will, er auf Möglichkeiten der Metakommunikation zugreifen kann. Beispielsweise kann er sich an sein Gegenüber wenden mit der Bemerkung: „Ich merke gerade, wie sehr ich Dir wehtue und das sogar in voller Absicht, und wie Du auch mir wehtust, wie feindselig wir miteinander umgehen. Und dabei mag ich Dich doch und will eigentlich alles andere als Dir wehtun. Ich bin mit unserer jetzigen Unterhaltung, unserer Art miteinander umzugehen, völlig unzufrieden. Wie geht’s Dir damit?“
Gewiss wird diese Äußerung über das gemeinsame Streiten nicht gleich dazu führen, dass sich beide in der nächsten Sekunde in den Armen liegen, aber sie haben mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Wende von einer destruktiven, verletzenden in eine konstruktive, klärende Kommunikation bereits geschafft oder unmittelbar vor sich.
Metakommunizieren um zu steuern!
Neben dem unschätzbaren Vorteil der Wende aus der streitigen in die klärende, lösungsorientierte Art der Gesprächsführung gibt es weitere situative Vorzüge metakommunikativer Intervention:
- In der Ebene des Streitgegenstands gab es keinen Spielraum für Bewegungen ohne Nachteile: Stoße ich vor, blutet meine Nase; denn da steht mein vormaliger Partner – jetzt als Gegner, gehe ich zur Seite oder gar zurück, ist das ein territorialer Vorteil der anderen Seite, den ich ihr nicht gönne. Erhebe ich mich dagegen in die Metaebene, ist das Gespräch als solches und nicht der streitige Gegenstand das, worüber ich und wir sprechen, also ein unbelastetes Thema. So habe ich plötzlich alle Bewegungsspielräume der Welt.
- In der Ebene des Streitgegenstands gab es nahezu ausschließlich Gegnerschaft. Was unsere Streiterei als solche betrifft, bin vermutlich nicht nur ich unzufrieden, sondern auch mein Partner; ich habe mit einiger Wahrscheinlichkeit plötzlich Gleichsinnigkeit. Diese Basis lässt sich ausbauen.
- Ob mir der – möglichst mit dem Partner gemeinsame – Ausflug in die Metaebene auch Vorteile in der streitigen Angelegenheit (und wenn, welche) bringt, hängt wesentlich davon ab, wie geschickt, will sagen situationsangemessen ich metakommuniziere. Schließlich gibt es unendlich viele Möglichkeiten, auch sehr schädliche.
Die fünfte Frage, die nach dem Risiko des Gesichtsverlusts für eine oder beide Parteien, ist wichtig und doch schnell zu beantworten. Was wir Deutschen heute metaphorisch mit ’Gesicht’ bezeichnen, steht für unseren kulturell ein wenig ramponierten Begriff ’Ehre’. Unser Ehrgefühl steuert ganz wesentlich unser Konfliktverhalten.
Wie bereits im obigen Beispiel der Paarstreitigkeit angeklungen ist, beziehen zwischenmenschliche Beziehungen die Substanz für ihre Dauerhaftigkeit aus dem etwa gleich hohen Wert des einen Partners für den jeweils anderen. Dauerhaft gleich hohe Wertschätzung der Partner ist eine notwendige (noch nicht hinreichende) Voraussetzung für das Fortbestehen ihrer Beziehung auch außerhalb von Paarbeziehungen bis hin zu Geschäfts- und sogar politischen Kontakten, hier mit weiteren Ingredienzien. In dem erwarteten Äquilibrium spielt das jeweilige Ehrkonzept – nennen wir es unseren Ethos – neben einer kulturellen Kompatibilität eine unverzichtbare Rolle.
Der Ausflug in die Ebene der Metakommunikation beschädigt weder des einen noch des anderen Partners ethisches Konzept: Metakommunikation ist zunächst ein Themenwechsel, nicht mehr (aber immerhin, und zudem ein hoffnungsfroher). Dass die Initiative hierzu von dem ’Wacheren’ ausging, ist für diesen in keiner Weise abträglich, sondern in den meisten Fällen sogar äußerst zuträglich, nämlich ein deutlicher Gewinn an Souveränität. War er bis dahin – wie auch sein Gegenüber – im Rahmen der aus wechselseitig gesteigerten Zumutungen bestehenden Eskalationsmechanik nur Reagierender (auf die jeweilige Unzumutbarkeit durch den anderen – hier passt das zuvor genutzte Bild der Marionette), wird er nun zum Akteur, zum Gestalter, der eine Situation in seinem Sinne verändert. Das verstehen wir als souverän.
Die Lösungen sind nah
Wenden wir uns zu guter Letzt den möglichen Lösungen in Konfliktlagen zu.
Ganz grundsätzlich gibt es – außer dem oben erwähnten ’Aus-dem-Felde-gehen’, dem Nichtaufnehmen des Fehdehandschuhs, das den Konflikt eigentlich nicht löst, sondern im besten Fall ohne Lösung beendet – drei Lösungen zu Konflikten:
- Komplementarität,
- Kompromiss und
- Kompensation.
Der rascheste (aber zumeist unwillkommenste) Weg zur Lösung eines Konflikts ist, sich komplementär zu verhalten. Ist mein Gegenüber wütend auf mich und ich gebe mich reumütig und bußfertig, habe ich die passende Komplementärhaltung eingenommen und passe zum Befinden des anderen und seinen Ansprüchen wie der richtige Schlüssel zum Schloss. Beansprucht in einem Rangkonflikt mein Gegenüber die Oberhand und ich zeige mich fügsam, ist auch hier das Konfliktpotenzial verschwunden und der Druck aus der Situation sofort entwichen – der schnellste Weg zwar, aber oftmals unwillkommen, weil in den meisten Fällen die komplementäre Haltung einzunehmen gleichgesetzt wird mit Unterwerfung, als würde ich mich ausrichten an den Vorgaben des anderen. Viele (schwache) Vorgesetzte erwarten im Verlauf von Meinungsverschiedenheiten derlei Demutsgesten von ihren Mitarbeitern (mit der Folge, dass beide einander daraufhin umso mehr detestieren).
Ein Kompromiss findet als Annäherung auf derselben Ebene statt, auf der die Lücke zwischen den entlegenen Ansprüchen beider Partner existiert. Regelmäßig erlebtes Beispiel sind die Feilschereien zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerlager um die Prozente und Dezimale der nächsten Gehalts- oder Lohnsteigerung.
Ist ein Zueinader von den entlegenen Positionen auf derselben Ebene aus welchen Gründen auch immer versperrt (aber eben nicht nur dann), eröffnet sich das unendlich weite Feld der Kompensation. Beide Seiten haben immer mehr als ein Interesse, in der Regel unzählige, und beide verfügen auch immer über mehr als ein erstrebenswertes Gut. Einiges aus der Verfügungsmasse der einen Seite wird für die andere Seite attraktiv sein, gleiches vice versa. Kompensation für nicht gestaltbares Entgegenkommen in der Ebene des zunächst behandelten Kompromisses ist inzwischen Usus auch in vielen der bereits erwähnten Tarifstreitigkeiten: dann geht es eben um Zugeständnisse bei der Arbeitszeit‑, der Urlaubs‑, der Überstundenregelung, um Mitbesitzanteile oder Anderes.
Fazit
Meine verwegene Meinung ist, dass es angesichts der unendlichen Vielfalt allein der kompensatorischen Lösungsmöglichkeiten keine unlösbaren Konflikte gibt, dass ungelöste und insbesondere vermeintlich unlösbare Konflikte lediglich ein schlechtes Licht werfen auf Durch‑, Weit- und Rundumsicht der um Lösung Bemühten.
Autor
Dipl.-Psych. Rolf Mohr
Wissenschaftlicher Direktor und Leiter des Fachbereichs „Soziale Kompetenzen – Verhaltenswissenschaften für Management und Verwaltung, Kommunikations- und Verhaltenstrainings“ an der Bundesakademie für Wehrverwaltung und Wehrtechnik (BAkWVT) in Mannheim, der Führungsakademie der Bundeswehrverwaltung.
Kontakt: RolfMohr@bundeswehr.org
1 Ein Pyrrhussieg ist ein zu teuer erkaufter Erfolg. Der Ausdruck geht auf König Pyrrhus von Epirus (319/318–272 v. Chr.) zurück. Dieser soll nach seinem Sieg über die Römer in der Schlacht bei Asculum 279 v. Chr. einem Vertrauten gesagt haben: „Noch so ein Sieg, und wir sind verloren!“
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