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Haftungsrisiko Altanlagen

Betreiberverantwortung: Bestandsschutz oder Nachrüst- oder Stilllegungspflicht?
Haftungsrisiko Altanlagen

Haftungsrisiko Altanlagen
Foto: © Marcus Retkowietz – stock.adobe.com
Arbeitss­chutzbe­hör­den oder Unfal­lver­sicherungsträger fordern die Nachrüs­tung von alten Maschi­nen, die nicht mehr dem aktuellen Stand der Tech­nik entsprechen, und dro­hen die Stil­l­le­gung an. Aber auch aus Haf­tungs­grün­den sollte über die Frage des „Bestandss­chutzes“ sorgfältig nachgedacht wer­den. Ein Überblick zum Entschei­dungsrah­men und zu möglichen Unfall­fol­gen und Haf­tungsrisiken für Führungskräfte.

Hin­ter­grund der Nachrüst­forderun­gen oder Stil­l­le­gungsanord­nun­gen sind sehr all­ge­mein for­mulierte Anforderun­gen aus der Betrieb­ssicher­heitsverord­nung [1].

  • § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 Betr­SichV: „Arbeitsmit­tel dür­fen erst ver­wen­det wer­den, nach­dem der Arbeit­ge­ber die dabei ermit­tel­ten Schutz­maß­nah­men nach dem Stand der Tech­nik getrof­fen hat und fest­gestellt hat, dass die Ver­wen­dung der Arbeitsmit­tel nach dem Stand der Tech­nik sich­er ist“.
  • § 5 Abs. 1 Betr­SichV: „Der Arbeit­ge­ber darf nur solche Arbeitsmit­tel zur Ver­fü­gung stellen und ver­wen­den lassen, die unter Berück­sich­ti­gung der vorge­se­henen Ein­satzbe­din­gun­gen bei der Ver­wen­dung sich­er sind“.

Die entschei­den­den Fra­gen sind:

  • Kann ich weit­er­be­treiben (und „genieße“ ich insoweit Bestandss­chutz) oder
  • muss nachgerüstet oder sog­ar neu angeschafft werden?
  • Muss in der Zwis­chen­zeit sill­gelegt werden?
  • Damit zusam­men­hän­gend: Was sind die (per­sön­lichen) Haftungsrisiken?

Was ist „sicher“?

Das Arbeitss­chutzrecht fordert unstre­it­ig keine abso­lut sicheren, son­dern nur aus­re­ichend sichere Arbeitsmit­tel. Was – ger­ade bei älteren Arbeitsmit­teln – „aus­re­ichend“ sich­er ist, ist – leicht erkennbar – ein­er der schwierig­sten Wer­tungsentschei­dun­gen. Die Antwort ist dem Gesetz nicht zu ent­nehmen. Das Gesetz hil­ft nur mit einem Entschei­dungsrah­men – eben § 4 und § 5 Betr­SichV jew­eils Absatz 1.

Bei zahlre­ichen Arbeit­sun­fällen ist ins­beson­dere die Frage entschei­dend, ob es zusät­zliche (tech­nis­che) Schutzein­rich­tun­gen hätte geben müssen. Aber auch der häu­fig konkret ein­schlägige § 9 Abs. 1 Nr. 8 Betr­SichV steckt nur den Rah­men ab: „Der Arbeit­ge­ber hat dafür zu sor­gen, dass Arbeitsmit­tel unter Berück­sich­ti­gung der zu erwartenden Betrieb­s­be­din­gun­gen so ver­wen­det wer­den, dass Beschäftigte gegen vorherse­hbare Gefährdun­gen aus­re­ichend geschützt sind.

Ins­beson­dere müssen … 8. Schutz­maß­nah­men gegen Gefährdun­gen durch bewegliche Teile von Arbeitsmit­teln und gegen Block­aden solch­er Teile getrof­fen wer­den; hierzu gehören auch Maß­nah­men, die den unbe­ab­sichtigten Zugang zum Gefahren­bere­ich von beweglichen Teilen von Arbeitsmit­teln ver­hin­dern oder die bewegliche Teile vor dem Erre­ichen des Gefahren­bere­ichs stillsetzen“.

Die Betr­SichV enthält nur zwei Leit­planken für die Abwä­gung und Wertung:

Erstens § 5 Abs. 1 Nr. 2 Betr­SichV und den Stand der Tech­nik: „Arbeitsmit­tel dür­fen erst ver­wen­det wer­den, nach­dem der Arbeit­ge­ber die dabei ermit­tel­ten Schutz­maß­nah­men nach dem Stand der Tech­nik getrof­fen hat“. Es wird immer behauptet, die Betr­SichV kenne keinen Bestandss­chutz. Das ist richtig, wenn man damit meint, dass die Betr­SichV nicht aus­drück­lich Bestandss­chutz regelt.

Falsch ist es, wenn man damit sug­gerieren will, dass die Betr­SichV den Weit­er­be­trieb alter Anla­gen ver­bi­etet, die heute kon­struk­tiv nicht mehr dem Stand der Tech­nik entsprechen und so heute nicht mehr kon­stru­iert und neu in Betrieb genom­men wer­den dürften. Denn ander­srum schreibt die Betr­SichV auch nicht aus­drück­lich eine Nachrüs­tung vor.

Richtig fasst der Verord­nungs­ge­ber in der Begrün­dung der Betr­SichV zusam­men: „Die Schutzziele der Verord­nung sind zwar in jedem Fall einzuhal­ten und die Ver­wen­dung der Arbeitsmit­tel muss sich­er sein. Dies kann jedoch etwa bei älteren Arbeitsmit­teln auch durch ergänzende Maß­nah­men sichergestellt wer­den, so dass ältere Arbeitsmit­tel nicht aus­geson­dert wer­den müssen“ [2]. So kann „auch durch ergänzende Schutz­maß­nah­men“ let­ztlich „Bestandss­chutz gewährleis­tet wer­den“ [3].

Zweite Richtschnur ist § 4 Abs. 2
Betr­SichV und das TOP-Prinzip, das den offe­nen Rah­men ein­schränkt durch einen Vor­rang tech­nis­ch­er Maß­nah­men: „Ergibt sich aus der Gefährdungs­beurteilung, dass Gefährdun­gen durch tech­nis­che Schutz­maß­nah­men nach dem Stand der Tech­nik nicht oder nur unzure­ichend ver­mieden wer­den kön­nen, hat der Arbeit­ge­ber geeignete organ­isatorische und per­so­n­en­be­zo­gene Schutz­maß­nah­men zu treffen.

Tech­nis­che Schutz­maß­nah­men haben Vor­rang vor organ­isatorischen, diese haben wiederum Vor­rang vor per­so­n­en­be­zo­ge­nen Schutz­maß­nah­men. Die Ver­wen­dung per­sön­lich­er Schutzaus­rüs­tung ist für jeden Beschäftigten auf das erforder­liche Min­i­mum zu beschränken“.

Aber auch hier Vor­sicht: Der TOP-Grund­satz ist nicht abso­lut zu ver­ste­hen, son­dern ein Abwä­gung­sprinzip. Müsste jede denkbare tech­nis­che Schutz­maß­nahme ergrif­f­en wer­den, müsste man wohl 75 Prozent von Deutsch­land stil­l­le­gen. Das OLG Frank­furt hat ein­mal bestätigt, der Grund­satz „Kon­struk­tion vor Instruk­tion“ gilt nicht strikt [4]. § 4 Abs. 2 Betr­SichV geht aus­drück­lich von der Möglichkeit „unzure­ichen­der Gefahrver­mei­dung“ aus.

Die Wer­tungsentschei­dung erfordert eine ser­iöse Abwä­gung der ver­schiede­nen Inter­essen – der Beschäftigten auf der einen Seite und des Arbeit­ge­bers auf der anderen Seite [5]. Es ist leicht erkennbar, dass die Sicher­heit der an den Maschi­nen täti­gen Beschäftigten mit sehr großem Gewicht in die Wer­tungsentschei­dung einge­hen muss – und zumin­d­est dazu drängt, sehr ser­iös über Nachrüs­tung oder gar Neuan­schaf­fung und der Zwis­chen­zeit über Stil­l­le­gung nachzu­denken und dabei auch aktuelles tech­nis­ches Regel­w­erk her­anzuziehen [6].

Auf Seit­en des Arbeit­ge­bers kann es gewichtige Argu­mente gegen eine Nachrüs­tung geben – etwa

  • dass schon die Entschei­dung für eine Nachrüs­tung oder gar eine Neuan­schaf­fung getrof­fen ist (je kürz­er der Zeitraum der voraus­sichtlichen Verbesserung der Sicher­heit ist, desto gewichtiger ist dieser Gesichtspunkt);
  • dass die Pla­nung und Umset­zung der Investi­tion­sentschei­dung und die Beauf­tra­gung von Her­stellern Zeit kostet und Liefer­schwierigkeit­en beste­hen kön­nen (die in der heuti­gen Zeit – auch wegen des Bauteile- und Fachkräfte­man­gels – ver­mehrt auftreten);
  • dass die Investi­tion sehr teuer ist (denn auch die Wirtschaftlichkeit spielt – wenn auch nur zurück­hal­tend und nicht unser­iös im Sinne von „ist mir zu teuer“ – eine Rolle; so sagt der BGH für den Pro­duk­thaf­tung: „Maßge­blich für die Zumut­barkeit sind darüber hin­aus die wirtschaftlichen Auswirkun­gen der Sicherungs­maß­nahme“ – die „Kosten-Nutzen-Rela­tion“) [7];
  • dass in der Zwis­chen­zeit der Ein­satz eingeschränkt wird (was zwar zunächst nur fak­tisch bewirkt, dass das Unfall­risiko sinkt, nicht aber einen unmit­tel­baren Ein­fluss auf die Bew­er­tung der Sicher­heit der noch stat­tfind­en­den Arbeit­en an der Mas­chine hat, weil das Risiko der konkret an der Mas­chine täti­gen Beschäftigten ja gle­ich bleibt – in der Gesamtab­wä­gung kann und muss aber diese Reduk­tion von Ein­satzzeit­en eine Rolle spielen);
  • dass organ­isatorische und per­son­elle Schutz­maß­nah­men getrof­fen wer­den, die das Sicher­heit­sniveau erhöhen (§ 4 Abs. 2 Betr­SichV redet zwar von einem „Vor­rang“ tech­nis­ch­er Schutz­maß­nah­men, meint damit aber keinen absoluten Vor­rang jed­er nur denkbaren tech­nis­chen Sicher­heit, son­dern ein größeres Gewicht in der Abwägung);
  • dass ins­beson­dere den an den Maschi­nen Beschäftigten – durch Betrieb­san­weisun­gen und Unter­weisun­gen – klar ver­mit­telt und angewiesen wird, was sie warum und wann zu tun und zu lassen haben (Anhang I Nr. 1.1.2 b Spiegel­strich der europäis­chen Maschi­nen­richtlin­ie 2006/42/EG lässt die „Unter­rich­tung der Benutzer über die Restrisiken auf­grund der nicht voll­ständi­gen Wirk­samkeit der getrof­fe­nen Schutz­maß­nah­men“ [8] – was freilich zunächst voraus­set­zt, dass die erwäh­n­ten Restrisiken nach dem TOP-Grund­satz akzept­abel sind);
  • dass nur beson­ders gut qual­i­fiziertes Fach­per­son­al an den Maschi­nen einge­set­zt wird, bei dem sich­er ist, dass sie sich an die Anweisun­gen hal­ten (und nicht etwa Lei­har­beit­nehmer, die vielle­icht auch noch wegen nicht aus­re­ichen­der deutsch­er Sprachken­nt­nisse die Anweisun­gen nicht wirk­lich ver­standen haben).

Ins­beson­dere fol­gende sechs­Gesicht­spunk­te sprechen für zusät­zliche Sicher­heits­maß­nah­men – und sind schw­ergewichtige Argu­mente für Nachrüs­tung der Anlage oder Auf­gabe der Nutzung:

1. Leben und Gesund­heit und das Verbesserungs­ge­bot drän­gen zu mehr

„Bei der Frage, was die Schutz- und Rück­sicht­nah­mepflicht im Einzelfall gebi­etet, ist ins­beson­dere auf die von den Grun­drecht­en zum Aus­druck gebrachte Wer­te­ord­nung der Ver­fas­sung Rück­sicht zu nehmen.“ [9] Das Grundge­setz betont die zen­trale Bedeu­tung des Schutzes von Leben und Gesund­heit (Art. 2 Abs. 2 GG). Der Arbeit­ge­ber hat auch „eine Verbesserung von Sicher­heit und Gesund­heitss­chutz der Beschäftigten anzus­treben“ (§ 3 Abs. 1 Satz 3 Arb­SchG). Das OLG Saar­brück­en sagt, „dem Schutz von Leben und Gesund­heit kommt höch­ste Pri­or­ität zu und der Sicherungspflichtige muss die ihm zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­tel deshalb zunächst hier­für ver­wen­den, bevor er ander­weit­ige Aus­gaben tätigt“ [10].

2. Es kann immer mehr getan werden

„Unter­lassen als bloßes Nicht­stun ist unendlich.“ [11] Daher ist die Ver­ant­wor­tung für die Nichter­grei­fung von Arbeitss­chutz- und Sicher­heits­maß­nah­men und die Recht­fer­ti­gung, nicht weit­ere Schutz­maß­nah­men umge­set­zt zu haben, so drama­tisch. Es ist eben immer mehr mach­bar! Exakt so sagt es der Sachver­ständi­ge in Fall zur Explo­sion auf dem BASF-Gelände: Einen „Tem­per­atur­füh­ler erforderte der dama­lige Stand der Tech­nik nicht“, aber er schränk­te ein, dass „man immer mehr machen kann“. Und dieses „Mehr“ kön­nte – etwa nach einem Unfall – auch gefordert wer­den, denn:

3. Was mehr getan wer­den kann, ist häu­fig simpel

Es ist häu­fig sehr ein­fach, zusät­zliche Sicher­heit zu schaf­fen. Die konkrete Arbeitss­chutz­maß­nahme oder Sicher­heit­sein­rich­tung, die den Unfall ver­hin­dert hätte, bedeutet häu­fig einen sehr gerin­gen Aufwand. Das OLG Saar­brück­en sagte ein­mal, der Sicherungspflichtige „hätte nur das Gelän­der zusät­zlich an den Seit­en ver­ankern müssen oder die Gelän­derp­fos­ten und die Bodeneinspan­nung verzinken und vor Kor­ro­sion sich­ern oder auf das Kies­bett verzicht­en, um so eine geeignete regelmäßige Kon­trolle und ein sofor­tiges Ent­deck­en jed­er Kor­ro­sion zu ermöglichen“ [12].

4. Was mehr getan wer­den kann, ist häu­fig billig

Es ist häu­fig sehr bil­lig, zusät­zliche Sicher­heit zu schaf­fen. Es „kommt auch der finanziellen Belast­barkeit bei Abwä­gung der Zumut­barkeit eine gewisse, wenn auch unter­ge­ord­nete Bedeu­tung zu“ [13]. Außer­dem sind „Kosten ein­er möglichen Katas­tro­phe unkalkulier­bar“ [14].

5. Nach einem Unfall wer­den die Schutz­maß­nah­men schnell umgesetzt

Es ist häu­fig sehr schnell möglich, zusät­zliche Sicher­heit zu schaf­fen. Das Landgericht Rot­tweil sagte ein­mal, „dass sich der Aufwand in Anbe­tra­cht der erhe­blichen Gefahren in dur­chaus ver­hält­nis­mäßigem Umfang hielt, zeigt nicht zulet­zt der Umstand, dass der Schutzmech­a­nis­mus der Drehmas­chine nicht ein­mal zwei Monate nach dem Unfall instand geset­zt war“ [15]. Das OLG Düs­sel­dorf betonte, „dass eine Anwend­barkeit der stren­gen Kri­te­rien für ihr Unternehmen wirtschaftlich nicht zu verkraften sei, hat die Betreiberin nicht ansatzweise dar­ge­tan, vielmehr hat sie nach dem Unfall auf jed­er Seite der Mas­chine bewegliche Schutzgit­ter ange­bracht“ [16].

6. Es ist immer auch eine Stil­l­le­gung / Sper­rung / Stopp zu bedenken

Das Landgericht Chem­nitz warf nach einem Bade­un­fall der Stadt als Betreiberin des Schwimm­bads vor, sie „hätte, wenn ihr eine Anpas­sung an die gel­tenden Nor­men inner­halb des eingeräumten Über­gangszeitraumes nicht möglich war, den Sprung­turm schließen müssen“ [17]. Das OLG Dres­den gewährte in 2. Instanz zwar Bestand­schutz und ließ die Stadt nicht haften – macht aber den schlimm­sten Fehler: Es sagt nichts mehr hierzu.

Mehr als diese Eck­punk­te des Entschei­dungsrah­mens aufzeigen, ist juris­tisch nicht möglich. Es muss eine unternehmerische Entschei­dung getrof­fen wer­den. „Bestandss­chutz“ ist kein Rechtsin­sti­tut, das in sich schon die Antwort bere­i­thält, son­dern das vom Ver­ant­wortlichen [18] ver­langt, die Frage des sicheren (Weiter-)Betriebs mit Hil­fe des soeben geschilderten Recht­srah­mens zu beant­worten – bzw. vielmehr: obwohl der Gesetz- und Verord­nungs­ge­ber weit­ere rechtliche Einzel­heit­en schuldig bleibt und die Betreiber „im Stich lässt“.

Bestandss­chutz ist daher das Ergeb­nis ein­er – schwieri­gen – Inter­essen­ab­wä­gung und – ser­iösen – Wer­tungsentschei­dung. Welche Inter­essen sprechen für was?

  • Eigen­tums- und Ver­trauenss­chutz (und Rechtssicher­heit) sprechen für die frühere Recht­slage als Bewertungsmaßstab.
  • Sicher­heits- und Gesund­heitss­chutz­in­ter­essen (und Gerechtigkeit) sprechen für die Mes­sung der Anlage an den heuti­gen – ver­schärften – geset­zlichen Anforderungen.

Alle hier gegen eine Nachrüs­tung und Stil­l­le­gung ins Feld geführten Argu­mente sind allein eher schwach – zusam­mengenom­men kön­nten sie aber Gewicht erhal­ten. Aber es sei noch ein­mal betont, dass Sicher­heit und Gesund­heitss­chutz – ver­ständlicher­weise – einen sehr hohen Stel­len­wert in der Abwä­gung haben sollte und müsste. Vor diesem Hin­ter­grund betont das Ver­wal­tungs­gericht Regens­burg eine „im Kern beste­hende Pflicht zur Nachrüs­tung“ [19].

Ander­er­seits kon­terte das Oberver­wal­tungs­gericht Lüneb­urg den Ver­weis auf „das hohe Gut der men­schlichen Gesund­heit“ im Rah­men der Ver­hält­nis­mäßigkeit­sprü­fung ein­mal mit dem Argu­ment, dass er „für sich genom­men nicht trägt“: Denn „dieses Gut kann wegen der Unsicher­heit­en in Bezug auf die Gefahren nicht mit seinem gesamten Gewicht in die anzustel­lende Prü­fung der Ver­hält­nis­mäßigkeit zwis­chen Aufwand und Nutzen eingestellt wer­den“ [20].

Ins­beson­dere wenn zuvor schon (Arbeits-)Unfälle geschehen sind, wer­den diese Per­so­n­en­schä­den in Haf­tungsver­fahren als „Anlässe“ für Fahrläs­sigkeitsvor­würfe genommen.

Was kann passieren?

Die Frage, was rechtlich bei aus­bleiben­der Nachrüst- oder Stil­l­le­gungsentschei­dung passieren kann, führt zu den drei großen Rechts­ge­bi­eten: erstens Ver­wal­tungsrecht und Präven­tion, zweit­ens Strafrecht und Sank­tion und drit­tens Zivil­recht und Schadensersatzansprüche:

1. Nachrüst­forderung der Gewer­beauf­sicht­sämter oder der Unfallversicherungsträger

Zur (präven­tiv­en und öffentlichen-rechtlichen) Umset­zung des Arbeitss­chutzrechts bzw. der Betr­SichV ist eine Anord­nung entwed­er des staatlichen Gewer­beauf­sicht­samts oder der Beruf­sgenossen­schaft möglich. Es beste­hen unter­schiedliche Rechts­grund­la­gen für die Ver­fü­gung – § 22 Abs. 3 Arb­SchG für die Behörde und § 18 SGB VII für die Berufsgenossenschaft.

Entschei­dend ist, dass jede staatliche oder beruf­sgenossen­schaftliche Anord­nung ver­hält­nis­mäßig, ins­beson­dere angemessen sein muss. Hier­durch wird der zuvor geschilderte – schwierige und unsichere – Entschei­dungsrah­men der Arbeit­ge­ber bzw. Unternehmen auf die behördlichen Über­legun­gen übertragen.

Auch eine behördliche Nachrüs­tungs- oder Stil­l­le­gungsentschei­dung ist also eine äußerst schwierige Abwä­gungs- und Wer­tungsentschei­dung. Die Anforderun­gen ins­beson­dere an Stil­l­le­gungsver­fü­gun­gen sind hoch – wobei aber natür­lich der sehr gewichtige Beschäftigten­schutz ein maßge­blich­es Kri­teri­um ist, aber eben auch die geschilderten Arbeit­ge­ber­in­ter­essen und ‑maß­nah­men „gebührend“ berück­sichtigt wer­den müssen.

Ein per­sön­lich­es Haf­tungsrisiko für Führungskräfte gibt es in diesem präven­tiv­en Rechts­bere­ich nicht. § 13 Arb­SchG und § 13 DGUV Vorschrift 1 ermöglichen zwar Anord­nun­gen an Geschäfts­führer, Betrieb­sleit­er und weit­ere Führungskräfte mit schriftlich­er Pflich­t­en­del­e­ga­tion [21]. Erstens aber kommt das in der Prax­is kaum vor. Zweit­ens bedeutet das nicht, dass die so in Anspruch genomme­nen Unternehmensmi­tar­beit­er per­sön­lich etwas aus eigen­er Tasche zahlen müssten.

2. Strafrecht und Fahrlässigkeitssanktionen

Während das Präven­tion­srecht nur eine Gefährdung erfordert, aber nicht voraus­set­zt, dass ein Arbeit­sun­fall geschehen ist, kommt das Strafrecht grund­sät­zlich (mit nicht wirk­lich prax­is­rel­e­van­ten Aus­nah­men) erst zur Anwen­dung, wenn ein Beschäftigter ver­let­zt ist. In Betra­cht kom­men Strafver­fahren wegen fahrläs­siger Kör­per­ver­let­zung oder Tötung [22].

Gegen wen nach Arbeit­sun­fällen an Altan­la­gen konkret Ermit­tlungsver­fahren ein­geleit­et wer­den, fol­gt keinen klar erkennbaren Rechts­grund­sätzen – in Betra­cht kommt jede Führungskraft vom Geschäfts­führer über Bere­ich­sleit­er (Betreiberver­ant­wor­tung für Tech­nik) bis hin zum unmit­tel­baren Vorge­set­zten (Per­son­alver­ant­wor­tung bei Tätigkeit­en) [23].

Die Voraus­set­zun­gen für eine Straf­barkeit sind eine Pflichtver­let­zung (etwa durch Ver­stoß gegen Vor­gaben der Betr­SichV) und Ver­schulden in Form der Fahrläs­sigkeit (durch „Unsorgfältigkeit“ wegen „Erkennbarkeit“ und „Ver­mei­d­barkeit“ des Unfalls).

Auch bei dieser Entschei­dung über die Fahrläs­sigkeit bzw. aus­re­ichende Sorgfalt spie­len die oben her­aus­gear­beit­eten Grund­sätze eine wesentliche Rolle – aber auch Zweck­mäßigkeit­ser­wä­gun­gen, die dazu führen kön­nen, dass trotz fahrläs­siger Pflichtver­let­zung ein strafrechtlich­es Ermit­tlungsver­fahren (gegen Zahlung ein­er Gel­dau­flage, aber auch ohne eine solche Auflage) eingestellt werden.

Ander­sherum kann die Wieder­hol­ung von (Arbeits-)Unfällen dazu führen, dass eine Staat­san­waltschaft bei ihren Ermit­tlun­gen etwas strenger ist. Es kann auch strafer­höhend sein, wenn erneut ein ver­gle­ich­bar­er Arbeit­sun­fall geschieht.

3. Zivil­rechtliche Schadenser­satzansprüche bzw. Regress der Unfallversicherungsträger

Nach einem Arbeit­sun­fall an ein­er nicht nachgerüsteten oder erneuerten und weit­er­be­triebe­nen Mas­chine sind Schmerzens­gel­dansprüche des geschädigten Beschäftigten gegen den Arbeit­ge­ber und Führungskräfte und Kol­le­gen wegen des Haf­tung­spriv­i­legs gemäß §§ 104 ff. SGB VII auf Vor­satz beschränkt – und Vor­satz wird bei Arbeitss­chutz nicht vorkommen.

Die Unfal­lver­sicherungsträger leis­ten nach einem Arbeit­sun­fall Sozialver­sicherungsaufwen­dun­gen an den Geschädigten und kön­nen diese von haf­tung­spriv­i­legierten Per­so­n­en (auch Führungskräften) bei grober Fahrläs­sigkeit erset­zt ver­lan­gen – man nen­nt das Regress. Grobe Fahrläs­sigkeit ist eine erhöhte Fahrläs­sigkeit – die Recht­sprechung fordert „eine objek­tiv schwere Pflichtver­let­zung, die auch sub­jek­tiv unentschuld­bar ist“. Es ist leicht erkennbar, dass es wieder um eine schwierige Wer­tungs­frage geht.

Das Unternehmen und die Führungskräfte kön­nen sich gegen diese Regressverpflich­tun­gen durch eine Betrieb­shaftpflichtver­sicherung absich­ern [24]. Aber Vor­sicht: Die Ver­sicherungs­be­din­gun­gen kön­nen – was den Ein­bezug der Führungskräfte ange­ht – unter­schiedlich sein. Wenn kein Schutz durch eine Betrieb­shaftver­sicherung beste­ht, ist die Regress-Schuld der Führungskräfte eine per­sön­liche Haftpflicht, die – beispiel­sweise bei Ver­ren­tun­gen – sehr hoch und lan­gan­dauernd sein kann.

Vor­sicht: Externe Berater – etwa befähigte Per­so­n­en oder Fachkräfte für Arbeitssicher­heit – genießen das Haf­tung­spriv­i­leg nicht, so dass sie vom Geschädigten oder per Regressklage von Unfal­lver­sicherungsträgern auch bei ein­fach­er Fahrläs­sigkeit in Anspruch genom­men wer­den kön­nen. Das kann ein hohes Haf­tungsrisiko bedeuten, denn genau deshalb sind Externe ein beliebtes Angriff­sziel – Fall­beispiele zu dieser Kon­stel­la­tion find­en sich im Buch „Ver­ant­wor­tung und Haf­tung der Sicherheitsingenieure“.

Lit­er­aturhin­weise:

  1. Aus­führlich Wilrich, Prax­isleit­faden Betr­SichV, 3. Aufl. 2023.
  2. BR-Drs. 400/14 v. 28.08.2014, S. 73.
  3. BR-Drs. 400/14 v. 28.08.2014, S. 81.
  4. OLG Frank­furt, Urteil vom 21.05.2015 (Az. 6 U 64/14) – Garagentor.
  5. Aus­führlich zu den hier ein­schlägi­gen Kri­te­rien mit Besprechung von 30 Gericht­surteilen Wilrich, Bestandss­chutz oder Nachrüstpflicht? Betreiberver­ant­wor­tung und Sicher­heit bei Altan­la­gen, 2. Aufl. 2019.
  6. Aus­führlich Wilrich, Die rechtliche Bedeu­tung tech­nis­ch­er Nor­men als Sicher­heits­maßstab – mit 33 Gericht­surteilen zu anerkan­nten Regeln und Stand der Tech­nik, Pro­duk­t­sicher­heit­srecht und Verkehrssicherungspflicht­en, 2017.
  7. BGH, Urteil v. 16.06.2009 (Az. VI ZR 107/08) – Airbag.
  8. Siehe auch Wilrich, Pro­duk­t­sicher­heit­srecht und CE-Kon­for­mität – Hersteller‑, Impor­teur- und Händler-Pflicht­en für Tech­nik- und Ver­braucher­pro­duk­te bei Risikobeurteilung, Kon­struk­tion, Warn­hin­weisen und Ver­trieb, 2021.
  9. BAG, Urteil vom 16.11.2010 (Az. 9 AZR 573/09).
  10. Fall „Gelän­der in der Schule“, in: Wilrich, Bestandss­chutz oder Nachrüstpflicht (Fußn. 5).
  11. Teich­mann, in: Jauernig, BGB, 15. Aufl. 2014, §823 Rn. 29.
  12. Fall „Gelän­der in der Schule“, in: Wilrich, Bestandss­chutz oder Nachrüstpflicht (Fußn. 5).
  13. Fall „Eishock­ey-Puck und Sicherung der Längs­seit­en im Sta­dion“, in: Wilrich, Bestandss­chutz oder Nachrüstpflicht (Fußnote 5).
  14. Mankiv/Taylor/Ashwin, Volk­swirtschaft­slehre für Schule, Studi­um und Beruf, 2.2 Unternehmerische Entschei­dun­gen, S. 23.
  15. Fall „Drehmas­chine“, in: Wilrich, Sicher­heit­stech­nik und Maschi­ne­nun­fälle vor Gericht – 40 Urteil­s­analy­sen zu Pro­duk­t­sicher­heit, Her­steller- und Kon­struk­tion­spflicht­en, Arbeitss­chutz, Betreiber- und Organ­i­sa­tion­spflicht­en, 2022.
  16. Fall „Rol­len­schnei­de­mas­chine“, in: Wilrich, Sicher­heit­stech­nik und Maschi­ne­nun­fälle vor Gericht (Fußnote 15).
  17. Fall „Sprung­turm im Freibad“, in: Wilrich, Bestandss­chutz oder Nachrüstpflicht (Fußn. 5).
  18. Wer das ist, wird gek­lärt in Wilrich, Tech­nik-Ver­ant­wor­tung – Sicher­heit­spflicht­en der Inge­nieure, Meis­ter und Fachkräfte und Organ­i­sa­tion und Auf­sicht durch Man­age­ment und Führungskräfte, 2022.
  19. Fallbe­sprechung in: Wilrich, Bestandss­chutz oder Nachrüstpflicht? (Fußnote 5), Fall 2, S. 111 ff.
  20. OVG Lüneb­urg, Beschluss v. 13.03.2012 (Az. 12 ME 270/11) – zu von Bioaerosolen aus­ge­hen­den Gefahren.
  21. Aus­führlich Wilrich, Pflich­t­en­del­e­ga­tion im Arbeitss­chutz – Betrieb­sorgan­i­sa­tion und Per­sonal­man­age­ment durch Über­tra­gung von Unternehmerpflicht­en auf Führungskräfte, erscheint 2023.
  22. Aus­führlich Wilrich, Arbeitss­chutz-Strafrecht – Haf­tung für fahrläs­sige Arbeit­sun­fälle: Sicher­heitsver­ant­wor­tung, Sorgfalt­spflicht­en und Schuld – mit 33 Gericht­surteilen, 2020.
  23. Aus­führlich Wilrich, Tech­nik-Ver­ant­wor­tung – Sicher­heit­spflicht­en der Inge­nieure, Meis­ter und Fachkräfte und Organ­i­sa­tion und Auf­sicht durch Man­age­ment und Führungskräfte, 2022
  24. Hierzu aus Sicht der Fachkräfte für Arbeitssicher­heit Wilrich, Ver­ant­wor­tung und Haf­tung der Sicher­heitsin­ge­nieure – Unterstützungs‑, Beratungs‑, Berichts‑, Prüfungs‑, Warn- und Sorgfalt­spflicht­en der Fachkräfte für Arbeitssicher­heit als Stab­sstelle und Unternehmerpflicht­en in der Lin­ie – mit 15 Gericht­surteilen und Strafver­fahren zu Fahrläs­sigkeit und Schuld nach Arbeit­sun­fällen, 2021, Kapi­tel 12, S. 273 ff.

Autor: Recht­san­walt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München
Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen
www.rechtsanwalt-wilrich.de
 
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