Spätestens seit dem Digitalisierungsschub durch Corona ist unbestritten, dass Meetings, Schulungen und Weiterbildungen auch online funktionieren können und nicht zwangsläufig eine Präsenz vor Ort erfordern. Warum sollte das nicht auch für Sicherheitsunterweisungen gelten? Selbst die Berufsgenossenschaften bieten allerlei Online-Tools und Apps für das Smartphone oder Tablet an, um dem Arbeitsschützer die Aufgaben zu erleichtern. Andererseits finden sich im Arbeitsschutzrecht Formulierungen, dass eine Unterweisung „mündlich“, „vor Ort“ oder „mit Übungen“ stattfinden sollte. Dies führt vielfach zu Verunsicherung, wann und was man digital unterweisen darf und was nicht.
Rechtspflicht mit vielen Freiheiten
Wichtig zum Verständnis sind zwei Punkte:
- Das Unterweisen ist eine Rechtspflicht mit festen Rahmenbedingungen (jährlich bzw. halbjährlich für Jugendliche, arbeitsplatzbezogen, Nachweispflicht usw.). Bei der Wahl von Methoden, Materialien und Formaten besteht jedoch eine große Freiheit, und es gibt keinen Grund, digitale Unterweisungslösungen pauschal abzulehnen. Doch wer genauer hinschaut, erkennt, dass es für elektronische Helfer Grenzen gibt.
- Digitales oder elektronisches Unterweisen ist kein fest definierter Begriff, sondern umfasst ganz unterschiedliche Ansätze. Das reicht vom individuellen Selbststudium im Homeoffice bis zur gemeinsamen Schulung per Webinar, von interaktiven Online-Plattformen bis zum Einsatz von Datenbrillen in virtuellen Umgebungen.
Diese Freiheit und Vielfalt bieten dem Unterweisenden mannigfache didaktische Möglichkeiten. Doch jede Methode hat ihre Vor- und Nachteile und nicht jeder Ansatz eignet sich für jedes Unterweisungsthema. Man könnte diskutieren, ob das Arbeitsschutzrecht hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit des digitalen Unterweisens der technologischen Entwicklung hinterherhinkt. Doch schaut man etwas genauer in die Regelwerke, kann man vielen bestehenden Vorgaben ihre Sinnhaftigkeit auch im 4.0‑Zeitalter nicht absprechen.
Gefahrstoffe: mündlich unterweisen
Das vermutlich bekannteste Beispiel für Einschränkungen bei der Unterweisungsfreiheit liefert die GefStoffV. Laut § 14 (2) muss der Arbeitgeber dafür sorgen, dass seine Beschäftigten
- auf Basis der Betriebsanweisungen
- über alle auftretenden Gefährdungen und
- entsprechende Schutzmaßnahmen
unterwiesen werden und zwar mündlich. Dazu gehört explizit auch eine allgemeine arbeitsmedizinisch-toxikologische Beratung. Die TRGS 555 formuliert die Unterweisungspflicht in Abschnitt 5.1 ähnlich und fordert, die Beschäftigten
- mindestens einmal jährlich
- arbeitsplatz- und tätigkeitsbezogen
- mündlich
zu unterweisen. Selbst wenn das „mündlich“ hier gar nicht explizit genannt wäre, müsste man schon beim Aspekt „arbeitsplatz- und tätigkeitsbezogen“ kritisch hinterfragen, inwiefern ein digitales Tool dieses Kriterium erfüllen kann. Angesichts der kaum überschaubaren Vielzahl an Gefahrstoffen und unterschiedlicher Arbeitssituationen ist die Forderung der Mündlichkeit und damit persönlichen Instruktion nachvollziehbar.
Dies schließt jedoch nicht aus, dass – vorbereitend zur eigentlichen mündlichen Unterweisung – grundlegende Informationen, etwa zur Ersten Hilfe, zur Gefahrstofflagerung oder ‑entsorgung, auch digital geschult werden dürfen.
Arbeitsstätten: vor Ort unterweisen
Dass nicht jede potenziell gefährliche Situation an einem Arbeitsplatz über eine fernab des Unternehmens erstellte Software abbildbar ist, sagt schon der gesunde Menschenverstand. Geht es über grundlegende sicherheitsrelevante Informationen hinaus um spezifische Arbeitsabläufe, das Bedienen von Sondermaschinen, das Abweichen von Routinen oder Ähnlichem, ist ein Einweisen, Anweisen und Unterweisen vor Ort unverzichtbar. Das wird umso wichtiger, wenn – unter speziellen Umständen – ansonsten typische und sicherheitsgerechte Verhaltensregeln an Grenzen stoßen. Eine vorgefertigte Standard-Unterweisung könnte sich fatal auswirken, wenn zum Beispiel im speziellen Fall eine andere als die Standard-PSA verwendet werden muss oder wenn ein schematisches Befolgen von (normalerweise zutreffenden) Unterweisungsinhalten im konkreten Einzelfall nicht sinnvoll wäre.
Das Arbeitsstättenrecht greift interessanterweise mit dem Zugang zu nicht durchtrittsicheren Dächern einen Fall auf, der als besonders unfallträchtig gilt. Die ASR A2.1 fordert in Abschnitt 7.1(1) nicht nur, dass Dachausstiege und Luken in solchen Fällen verschlossen sein müssen und nur von besonders unterwiesenen und beauftragten Personen geöffnet werden dürfen. Anschließend folgt zudem die Formulierung, dass die Unterweisung „ggf. vor Ort“ durchzuführen ist.
Eine ähnliche Vor-Ort-Unterweisungspflicht kann man annehmen für Baustellen und alle anderen dynamischen Arbeitssituationen. Selbstverständlich dürfen auch für Baustellenpersonal grundlegende Unterweisungsthemen wie Brandschutz, Lärmschutz oder Erste Hilfe auch am Bildschirm erfolgen. Immer dann, wenn es um die konkreten Bedingungen vor Ort geht, bietet es sich jedoch an, das Unterweisen mit einer Begehung zu koppeln und vor Ort mit baustellenspezifischen Aspekten zu ergänzen.
PSAgA: Unterweisung „mit Übungen“
Bei Absturzgefahren kommt ein rein digitales Unterweisen aus einem weiteren Grund an Grenzen. Denn PSA zum Schutz gegen Absturz (PSAgA) fällt laut der europäischen PSA-Verordnung (2016/425/EU) in die Risikokategorie III. Diese Kategorie umfasst alle Risiken, die „zu sehr schwerwiegenden Folgen wie Tod oder irreversiblen Gesundheitsschäden“ führen können. Darunter fallen auch das Arbeiten unter Spannung, Arbeiten mit der Gefahr des Ertrinkens oder Arbeiten bei schädlichem Lärm. Ähnlich formuliert es die DGUV-Vorschrift 1 und fordert im Falle von PSA, die gegen tödliche Gefahren oder bleibende Gesundheitsschäden schützen soll, die Benutzungsinformation den Versicherten „im Rahmen von Unterweisungen mit Übungen“ zu vermitteln.
Wie dieses „Unterweisen mit Übung“ konkret aussehen soll, bleibt offen. Gemeint ist aber ein praktisches Training. Denn das korrekte Benutzen einer PSAgA oder das Verwenden einer Störlichtbogen-Schutzausrüstung ist allein durch digitale Tools nicht ausreichend zu vermitteln. Hier geht es um konkrete Handgriffe und Abläufe, die gelernt, eingeübt, kontrolliert und eingeprägt werden müssen. Dies können eine Online-Schulung, ein Selbstlernkurs am Monitor oder ein YouTube-Video nicht leisten.
DGUV: Selbststudium genügt nicht!
Noch deutlicher äußert sich die DGUV in ihrer Regel 100–001 zum elektronischen Unterweisen. Demnach ist die Unterweisung ein wichtiges Instrument, um Versicherten zu ermöglichen, sich sicherheits- und gesundheitsgerecht zu verhalten. So weit so gut, doch nun folgt die deutliche Feststellung: „Ein ausschließliches Selbststudium der Versicherten ist zur Unterweisung in der Regel nicht ausreichend.“
Somit ist ein Selbststudium – ob mit analogen oder digitalen Materialien – zwar durchaus möglich, darf aber nicht dazu führen, dass der Arbeitgeber seine Unterweisungspflichten auf seine Beschäftigten abwälzt. Diese dürfen niemals mit einer Software oder einem Online-Tool alleingelassen werden. Elektronische Hilfsmittel und Medien sind als Hilfsmittel zu betrachten, aber nicht als alleinige Universalmethode, um den lästigen Unterweisungskram loszuwerden.
Es ist für die Praxis hilfreich, die Frage des elektronischen Unterweisens nicht als Entweder-Oder zu betrachten. In vielen Fällen werden digitale Unterweisungsmodule geeignet sein, allgemeine und betriebsübergreifende Inhalte zu schulen. Somit kann die eigentliche Unterweisung bereits vorbereitet sein und dann effizient vor Ort, mündlich und konkret die spezifischeren Aspekte ergänzen. Der Unterweiser ist aufgerufen, sich stets zu vergewissern, dass den Unterwiesenen die Gefährdungen klar geworden sind. Er muss sicherstellen, dass sie das von ihnen erwartete sicherheitsgerechte Verhalten verstanden haben. Dies ist nur durch den persönlichen Kontakt vermittel- und überprüfbar und kann nur bedingt an eine Software delegiert werden.
Fazit: Chancen nutzen, Grenzen sehen
Zweifellos bieten die digitalen Helfer dem Unterweisenden jede Menge Möglichkeiten, mit vorgefertigten Inhalten Unterweisungen zeitsparend vorzubereiten und ansprechend zu gestalten. Das aufwendige Abstimmen von Terminen entfällt, wenn jeder Mitarbeiter sich flexibel und nach seinem individuellen Bedarf seine Unterweisungsinhalte eigenständig erarbeitet. Unterweisungsnachweise werden automatisiert erstellt und die Dokumentation läuft ohne Papierkram im Hintergrund. All dies kann die für das Unterweisen mitverantwortlichen Akteure, ob Führungskräfte oder Sifa, entlasten, und es gibt keinen Grund, diese Vorteile nicht zu nutzen.
Doch Softwarepakete, Apps und Online-Module sind keine Selbstläufer, welche den Verantwortlichen mit ein paar Mausklicks ihre Unterweisungspflichten abnehmen. Wer seine Mitarbeiter verantwortungsvoll und rechtssicher unterweisen will, sollte bei aller Begeisterung über die willkommene Arbeitserleichterung stets einen kritischen Blick auf die Grenzen elektronischer Unterweisungslösungen behalten. Dies gilt umso mehr, als die Entwicklung nicht stehen bleiben wird. Schon heute ist die Frage zu stellen, welche Rolle Künstliche Intelligenz bei Sicherheitsunterweisungen spielen wird und wie dies zu regeln ist.
Zehn Fragen zur Entscheidung über eine digitale Unterweisungslösung
Digitale Unterstützung ist im Arbeitsschutz willkommen, auch beim Unterweisen. Aber es gilt, genau hinzuschauen, welche Lösung für den eigenen Bedarf geeignet ist. Nachfolgend einige kritische Punkte:
Spezifität: Erfüllt das digitale Tool die Forderung, arbeitsplatzspezifisch zu unterweisen? Lassen sich die vorgefertigten Unterweisungsinhalte je nach Bedarf editieren, ergänzen, anpassen oder auf die individuelle Arbeitssituation vor Ort zuschneiden? Können zum Beispiel eigene Betriebsanweisungen, Fotos oder Unfallauswertungen eingepflegt werden?
Flexibilität: Lassen sich die Unterweisungsinhalte gemäß den Befunden der fortgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen an die Gefährdungsentwicklung im Betrieb vor Ort anpassen und aktualisieren?
Kommunikation: Bleiben Gespräche über Unterweisungsinhalte zwischen Mitarbeitern und Unterweiser jederzeit möglich? Kann der Unterwiesene Fragen stellen und Feedback erhalten?
Verständlichkeit: Sind Medium und Inhalte dem Sprach- und Wissensniveau, der Qualifikation und Berufserfahrung der zu unterweisenden Mitarbeiter angemessen? Gibt es optional mehrsprachige Lösungen für Mitarbeiter, deren Muttersprache nicht Deutsch ist?
Verständniskontrolle: Erhält der Unterwiesene ein Feedback, inwiefern er die unterwiesenen Gefährdungen und Verhaltensregeln verstanden hat? Findet eine Verständnisprüfung statt? Kann der Unterweiser anhand einer Auswertung nachvollziehen, inwiefern die Unterweisung tatsächlich angekommen ist?
Ergonomie: Ist die digitale Lösung hinsichtlich ihrer Schnittstellen, der Gestaltung der Interaktionen, der Barrierefreiheit usw. auf einem Niveau, wie es u. a. in der DGUV Information 215–450 „Softwareergonomie“ beschrieben wird?
Manipulierbarkeit: Kann das Tool ausgehebelt werden, um – etwa durch schnelles Durchklicken – lediglich die Nachweispflicht zu erfüllen, ohne dass tatsächlich eine Beschäftigung mit den Inhalten stattgefunden hat?
Usability: Auf welchen Endgeräten muss bzw. kann das digitale Tool laufen (Smartphone, Tablet, Notebook, PC, Intranet, Cloud…) und entspricht dies – auch künftig – den im eigenen Betrieb etablierten Nutzungsformen und ‑kompetenzen?
Datenschutz: Bietet die digitale Lösung abgestufte Zugangs- und Zugriffsregelungen? Kann der Unterweisende – ggf. in Absprache mit dem Datenschutzbeauftragten – definieren, welche betrieblichen Akteure welche Daten einsehen, verändern oder ausgeben dürfen?
Zukunftsfähigkeit: Sind für die digitalen Unterweisungsinhalte Aktualisierungen vorgesehen, etwa bei Neuerungen im Arbeitsschutzrecht, Entwicklungen beim Stand der Technik usw.?