Ein 50-jähriger Industrieelektroniker E ist alkoholkrank. Zu seinen Aufgaben gehören insbesondere die „folgenden Tätigkeiten:
- selbständige Ausführung elektrischer Reparaturen
- Aufbau und Verdrahtung von Steuerungen
- Umstell- und Umbauarbeiten an Produktionsanlagen
- Optimierung von Anlagenabläufen mit dem Ziel einer höheren Ausbringung
- Durchführung von Arbeiten nach Wartungs- und Inspektionsliste
- Bestellung von benötigten Materialien und Ersatzteilen unter Beachtung der Kosten“1.
Am 23. Juni und 14. Juli 2006 ist E auf der Arbeit stark alkoholisiert. Am 17. Juli 2008 vereinbaren er und seine Arbeitgeberin unter Hinzuziehung der Betriebsärztin zunächst befristet für ein Jahr bis Juli 2009 unter anderem, dass E sich einer Selbsthilfegruppe für Alkoholsüchtige anschließe, in regelmäßigen Abständen Blutalkohol-Screenings durchführen lasse und jeweils darüber informiere.
Anfang Oktober 2008 reparierte E eine defekte Maschine „ohne Beanstandung“. Ein Vorgesetzter sprach ihn wegen der Vermutung seiner Alkoholisierung an. E räumte im Gespräch mit dem Personalleiter und der Betriebsärztin ein, am Vorabend Alkohol getrunken zu haben.
Am 2. Oktober 2008 kündigte die Arbeitgeberin den E fristlos – nach Zustimmung des Betriebsrats. Im Anhörungsschreiben an den Betriebsrat heißt es: „Wir beabsichtigen, das Arbeitsverhältnis wegen nunmehr wiederholter Trunkenheit im Dienst fristlos zu beenden. Er wurde heute um 9:30 Uhr wieder alkoholisiert angetroffen. Gerade wegen der jetzt eingetretenen Nachhaltigkeit ist uns eine Weiterbeschäftigung nicht mehr zuzumuten.“
Erst im Klageverfahren argumentierte die Arbeitgeberin, „die Arbeit des E berge ein erhöhtes Gefährdungspotential“. Sie dürfe E „nicht beschäftigen. Konkret gebe es folgende Gefährdungen:
- Gefahr durch Stromschläge bei der Fehlersuche unter Spannungen im Bereich von bis zu 1000 Volt (Eigengefährdung)
- Falschdurchführung von Reparatur‑, Umstell- und Umbauarbeiten insbesondere durch falsche Verkabelungen, Isolierungen, Erdungen etc. mit der Gefahr, dass der Kläger bzw. Dritte in Folge der Falschdurchführung mit elektrischen Spannungen (bis zu 1000 Volt) in Kontakt kommen bzw. Stromschläge erleiden, Eigen- und Fremdgefährdung, Gefahr hoher Sach- und Folgeschäden, Gefährdung von Kundenbeziehungen)
- Gefährdung Dritter durch Stromschläge bei vertauschten Verkabelungen (Fremdgefährdung, Sachschäden)
- Nichtfachgerechte Durchführung von Reparaturen an Sicherheitseinrichtungen von automatischen Fertigungseinrichtungen (Eigen- und Fremdgefährdung durch Quetschgefahr bewegter Teile).“
Betreiberverantwortung für den sicheren Betrieb von Elektroanlagen
Urteil
Das Landesarbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage des E statt2. Es liegen weder die Voraussetzungen für eine krankheitsbedingte = personenbedingte noch die für eine verhaltensbedingte Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) vor.
Personenbedingte Kündigung
„Eine Kündigung wegen Alkoholabhängigkeit ist grundsätzlich nach den für krankheitsbedingte Kündigungen geltenden Grundsätzen zu beurteilen. Denn Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit im medizinischen Sinne. Sie liegt vor, wenn der gewohnheitsmäßige, übermäßige Alkoholgenuss trotz besserer Einsicht nicht aufgegeben oder reduziert werden kann. Wesentliches Merkmal dieser Erkrankung ist die physische oder psychische Abhängigkeit vom Alkohol. Sie äußert sich vor allem im Verlust der Selbstkontrolle. Der Alkoholiker kann, wenn er zu trinken beginnt, den Alkoholkonsum nicht mehr kontrollieren, mit dem Trinken nicht mehr aufhören. Dazu kommt die Unfähigkeit zur Abstinenz; der Alkoholiker kann auf Alkohol nicht mehr verzichten.“
Grundsätze für krankheitsbedingte Kündigungen
Voraussetzung einer krankheitsbedingten Kündigung ist eine „Negativprognose, dass der Arbeitnehmer über eine längere Dauer mit deutlich eingeschränkter Leistungsfähigkeit arbeitet oder ganz ausfällt“.
„Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit hat der Arbeitgeber dem alkoholkranken Arbeitnehmer in der Regel zuvor die Chance zu einer Entziehungskur zu geben. Die negative Gesundheitsprognose kann nämlich in der Regel erst dann gestellt werden, wenn der Arbeitnehmer entweder zur Therapie nicht bereit oder trotz vorausgegangener Therapie rückfällig geworden ist.“
Einzelfallwürdigung: positive Prognose
„Von einer mangelnden Therapiebereitschaft des Klägers und damit von einer negativen Prognose vermag das Gericht nicht auszugehen. Denn der Kläger hat sich an alle Festlegungen in der Vereinbarung vom 17. Juli 2008 gehalten. Noch am 30. September 2008 hat er seine Leberwerte untersuchen lassen. Die Gespräche in der Selbsthilfegruppe hat er nicht abgebrochen oder auch nur unterbrochen.“
„Auch aus dem so genannten Rückfall lässt sich keine zwingende negative Prognose für die weitere, nachteilige Entwicklung seiner chronischen Trunkenheit ableiten. Es gibt keinen Erfahrungssatz, wonach ein Rückfall nach einer zunächst erfolgreichen Entwöhnungskur und längerer Abstinenz ein endgültiger Fehlschlag jeglicher Alkoholtherapie für die Zukunft bedeutet. Maßgebend ist stets die Beurteilung im Einzelfall. Statistiken belegen, dass innerhalb von vier Jahren nach jeder Alkoholismustherapie über 50% aller Patienten rückfällig werden.“
Das Gericht stimmt der Arbeitgeberin zu, „dass es ein erheblicher Vertrauensmissbrauch ist, dass E unmittelbar nach Ablauf der ‚Bewährungszeit‘ erneut Alkohol zu sich genommen hat. Allerdings übersieht die Arbeitgeberin, dass ein Zeitraum von drei Monaten bei einer Suchterkrankung wie dem Alkoholismus in aller Regel bei weitem nicht ausreichend ist, um hinreichend Abstand von der Sucht zu gewinnen. Wie die Arbeitgeberin zutreffend ausgeführt hat, ist die Alkoholerkrankung nicht mehr heilbar. Sie ist nur bei absoluter Abstinenz des E zu bewältigen.“
Das LAG würdigt dann „die besonderen Gründe des Einzelfalles als Umstände einer eher positiven Prognose“ – nämlich „das unauffällige Verhalten des E in der Zeit vom 27. Juni 2006 bis 9. Juli 2008, die mit E getroffene Vereinbarung vom 17. Juli 2008 und die tatsächliche Umsetzung dieser Vereinbarung durch E und die positive Entwicklung der Leberwerte bis zum Kündigungstermin. Dass E am Anfang seiner Therapie noch einmal rückfällig geworden ist, ist zwar bedauerlich, stellt aber – noch – keinen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung dar“3.
Berücksichtigung der Tätigkeit
Das LAG fährt fort, „auch die Tätigkeit des E ändert daran nichts. Nach § 7 Abs. 2 BGV A14 darf die Arbeitgeberin den E zwar nicht mit solchen Arbeiten beschäftigen, bei denen er erkennbar nicht in der Lage ist, diese ohne Gefahr für sich oder andere auszuführen. Und dem E ist es nach § 15 Abs. 2 BGV A15 verboten, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem er sich oder andere gefährden kann. Aber ein absolutes Alkoholverbot kann dieser Unfallverhütungsvorschrift nicht entnommen werden. Auch wenn Fehler in der Arbeit des E zu einer erheblichen Eigen- und insbesondere Fremdgefährdung führen könnten, gibt es keine Vorschrift, die es verbietet, einen Alkoholkranken noch mit den Aufgaben eines Industrieelektronikers zu beschäftigen.
Dass E irgendwelche Auffälligkeiten bei der Arbeit gezeigt hätte, hat die Arbeitgeberin weder vorgetragen noch ist es trotz der mindestens seit dem Jahre 2006 bereits bestehenden Alkoholkrankheit sonst ersichtlich. Deshalb ist der einmalige Rückfall des Klägers nach der Vereinbarung vom 17. Juli 2008 nicht geeignet, wegen etwaiger Gefährdungen ein Beschäftigungsverbot für E anzunehmen.“
Verhaltensbedingte Kündigung
Die Kündigungsschutzklage ist auch unter dem Aspekt der verhaltensbedingten Kündigung erfolgreich6: „Die Kündigung könnte auch als verhaltensbedingte Kündigung angesehen werden, denn ein alkoholbedingtes Fehlverhalten kann auch unter dem Aspekt der Gefährdung der betrieblichen Sicherheit kündigungsrelevant sein. Allerdings wurde dazu der Betriebsrat nicht angehört. Diesem wurde lediglich die ‚Trunkenheit im Dienst‘ als verhaltensbedingter Grund vorgetragen7.
Eine Kündigung ist nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG nicht nur dann unwirksam, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Betriebsrat zuvor überhaupt beteiligt zu haben, sondern auch dann, wenn der Arbeitgeber seiner Unterrichtungspflicht nicht richtig, insbesondere nicht ausführlich genug nachkommt. Aus dem Sinn und Zweck der Anhörung folgt für den Arbeitgeber die Verpflichtung, die Gründe für seine Kündigungsabsicht derart mitzuteilen, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen in der Lage ist, selbst die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu prüfen und sich ein Bild zu machen. Der Arbeitgeber genügt daher der ihm obliegenden Mitteilungspflicht nicht, wenn er den Kündigungssachverhalt nur pauschal, schlagwort- oder stichwortartig umschreibt oder lediglich ein Werturteil abgibt, ohne die für seine Bewertung maßgeblichen Tatsachen mitzuteilen.
Bei einer Kündigung im Zusammenhang mit Alkoholismus gehört dazu auch die Mitteilung, ob es sich um eine personenbedingte und/oder um eine verhaltensbedingte Kündigung handeln soll. Dieses war der Arbeitgeberin auch grundsätzlich bekannt, wie das Anhörungsschreiben belegt. Allerdings gehören zu den mitzuteilenden Kündigungsgründen dann auch die Tatsachen, die den jeweiligen Kündigungsaspekt bedingen sollen. Und die Gefährdung der betrieblichen Sicherheit hat die Arbeitgeberin erst im gerichtlichen Verfahren angesprochen. Insofern konnte dieser Sachverhalt aber bei der Beurteilung der Kündigung keine Berücksichtigung finden.“
Ergebnis
Die Kündigung des E war also weder aus personenbedingten Gründen wegen eingeschränkter Leistungsfähigkeit noch aus verhaltensbedingten Gründen wegen Gefährdung der betrieblichen Sicherheit gerechtfertigt. Die Kündigungsschutzklage des E war erfolgreich – er muss also weiterbeschäftigt werden.
Immer möglich ist aber eine außergerichtliche Einigung der Arbeitgeberin und des E – etwa die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung. Ob das geschehen ist, wissen wir nicht. Es war nicht Gegenstand des Rechtsstreits – und ein solcher Vergleich wird auch nirgendwo sonst, zum Beispiel in Zeitungen, berichtet.
Literaturhinweise:
1 Weitere 77 Gerichtsurteile mit Schlussfolgerungen siehe Wilrich, Elektrotechnik und Stromunfälle vor Gericht – 77 Urteilsanalysen zu Gefahren der Elektrizität, Produktsicherheitspflichten der Hersteller und Betreiberverantwortung für elektrische Anlagen, 2023.
2 LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.08.2009 (Az. 10 Sa 506/09).
3 Zu diesem Erfordernis der ausführlichen Würdigung der „besonderen Umstände des Einzelfalles“ aus Sicht des Haftungsrechts siehe Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen, 2020.
4 Heute § 7 Abs. 2 DGUV Vorschrift 1: „Der Unternehmer darf Versicherte, die erkennbar nicht in der Lage sind, eine Arbeit ohne Gefahr für sich oder andere auszuführen, mit dieser Arbeit nicht beschäftigen.“
5 Heute § 15 Abs. 2 DGUV Vorschrift 1: „Versicherte dürfen sich durch den Konsum von Alkohol, Drogen oder anderen berauschenden Mitteln nicht in einen Zustand versetzen, durch den sie sich selbst oder andere gefährden können.“
6 Siehe hierzu auch den Fall Nr. 46 „Schaltschrankraum: Schlafstätte oder Lesesaal?“ in Wilrich, Elektrotechnik und Stromunfälle vor Gericht, 2023, S. 271 ff.
7 Zur persönlichen Verantwortung aller Beschäftigten siehe Wilrich, Technik-Verantwortung – Sicherheitspflichten der Ingenieure, Meister und Fachkräfte und Organisation und Aufsicht durch Management und Führungskräfte, 2022.
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen
www.rechtsanwalt-wilrich.de
Kündigungsschutzgesetz (KSchG)
§ 1 Sozial ungerechtfertigte Kündigungen
(1) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist.
(2) Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durchdringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.
Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)
§ 102 Mitbestimmung bei Kündigungen
(1) Der Betriebsrat ist vor jeder Kündigung zu hören. Der Arbeitgeber hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam.
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