Das Arbeitsschutzgesetz verlangt, dass der Arbeitgeber die Arbeitsplätze so einrichtet, dass Gefahren für die Gesundheit der Arbeitnehmer so weit wie möglich vermieden werden. Dabei hat er den aktuellen Stand der Technik, der Arbeitsmedizin und sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Was sich hinter diesen Begrifflichkeiten verbirgt, definiert das Arbeitsschutzgesetz jedoch nicht. Anerkannt ist allein, dass eine absolute Sicherheit am Arbeitsplatz beziehungsweise eine völlige Risikofreiheit nicht gewährleistet werden kann. Der Arbeitgeber soll daher – in Relation zum Grad der drohenden Gesundheitsgefahren – die bestmögliche Technik zur Sicherheit seiner Arbeitnehmer einsetzen.
Die Arbeitsschutzverantwortlichen im Unternehmen stehen dabei jedoch oft vor Schwierigkeiten. Ständig werden technische Anlagen, Arbeitsmittel und Arbeitsverfahren mit teilweise bisher nicht bekannten Gefährdungen fort- oder neu entwickelt. Arbeitsmedizin und Hygiene sind ebenso in ständiger Entwicklung, und neue Sicherheitslösungen oder Schutzvorrichtungen, durch die schon in Gebrauch befindliche Anlagen, Arbeitsmittel und Arbeitsverfahren sicherer gestaltet werden können, erscheinen fortlaufend.
Rechtssetzung gibt normative Standards vor
Entwickeln sich die technischen Fortschritte in der Arbeitswelt rasant, wirkt die Rechtssetzung dagegen in vielen Bereichen eher statisch und träge. Der Gesetzgeber hängt oft den technischen Entwicklungen hinterher. Um jedoch die Statik des Rechts mit der Dynamik der Technik zu verbinden, enthalten die meisten arbeitsschutzrechtlichen Gesetze und Verordnungen zur Konkretisierung ihrer Schutz- und Sicherheitsziele nur sogenannte normative Standards, die einzuhalten sind – die beispielsweise bereits benannten gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse (§ 6 Absatz 1 des Arbeitszeitgesetzes) oder den Stand der Technik (§ 2 Absatz 15 der Gefahrstoffverordnung beziehungsweise § 2 Absatz 11 der Arbeitsstättenverordnung).
Diese allgemeinen normativen Standards haben den Vorteil, dass Gesetze, Verordnungen und Unfallverhütungsvorschriften von komplizierten, vorwiegend technischen Einzelheiten freigehalten werden und die Fortschritte in der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung ohne laufende Rechtsänderungen rechtlich „eingefangen” werden können. Ein unvermeidlicher Nachteil ist jedoch, dass die generalklauselartig gefassten gesetzlichen Anforderungen die Einzelheiten eines normgerechtes Verhaltens für Arbeitgeber offen lassen und damit die Rechtsanwendung im Einzelfall unsicher machen. An dieser Stelle kommen die technischen Standardisierungen von CEN- oder ISO-Normen beziehungsweise VDE- und VDI-Richtlinien zum Tragen, und die Frage nach deren rechtlichen Wirkungen wird relevant.
Normen und Richtlinien helfen, normative Standards zu erfüllen
Zunächst ist festzuhalten, dass CEN-Normen oder VDI-Richtlinien etc. keine Gesetze oder sonstige verbindliche Rechtsvorschriften darstellen. Sie stammen von privaten – wenn auch gemeinnützigen – Organisationen, zum Beispiel dem Europäische Komitee für Normung in Brüssel (CEN) oder dem Verein Deutscher Ingenieure e.V. mit Sitz in Düsseldorf (VDI), die das Ziel haben, technische Anwendungen zu vereinheitlichen beziehungsweise aktuelle Qualitätsstandards zu setzen. Die Rechtsordnung erhebt dennoch die „außerrechtlichen” technischen Standards zum rechtlichen Maßstab eines bestmöglichen Arbeitsschutzes, weil deren ordnungsgemäße Anwendung die normativen Standards (zum Beispiel Stand der Technik, gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnis) letztlich konkretisieren und erfüllen können.
Aus dem Umstand eines gesetzlich – ganz allgemein – vorgegebenen Schutz- oder Sicherheitsniveaus (Stand der Technik, gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse, Arbeitsmedizin) leitet sich ab, dass der Arbeitgeber grundsätzlich auch befugt ist, von den allgemeinen, nach CEN, ISO, VDI etc. vorgegebenen Regeln abzuweichen. Dies darf er allerdings nur, soweit er die gleiche Sicherheit auf andere Weise gewährleistet kann. Dies wird zum Beispiel in der Arbeitsstättenverordnung im Rahmen der Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR) vom Verordnungsgeber ausdrücklich anerkannt.
Damit stellt sich die Frage, ob die technischen Qualitätsstandards nach CEN, ISO, VDI usw. im Streitfall zwischen Arbeitgeber und Arbeitsschutzbehörde der gerichtlichen Überprüfung unterliegen.
Rechtskonformität von CEN, ISO und Co. kann widerlegt werden
Dass dem so ist, ist allgemein anerkannt. Im Einzelfall ist jedoch zu differenzieren. Sofern anerkannte Regeln der Technik und gesicherte Erkenntnisse zu beachten sind und der Arbeitgeber die entsprechenden Qualitätsstandards nach CEN, ISO, VDI etc. korrekt einhält, spricht zu seinen Gunsten eine rechtliche Vermutung dafür, dass die erforderliche Sicherheit oder der erforderliche Schutz auch gewährleistet ist. Denn Arbeitgeber und Behörden sollen darauf vertrauen dürfen, dass der Inhalt der allgemein anerkannten technischen Standards und Richtlinien jeweils auch den Stand der sicherheitstechnischen sowie arbeitsmedizinischen Regeln und sonstiger gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse im Sinne der arbeitsrechtlichen Vorschriften richtig und vollständig wiedergibt.
Im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung kann sich jedoch im Einzelfall auch ergeben, dass eine allgemein anerkannte technische Regel oder arbeitswissenschaftliche Erkenntnis nicht (mehr) als gesichert anzusehen ist, beispielsweise weil sie inzwischen technisch überholt ist. Die zunächst geltende Vermutung der rechtskonformen Anwendung kann also in Einzelfällen von den Gerichten auch widerlegt werden.
Muss Arbeitgeber Rechtskonformität eigener Lösungen beweisen?
Weicht der Arbeitgeber hingegen von den allgemein anerkannten technischen Regeln oder Richtlinien nach CEN, ISO, VDI etc. ab, weil nach seiner Ansicht die gleiche Sicherheit beziehungsweise der gleiche Schutz seiner Arbeitnehmer auf andere Weise gewährleistet werden kann, so ist damit keine Vermutungswirkung zu seinen Gunsten verbunden. Er hat vielmehr der Behörde auf deren Verlangen – und ebenso in einem späteren gerichtlichen Verfahren – darzulegen, warum das gesetzliche geforderte Schutzniveau auch durch die von ihm gewählten technischen Arbeitsschutzmaßnahmen erreicht wurde. Der Arbeitgeber muss also fundiert begründen, warum er seine Maßnahmen für gleichwertig hält und hierzu in der Regel die entsprechende Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung vorlegen. Sodann muss die Aufsichtsbehörde ermitteln, ob der vorgeschriebene Stand tatsächlich erreicht worden ist. Erst wenn die Frage der Gleichwertigkeit nicht eindeutig zu klären ist, kommt die materielle Beweislast zum Tragen, also die Frage, zu wessen Lasten verbleibende Zweifel gehen.
Für eine Beweislast des Arbeitgebers spricht zunächst der Grundsatz, dass derjenige, der sich auf eine Ausnahme beruft, diese auch vor Gericht beweisen muss. Andererseits ergibt sich aus der rechtlichen Einordnung von CEN, ISO, VDI etc. als private technische Regelwerke, dass Alternativen hierzu eben keine Ausnahmen von einer gesetzlichen Regelung darstellen, sondern rechtlich als gleichwertige Optionen angesehen werden können. Damit läge die Beweislast bei der Arbeitsschutzbehörde, denn diese trägt grundsätzlich die Beweislast für die Richtigkeit eines belastenden Verwaltungsaktes, mit dem sie etwa gegenüber einem Arbeitgeber bestimmte Maßnahmen (nach CEN, ISO, VDI etc.) zur Einhaltung des Arbeitsschutzes anordnet. Beide Ansätze werden in der juristischen Praxis derzeit vertreten, so dass die Frage der Beweislastverteilung rechtlich noch nicht abschließend geklärt ist. Letztlich wird es wie so häufig auf die rechtliche Würdigung des konkreten Einzelfalls ankommen.
Fazit
Allgemein anerkannte technische Regeln wie CEN- oder ISO-Normen und VDE- oder VDI-Richtlinien etc. stammen von privaten Institutionen und stellen somit keine verbindlichen Rechtsnormen dar. Der Gesetzgeber verlangt rechtsverbindlich im Arbeitsschutz die Einhaltung abstrakter Schutzziele wie zum Beispiel den aktuellen Stand der Technik, die Arbeitsmedizin und Hygiene sowie die sonstigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse.
Wendet der Arbeitgeber die anerkannten technischen Regeln und Richtlinien nach CEN, VDI etc. an, wird grundsätzlich vermutet, dass er die bestmöglichen Arbeitsschutzmaßnahmen anwendet. Der Arbeitgeber kann aber auch von den technischen Regeln und Richtlinien abweichen, wenn er sicherstellt, dass der bestmögliche erforderliche Arbeitsschutz durch die von ihm gewählten Maßnahmen gleichermaßen gewährleistet ist.