Hintergrund der Nachrüstforderungen oder Stilllegungsanordnungen sind sehr allgemein formulierte Anforderungen aus der Betriebssicherheitsverordnung [1].
- § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrSichV: „Arbeitsmittel dürfen erst verwendet werden, nachdem der Arbeitgeber die dabei ermittelten Schutzmaßnahmen nach dem Stand der Technik getroffen hat und festgestellt hat, dass die Verwendung der Arbeitsmittel nach dem Stand der Technik sicher ist“.
- § 5 Abs. 1 BetrSichV: „Der Arbeitgeber darf nur solche Arbeitsmittel zur Verfügung stellen und verwenden lassen, die unter Berücksichtigung der vorgesehenen Einsatzbedingungen bei der Verwendung sicher sind“.
Die entscheidenden Fragen sind:
- Kann ich weiterbetreiben (und „genieße“ ich insoweit Bestandsschutz) oder
- muss nachgerüstet oder sogar neu angeschafft werden?
- Muss in der Zwischenzeit sillgelegt werden?
- Damit zusammenhängend: Was sind die (persönlichen) Haftungsrisiken?
Was ist „sicher“?
Das Arbeitsschutzrecht fordert unstreitig keine absolut sicheren, sondern nur ausreichend sichere Arbeitsmittel. Was – gerade bei älteren Arbeitsmitteln – „ausreichend“ sicher ist, ist – leicht erkennbar – einer der schwierigsten Wertungsentscheidungen. Die Antwort ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Das Gesetz hilft nur mit einem Entscheidungsrahmen – eben § 4 und § 5 BetrSichV jeweils Absatz 1.
Bei zahlreichen Arbeitsunfällen ist insbesondere die Frage entscheidend, ob es zusätzliche (technische) Schutzeinrichtungen hätte geben müssen. Aber auch der häufig konkret einschlägige § 9 Abs. 1 Nr. 8 BetrSichV steckt nur den Rahmen ab: „Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass Arbeitsmittel unter Berücksichtigung der zu erwartenden Betriebsbedingungen so verwendet werden, dass Beschäftigte gegen vorhersehbare Gefährdungen ausreichend geschützt sind.
Insbesondere müssen … 8. Schutzmaßnahmen gegen Gefährdungen durch bewegliche Teile von Arbeitsmitteln und gegen Blockaden solcher Teile getroffen werden; hierzu gehören auch Maßnahmen, die den unbeabsichtigten Zugang zum Gefahrenbereich von beweglichen Teilen von Arbeitsmitteln verhindern oder die bewegliche Teile vor dem Erreichen des Gefahrenbereichs stillsetzen“.
Die BetrSichV enthält nur zwei Leitplanken für die Abwägung und Wertung:
Erstens § 5 Abs. 1 Nr. 2 BetrSichV und den Stand der Technik: „Arbeitsmittel dürfen erst verwendet werden, nachdem der Arbeitgeber die dabei ermittelten Schutzmaßnahmen nach dem Stand der Technik getroffen hat“. Es wird immer behauptet, die BetrSichV kenne keinen Bestandsschutz. Das ist richtig, wenn man damit meint, dass die BetrSichV nicht ausdrücklich Bestandsschutz regelt.
Falsch ist es, wenn man damit suggerieren will, dass die BetrSichV den Weiterbetrieb alter Anlagen verbietet, die heute konstruktiv nicht mehr dem Stand der Technik entsprechen und so heute nicht mehr konstruiert und neu in Betrieb genommen werden dürften. Denn andersrum schreibt die BetrSichV auch nicht ausdrücklich eine Nachrüstung vor.
Richtig fasst der Verordnungsgeber in der Begründung der BetrSichV zusammen: „Die Schutzziele der Verordnung sind zwar in jedem Fall einzuhalten und die Verwendung der Arbeitsmittel muss sicher sein. Dies kann jedoch etwa bei älteren Arbeitsmitteln auch durch ergänzende Maßnahmen sichergestellt werden, so dass ältere Arbeitsmittel nicht ausgesondert werden müssen“ [2]. So kann „auch durch ergänzende Schutzmaßnahmen“ letztlich „Bestandsschutz gewährleistet werden“ [3].
Zweite Richtschnur ist § 4 Abs. 2
BetrSichV und das TOP-Prinzip, das den offenen Rahmen einschränkt durch einen Vorrang technischer Maßnahmen: „Ergibt sich aus der Gefährdungsbeurteilung, dass Gefährdungen durch technische Schutzmaßnahmen nach dem Stand der Technik nicht oder nur unzureichend vermieden werden können, hat der Arbeitgeber geeignete organisatorische und personenbezogene Schutzmaßnahmen zu treffen.
Technische Schutzmaßnahmen haben Vorrang vor organisatorischen, diese haben wiederum Vorrang vor personenbezogenen Schutzmaßnahmen. Die Verwendung persönlicher Schutzausrüstung ist für jeden Beschäftigten auf das erforderliche Minimum zu beschränken“.
Aber auch hier Vorsicht: Der TOP-Grundsatz ist nicht absolut zu verstehen, sondern ein Abwägungsprinzip. Müsste jede denkbare technische Schutzmaßnahme ergriffen werden, müsste man wohl 75 Prozent von Deutschland stilllegen. Das OLG Frankfurt hat einmal bestätigt, der Grundsatz „Konstruktion vor Instruktion“ gilt nicht strikt [4]. § 4 Abs. 2 BetrSichV geht ausdrücklich von der Möglichkeit „unzureichender Gefahrvermeidung“ aus.
Die Wertungsentscheidung erfordert eine seriöse Abwägung der verschiedenen Interessen – der Beschäftigten auf der einen Seite und des Arbeitgebers auf der anderen Seite [5]. Es ist leicht erkennbar, dass die Sicherheit der an den Maschinen tätigen Beschäftigten mit sehr großem Gewicht in die Wertungsentscheidung eingehen muss – und zumindest dazu drängt, sehr seriös über Nachrüstung oder gar Neuanschaffung und der Zwischenzeit über Stilllegung nachzudenken und dabei auch aktuelles technisches Regelwerk heranzuziehen [6].
Auf Seiten des Arbeitgebers kann es gewichtige Argumente gegen eine Nachrüstung geben – etwa
- dass schon die Entscheidung für eine Nachrüstung oder gar eine Neuanschaffung getroffen ist (je kürzer der Zeitraum der voraussichtlichen Verbesserung der Sicherheit ist, desto gewichtiger ist dieser Gesichtspunkt);
- dass die Planung und Umsetzung der Investitionsentscheidung und die Beauftragung von Herstellern Zeit kostet und Lieferschwierigkeiten bestehen können (die in der heutigen Zeit – auch wegen des Bauteile- und Fachkräftemangels – vermehrt auftreten);
- dass die Investition sehr teuer ist (denn auch die Wirtschaftlichkeit spielt – wenn auch nur zurückhaltend und nicht unseriös im Sinne von „ist mir zu teuer“ – eine Rolle; so sagt der BGH für den Produkthaftung: „Maßgeblich für die Zumutbarkeit sind darüber hinaus die wirtschaftlichen Auswirkungen der Sicherungsmaßnahme“ – die „Kosten-Nutzen-Relation“) [7];
- dass in der Zwischenzeit der Einsatz eingeschränkt wird (was zwar zunächst nur faktisch bewirkt, dass das Unfallrisiko sinkt, nicht aber einen unmittelbaren Einfluss auf die Bewertung der Sicherheit der noch stattfindenden Arbeiten an der Maschine hat, weil das Risiko der konkret an der Maschine tätigen Beschäftigten ja gleich bleibt – in der Gesamtabwägung kann und muss aber diese Reduktion von Einsatzzeiten eine Rolle spielen);
- dass organisatorische und personelle Schutzmaßnahmen getroffen werden, die das Sicherheitsniveau erhöhen (§ 4 Abs. 2 BetrSichV redet zwar von einem „Vorrang“ technischer Schutzmaßnahmen, meint damit aber keinen absoluten Vorrang jeder nur denkbaren technischen Sicherheit, sondern ein größeres Gewicht in der Abwägung);
- dass insbesondere den an den Maschinen Beschäftigten – durch Betriebsanweisungen und Unterweisungen – klar vermittelt und angewiesen wird, was sie warum und wann zu tun und zu lassen haben (Anhang I Nr. 1.1.2 b Spiegelstrich der europäischen Maschinenrichtlinie 2006/42/EG lässt die „Unterrichtung der Benutzer über die Restrisiken aufgrund der nicht vollständigen Wirksamkeit der getroffenen Schutzmaßnahmen“ [8] – was freilich zunächst voraussetzt, dass die erwähnten Restrisiken nach dem TOP-Grundsatz akzeptabel sind);
- dass nur besonders gut qualifiziertes Fachpersonal an den Maschinen eingesetzt wird, bei dem sicher ist, dass sie sich an die Anweisungen halten (und nicht etwa Leiharbeitnehmer, die vielleicht auch noch wegen nicht ausreichender deutscher Sprachkenntnisse die Anweisungen nicht wirklich verstanden haben).
Insbesondere folgende sechsGesichtspunkte sprechen für zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen – und sind schwergewichtige Argumente für Nachrüstung der Anlage oder Aufgabe der Nutzung:
1. Leben und Gesundheit und das Verbesserungsgebot drängen zu mehr
„Bei der Frage, was die Schutz- und Rücksichtnahmepflicht im Einzelfall gebietet, ist insbesondere auf die von den Grundrechten zum Ausdruck gebrachte Werteordnung der Verfassung Rücksicht zu nehmen.“ [9] Das Grundgesetz betont die zentrale Bedeutung des Schutzes von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG). Der Arbeitgeber hat auch „eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben“ (§ 3 Abs. 1 Satz 3 ArbSchG). Das OLG Saarbrücken sagt, „dem Schutz von Leben und Gesundheit kommt höchste Priorität zu und der Sicherungspflichtige muss die ihm zur Verfügung stehenden Mittel deshalb zunächst hierfür verwenden, bevor er anderweitige Ausgaben tätigt“ [10].
2. Es kann immer mehr getan werden
„Unterlassen als bloßes Nichtstun ist unendlich.“ [11] Daher ist die Verantwortung für die Nichtergreifung von Arbeitsschutz- und Sicherheitsmaßnahmen und die Rechtfertigung, nicht weitere Schutzmaßnahmen umgesetzt zu haben, so dramatisch. Es ist eben immer mehr machbar! Exakt so sagt es der Sachverständige in Fall zur Explosion auf dem BASF-Gelände: Einen „Temperaturfühler erforderte der damalige Stand der Technik nicht“, aber er schränkte ein, dass „man immer mehr machen kann“. Und dieses „Mehr“ könnte – etwa nach einem Unfall – auch gefordert werden, denn:
3. Was mehr getan werden kann, ist häufig simpel
Es ist häufig sehr einfach, zusätzliche Sicherheit zu schaffen. Die konkrete Arbeitsschutzmaßnahme oder Sicherheitseinrichtung, die den Unfall verhindert hätte, bedeutet häufig einen sehr geringen Aufwand. Das OLG Saarbrücken sagte einmal, der Sicherungspflichtige „hätte nur das Geländer zusätzlich an den Seiten verankern müssen oder die Geländerpfosten und die Bodeneinspannung verzinken und vor Korrosion sichern oder auf das Kiesbett verzichten, um so eine geeignete regelmäßige Kontrolle und ein sofortiges Entdecken jeder Korrosion zu ermöglichen“ [12].
4. Was mehr getan werden kann, ist häufig billig
Es ist häufig sehr billig, zusätzliche Sicherheit zu schaffen. Es „kommt auch der finanziellen Belastbarkeit bei Abwägung der Zumutbarkeit eine gewisse, wenn auch untergeordnete Bedeutung zu“ [13]. Außerdem sind „Kosten einer möglichen Katastrophe unkalkulierbar“ [14].
5. Nach einem Unfall werden die Schutzmaßnahmen schnell umgesetzt
Es ist häufig sehr schnell möglich, zusätzliche Sicherheit zu schaffen. Das Landgericht Rottweil sagte einmal, „dass sich der Aufwand in Anbetracht der erheblichen Gefahren in durchaus verhältnismäßigem Umfang hielt, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass der Schutzmechanismus der Drehmaschine nicht einmal zwei Monate nach dem Unfall instand gesetzt war“ [15]. Das OLG Düsseldorf betonte, „dass eine Anwendbarkeit der strengen Kriterien für ihr Unternehmen wirtschaftlich nicht zu verkraften sei, hat die Betreiberin nicht ansatzweise dargetan, vielmehr hat sie nach dem Unfall auf jeder Seite der Maschine bewegliche Schutzgitter angebracht“ [16].
6. Es ist immer auch eine Stilllegung / Sperrung / Stopp zu bedenken
Das Landgericht Chemnitz warf nach einem Badeunfall der Stadt als Betreiberin des Schwimmbads vor, sie „hätte, wenn ihr eine Anpassung an die geltenden Normen innerhalb des eingeräumten Übergangszeitraumes nicht möglich war, den Sprungturm schließen müssen“ [17]. Das OLG Dresden gewährte in 2. Instanz zwar Bestandschutz und ließ die Stadt nicht haften – macht aber den schlimmsten Fehler: Es sagt nichts mehr hierzu.
Mehr als diese Eckpunkte des Entscheidungsrahmens aufzeigen, ist juristisch nicht möglich. Es muss eine unternehmerische Entscheidung getroffen werden. „Bestandsschutz“ ist kein Rechtsinstitut, das in sich schon die Antwort bereithält, sondern das vom Verantwortlichen [18] verlangt, die Frage des sicheren (Weiter-)Betriebs mit Hilfe des soeben geschilderten Rechtsrahmens zu beantworten – bzw. vielmehr: obwohl der Gesetz- und Verordnungsgeber weitere rechtliche Einzelheiten schuldig bleibt und die Betreiber „im Stich lässt“.
Bestandsschutz ist daher das Ergebnis einer – schwierigen – Interessenabwägung und – seriösen – Wertungsentscheidung. Welche Interessen sprechen für was?
- Eigentums- und Vertrauensschutz (und Rechtssicherheit) sprechen für die frühere Rechtslage als Bewertungsmaßstab.
- Sicherheits- und Gesundheitsschutzinteressen (und Gerechtigkeit) sprechen für die Messung der Anlage an den heutigen – verschärften – gesetzlichen Anforderungen.
Alle hier gegen eine Nachrüstung und Stilllegung ins Feld geführten Argumente sind allein eher schwach – zusammengenommen könnten sie aber Gewicht erhalten. Aber es sei noch einmal betont, dass Sicherheit und Gesundheitsschutz – verständlicherweise – einen sehr hohen Stellenwert in der Abwägung haben sollte und müsste. Vor diesem Hintergrund betont das Verwaltungsgericht Regensburg eine „im Kern bestehende Pflicht zur Nachrüstung“ [19].
Andererseits konterte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg den Verweis auf „das hohe Gut der menschlichen Gesundheit“ im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einmal mit dem Argument, dass er „für sich genommen nicht trägt“: Denn „dieses Gut kann wegen der Unsicherheiten in Bezug auf die Gefahren nicht mit seinem gesamten Gewicht in die anzustellende Prüfung der Verhältnismäßigkeit zwischen Aufwand und Nutzen eingestellt werden“ [20].
Insbesondere wenn zuvor schon (Arbeits-)Unfälle geschehen sind, werden diese Personenschäden in Haftungsverfahren als „Anlässe“ für Fahrlässigkeitsvorwürfe genommen.
Was kann passieren?
Die Frage, was rechtlich bei ausbleibender Nachrüst- oder Stilllegungsentscheidung passieren kann, führt zu den drei großen Rechtsgebieten: erstens Verwaltungsrecht und Prävention, zweitens Strafrecht und Sanktion und drittens Zivilrecht und Schadensersatzansprüche:
1. Nachrüstforderung der Gewerbeaufsichtsämter oder der Unfallversicherungsträger
Zur (präventiven und öffentlichen-rechtlichen) Umsetzung des Arbeitsschutzrechts bzw. der BetrSichV ist eine Anordnung entweder des staatlichen Gewerbeaufsichtsamts oder der Berufsgenossenschaft möglich. Es bestehen unterschiedliche Rechtsgrundlagen für die Verfügung – § 22 Abs. 3 ArbSchG für die Behörde und § 18 SGB VII für die Berufsgenossenschaft.
Entscheidend ist, dass jede staatliche oder berufsgenossenschaftliche Anordnung verhältnismäßig, insbesondere angemessen sein muss. Hierdurch wird der zuvor geschilderte – schwierige und unsichere – Entscheidungsrahmen der Arbeitgeber bzw. Unternehmen auf die behördlichen Überlegungen übertragen.
Auch eine behördliche Nachrüstungs- oder Stilllegungsentscheidung ist also eine äußerst schwierige Abwägungs- und Wertungsentscheidung. Die Anforderungen insbesondere an Stilllegungsverfügungen sind hoch – wobei aber natürlich der sehr gewichtige Beschäftigtenschutz ein maßgebliches Kriterium ist, aber eben auch die geschilderten Arbeitgeberinteressen und ‑maßnahmen „gebührend“ berücksichtigt werden müssen.
Ein persönliches Haftungsrisiko für Führungskräfte gibt es in diesem präventiven Rechtsbereich nicht. § 13 ArbSchG und § 13 DGUV Vorschrift 1 ermöglichen zwar Anordnungen an Geschäftsführer, Betriebsleiter und weitere Führungskräfte mit schriftlicher Pflichtendelegation [21]. Erstens aber kommt das in der Praxis kaum vor. Zweitens bedeutet das nicht, dass die so in Anspruch genommenen Unternehmensmitarbeiter persönlich etwas aus eigener Tasche zahlen müssten.
2. Strafrecht und Fahrlässigkeitssanktionen
Während das Präventionsrecht nur eine Gefährdung erfordert, aber nicht voraussetzt, dass ein Arbeitsunfall geschehen ist, kommt das Strafrecht grundsätzlich (mit nicht wirklich praxisrelevanten Ausnahmen) erst zur Anwendung, wenn ein Beschäftigter verletzt ist. In Betracht kommen Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung [22].
Gegen wen nach Arbeitsunfällen an Altanlagen konkret Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, folgt keinen klar erkennbaren Rechtsgrundsätzen – in Betracht kommt jede Führungskraft vom Geschäftsführer über Bereichsleiter (Betreiberverantwortung für Technik) bis hin zum unmittelbaren Vorgesetzten (Personalverantwortung bei Tätigkeiten) [23].
Die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit sind eine Pflichtverletzung (etwa durch Verstoß gegen Vorgaben der BetrSichV) und Verschulden in Form der Fahrlässigkeit (durch „Unsorgfältigkeit“ wegen „Erkennbarkeit“ und „Vermeidbarkeit“ des Unfalls).
Auch bei dieser Entscheidung über die Fahrlässigkeit bzw. ausreichende Sorgfalt spielen die oben herausgearbeiteten Grundsätze eine wesentliche Rolle – aber auch Zweckmäßigkeitserwägungen, die dazu führen können, dass trotz fahrlässiger Pflichtverletzung ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren (gegen Zahlung einer Geldauflage, aber auch ohne eine solche Auflage) eingestellt werden.
Andersherum kann die Wiederholung von (Arbeits-)Unfällen dazu führen, dass eine Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen etwas strenger ist. Es kann auch straferhöhend sein, wenn erneut ein vergleichbarer Arbeitsunfall geschieht.
3. Zivilrechtliche Schadensersatzansprüche bzw. Regress der Unfallversicherungsträger
Nach einem Arbeitsunfall an einer nicht nachgerüsteten oder erneuerten und weiterbetriebenen Maschine sind Schmerzensgeldansprüche des geschädigten Beschäftigten gegen den Arbeitgeber und Führungskräfte und Kollegen wegen des Haftungsprivilegs gemäß §§ 104 ff. SGB VII auf Vorsatz beschränkt – und Vorsatz wird bei Arbeitsschutz nicht vorkommen.
Die Unfallversicherungsträger leisten nach einem Arbeitsunfall Sozialversicherungsaufwendungen an den Geschädigten und können diese von haftungsprivilegierten Personen (auch Führungskräften) bei grober Fahrlässigkeit ersetzt verlangen – man nennt das Regress. Grobe Fahrlässigkeit ist eine erhöhte Fahrlässigkeit – die Rechtsprechung fordert „eine objektiv schwere Pflichtverletzung, die auch subjektiv unentschuldbar ist“. Es ist leicht erkennbar, dass es wieder um eine schwierige Wertungsfrage geht.
Das Unternehmen und die Führungskräfte können sich gegen diese Regressverpflichtungen durch eine Betriebshaftpflichtversicherung absichern [24]. Aber Vorsicht: Die Versicherungsbedingungen können – was den Einbezug der Führungskräfte angeht – unterschiedlich sein. Wenn kein Schutz durch eine Betriebshaftversicherung besteht, ist die Regress-Schuld der Führungskräfte eine persönliche Haftpflicht, die – beispielsweise bei Verrentungen – sehr hoch und langandauernd sein kann.
Vorsicht: Externe Berater – etwa befähigte Personen oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit – genießen das Haftungsprivileg nicht, so dass sie vom Geschädigten oder per Regressklage von Unfallversicherungsträgern auch bei einfacher Fahrlässigkeit in Anspruch genommen werden können. Das kann ein hohes Haftungsrisiko bedeuten, denn genau deshalb sind Externe ein beliebtes Angriffsziel – Fallbeispiele zu dieser Konstellation finden sich im Buch „Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure“.
Literaturhinweise:
- Ausführlich Wilrich, Praxisleitfaden BetrSichV, 3. Aufl. 2023.
- BR-Drs. 400/14 v. 28.08.2014, S. 73.
- BR-Drs. 400/14 v. 28.08.2014, S. 81.
- OLG Frankfurt, Urteil vom 21.05.2015 (Az. 6 U 64/14) – Garagentor.
- Ausführlich zu den hier einschlägigen Kriterien mit Besprechung von 30 Gerichtsurteilen Wilrich, Bestandsschutz oder Nachrüstpflicht? Betreiberverantwortung und Sicherheit bei Altanlagen, 2. Aufl. 2019.
- Ausführlich Wilrich, Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab – mit 33 Gerichtsurteilen zu anerkannten Regeln und Stand der Technik, Produktsicherheitsrecht und Verkehrssicherungspflichten, 2017.
- BGH, Urteil v. 16.06.2009 (Az. VI ZR 107/08) – Airbag.
- Siehe auch Wilrich, Produktsicherheitsrecht und CE-Konformität – Hersteller‑, Importeur- und Händler-Pflichten für Technik- und Verbraucherprodukte bei Risikobeurteilung, Konstruktion, Warnhinweisen und Vertrieb, 2021.
- BAG, Urteil vom 16.11.2010 (Az. 9 AZR 573/09).
- Fall „Geländer in der Schule“, in: Wilrich, Bestandsschutz oder Nachrüstpflicht (Fußn. 5).
- Teichmann, in: Jauernig, BGB, 15. Aufl. 2014, §823 Rn. 29.
- Fall „Geländer in der Schule“, in: Wilrich, Bestandsschutz oder Nachrüstpflicht (Fußn. 5).
- Fall „Eishockey-Puck und Sicherung der Längsseiten im Stadion“, in: Wilrich, Bestandsschutz oder Nachrüstpflicht (Fußnote 5).
- Mankiv/Taylor/Ashwin, Volkswirtschaftslehre für Schule, Studium und Beruf, 2.2 Unternehmerische Entscheidungen, S. 23.
- Fall „Drehmaschine“, in: Wilrich, Sicherheitstechnik und Maschinenunfälle vor Gericht – 40 Urteilsanalysen zu Produktsicherheit, Hersteller- und Konstruktionspflichten, Arbeitsschutz, Betreiber- und Organisationspflichten, 2022.
- Fall „Rollenschneidemaschine“, in: Wilrich, Sicherheitstechnik und Maschinenunfälle vor Gericht (Fußnote 15).
- Fall „Sprungturm im Freibad“, in: Wilrich, Bestandsschutz oder Nachrüstpflicht (Fußn. 5).
- Wer das ist, wird geklärt in Wilrich, Technik-Verantwortung – Sicherheitspflichten der Ingenieure, Meister und Fachkräfte und Organisation und Aufsicht durch Management und Führungskräfte, 2022.
- Fallbesprechung in: Wilrich, Bestandsschutz oder Nachrüstpflicht? (Fußnote 5), Fall 2, S. 111 ff.
- OVG Lüneburg, Beschluss v. 13.03.2012 (Az. 12 ME 270/11) – zu von Bioaerosolen ausgehenden Gefahren.
- Ausführlich Wilrich, Pflichtendelegation im Arbeitsschutz – Betriebsorganisation und Personalmanagement durch Übertragung von Unternehmerpflichten auf Führungskräfte, erscheint 2023.
- Ausführlich Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen, 2020.
- Ausführlich Wilrich, Technik-Verantwortung – Sicherheitspflichten der Ingenieure, Meister und Fachkräfte und Organisation und Aufsicht durch Management und Führungskräfte, 2022
- Hierzu aus Sicht der Fachkräfte für Arbeitssicherheit Wilrich, Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure – Unterstützungs‑, Beratungs‑, Berichts‑, Prüfungs‑, Warn- und Sorgfaltspflichten der Fachkräfte für Arbeitssicherheit als Stabsstelle und Unternehmerpflichten in der Linie – mit 15 Gerichtsurteilen und Strafverfahren zu Fahrlässigkeit und Schuld nach Arbeitsunfällen, 2021, Kapitel 12, S. 273 ff.
Hochschule München
Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen
www.rechtsanwalt-wilrich.de