Diese Sichtweise entsteht beispielsweise dadurch, dass Gefährdungsbeurteilungen nicht selbst erstellt und als Aufgabe lediglich der Arbeitsschutzabteilung gesehen werden. Selbiges gilt auch für die Durchführung von Unterweisungen oder die Erstellung von Betriebsanweisungen.
Je häufiger diese Gedanken im betrieblichen Alltag auftauchen, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine innere Unzufriedenheit gegenüber den Führungskräften steigt und vielleicht sogar zu einer gewissen Ablehnung führt.
Gerade in solchen Situationen sollten sich Fachkräfte für Arbeitssicherheit zum einen darauf besinnen, dass es nicht nur die eine Wahrnehmung der Realität gibt, und sich zum zweiten auch die Frage stellen: Was habe ich getan, damit die Führungskräfte ihre rechtlichen Aufgaben im Arbeitsschutz auch wirksam umsetzen können?
Es gibt nicht nur eine Realität
Eine wichtige Erkenntnis im Leben ist, dass es nicht nur eine Wahrnehmung der Realität gibt. Die Art und Weise, wie Menschen die Realität wahrnehmen, hängt hierbei unmittelbar vom familiären, sozialen sowie kulturellen Umfeld und den gesammelten Erfahrungen ab.
Es kann durchaus sein, dass die eigene Wahrnehmung als Sicherheitsingenieur und Fachkraft für Arbeitssicherheit durch aktuelle Erfahrungen und Beschreibungen aus dem Umfeld getrübt wird.
In einem mittelständischen chemischen Unternehmen beschrieb die Fachkraft für Arbeitssicherheit ihre Führungskräfte als weniger interessiert am Arbeitsschutz. Neben den Führungskräften besaßen auch die Mitarbeiter kein angemessenes Sicherheitsbewusstsein und der Maschinenpark der Produktion entsprach in vielen Bereichen auch noch nicht dem Stand der Technik.
Beim genauen Blick von außen wurde allerdings deutlich, dass die Situation um die Führungskräfte nicht so gravierend war, wie durch die Fachkraft für Arbeitssicherheit beschrieben wurde. Die Führungskräfte wollten an vielen Stellen etwas bewirken, es scheiterte allerdings an den Fähigkeiten. Die eingeführten Maßnahmen, wie beispielsweise verhaltensorientierte Begehungen mit dem Fokus auf Abweichungen, wurden von den Führungskräften mangels Verständnis nicht akzeptiert und daher auch schnell nicht mehr durchgeführt.
Im Rahmen einer Ist-Zustand-Bewertung fiel hierbei auf, dass die Führungskräfte ihre Aufgaben gar nicht richtig und effizient ausführen konnten, weil die Befähigung dazu fehlte.
Rechtliche Betrachtung
Grundsätzlich besitzt die Verantwortung zur Bereitstellung von sicheren und gesunden Arbeitsplätzen der Unternehmer, der diese Aufgaben an seine Führungskräfte entsprechend delegieren kann. Die Kontrollpflicht besitzt der Unternehmer natürlich weiterhin.
In den meisten Fällen erfolgt zumindest eine schriftliche Übertragung der Unternehmerpflichten ohne eine Gegenwehr der Führungskräfte. In den Gesprächen wird regelmäßig spürbar, dass die gesamte Tragweite dieser Delegation vielen Führungskräften nicht richtig bewusst ist.
Im Rahmen der Pflichtendelegation erhalten Führungskräfte in den meisten Fällen eine Schulung zur rechtlichen Verantwortung und Haftung im Arbeitsschutz – ein Klassiker, der richtig durchgeführt eine wichtige Grundlage für den Einsatz der Führungskräfte im Arbeitsschutz ist.
Mit der Schulung zur rechtlichen Verantwortung und Haftung verstehen Führungskräfte ihre Aufgaben und auch die Folgen ihres Handelns. Allerdings lässt sich in der betrieblichen Praxis sehr oft eine nicht gewünschte Reaktion feststellen: Es wird noch mehr in Richtung der Fachkraft für Arbeitssicherheit delegiert.
Im Grunde ist diese Reaktion menschlich nachvollziehbar, denn schließlich kennen die Führungskräfte jetzt ihre Verantwortung und Haftung, jedoch wissen sie immer noch nicht, wie sie ihrer Rolle inhaltlich rechtskonform und auch zeitlich effizient nachkommen sollen.
An dieser Stelle ist es notwendig, dass die Fachkraft für Arbeitssicherheit sachlich und neutral versucht, die Perspektive der Führungskräfte einzunehmen. Sicherlich mag es auch Führungskräfte geben, deren Interesse am Arbeitsschutz wirklich gering ist, allerdings ist dies erfahrungsgemäß eine Minderheit.
Durch den Perspektivwechsel haben Fachkräfte für Arbeitssicherheit die Möglichkeit, gemeinsam mit den Führungskräften an einer Lösung zu arbeiten. Es gilt herauszufinden, was Führungskräfte wirklich benötigen, um ihre Aufgaben zu übernehmen und als Vorbild aktiv zu werden.
Befähigung von Führungskräften
Die Delegation von Aufgaben erfolgt seitens der Führungskräfte in vielen Fällen bedingt durch die Sorge, etwas falsch zu machen, und den Glauben, dass die Zeit für den Arbeitsschutz fehlt. Die Fachkraft für Arbeitssicherheit sollte in ihrer Rolle die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen, damit diese Sorgen genommen werden.
Wenn Führungskräfte erfolgreich den Arbeitsschutz organisieren und Mitarbeitende dafür gewinnen sollen, dann müssen sie selbstbewusst, sicher und wirksam auftreten. Diese drei Faktoren sind allerdings nur möglich, wenn auch die Befähigung und die erforderlichen Soft Skills vorhanden sind.
Diesen notwendigen Schritt gehen leider nur wenige Unternehmen. Zwar gibt es diverse Schulungen und Onboardings zur Führung von Mitarbeitenden, für den Arbeitsschutz fehlt jedoch oft ein geeignetes Training. In einigen Unternehmen wird zumindest versucht, die Führungskräfte für den Arbeitsschutz zu befähigen, in der Regel durch ein- bis dreitägige Schulungen.
Im Grunde positiv, führt dies am Ende jedoch nur in seltenen Fällen dazu, dass sich Führungskräfte bereit für ihre Aufgaben fühlen. Die Wissenschaft zeigt seit vielen Jahren, dass der Lern- und Behaltensprozess des Menschen durch Wiederholungen und das „Machen” nachhaltiger und wirksamer ist.
Aufbau eines Schulungsprogramms
Die Befähigung von Führungskräften sollte über einen längeren Zeitraum andauern. Die Erfahrung zeigt, dass ein Schulungsprogramm über rund sechs Monate mit weiteren Reviews in einem gewissen zeitlichen Abstand zu einem guten Ergebnis führt. Es braucht hierbei genügend Zeit, um das in der Theorie erlernte Fachwissen auch in der betrieblichen Praxis anzuwenden, sich selbst zu reflektieren, gegebenenfalls Änderungen vorzunehmen und erneut zu versuchen.
Zu Beginn ist es empfehlenswert, klar und eindeutig die Erwartungshaltung des Unternehmens an die Arbeit der Führungskräfte zu kommunizieren. Weiterhin bedarf es oftmals der Transformation der Einstellung von Führungskräften zum Arbeitsschutz. Ein häufiger Vor- bzw. Einwand ist, dass aktuell keine Zeit für den Arbeitsschutz vorhanden sei. Dieser Vor- bzw. Einwand muss zuerst gelöst werden.
Die Erfolgsaussichten steigen, wenn durch einen internen oder externen Trainer ein interaktiver Workshop durchgeführt wird, bei denen die Führungskräfte selbst zu der Erkenntnis kommen, dass ein gelebter Arbeitsschutz nicht nur Zeit kostet, sondern am Ende auch Zeit spart und weitere Vorteile mit sich bringt.
In einem metallverarbeitenden Konzern sagte einer der operativen Führungskräfte zu Beginn eines Workshops, dass er keine Zeit für Sicherheit habe. Nach rund zwei Stunden folgte die Erkenntnis: „Ich rauche zu viel, sagt meine Frau, und ich trinke auch zu viel Kaffee. Eigentlich habe ich genug Zeit für Sicherheit.“
Wenn die Einstellung zum Arbeitsschutz eine erste Transformation durchlaufen hat, entwickelt sich bei den Führungskräften eine innere Motivation, mehr zu erfahren. An dieser Stelle müssen in einem regelmäßigen zeitlichen Abstand weitere interaktive Workshops durchgeführt werden. Neben den Fähigkeiten zur Erstellung von Gefährdungsbeurteilungen und dem Erkennen von Risiken sollte auch auf Themen wie Begehungen und Unterweisungen eingegangen werden.
Auch die Beteiligung und Mitwirkung von Sicherheitsbeauftragten sowie Mitarbeitenden sollte vermittelt werden, weil die Führungskraft Unterstützung bekommt und die Akzeptanz für den Arbeitsschutz unter den Mitarbeitern steigt.
Der Unterschied zwischen dieser Methode und den kurzen Schulungen ist, dass die Führungskräfte begleitet werden und spüren, dass das Erlernte in der betrieblichen Praxis funktioniert. Wenn Führungskräfte nach jedem Workshop das Erlernte umsetzen und Erfolgserlebnisse erleben, dann führt das zu einem größeren Selbstbewusstsein sowie einer selbstsicheren und wirksameren Umsetzung von Aufgaben im Arbeitsschutz.
Zusammenfassung
Die Mehrheit der Führungskräfte, die regelmäßig möglichst viele Aufgaben zum Arbeitsschutz an andere Personen delegiert, mangelt es selten an Interesse, sondern mehr an den notwendigen Fähigkeiten. Die Schulung zur rechtlichen Verantwortung und Haftung im Arbeitsschutz ist zwar eine wichtige Grundsäule, allerdings nicht ausreichend, um die Führungskräfte in den notwendigen Skills zu befähigen.
Es braucht vielmehr ein Schulungsprogramm, das über mehrere Monate andauert und durch einen internen oder externen Trainer begleitet wird. Mit Hilfe dieser Begleitung kann das theoretische Wissen auch erfolgreich in die betriebliche Praxis gebracht werden.
Durch die neuen Fähigkeiten und die ersten Erfolge bei der Umsetzung ändert sich die Einstellung der Führungskräfte zum Arbeitsschutz, sie übernehmen immer mehr Verantwortung und die dauerhafte Delegation von Aufgaben an die Fachkraft für Arbeitssicherheit hat ein Ende.
Quellen:
- Ebbinghaus, Hermann (1885): Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie. Leipzig. Dunker & Humblot
- Ganzke, Anna; Ganzke, Stefan (2023): Arbeitsschutz beginnt im Kopf – Warum die Arbeitsunfälle und unsicheren Situationen in den Unternehmen stagnieren.