Verantwortliche und Mitarbeitende der Abteilung Arbeitsschutz sollten und müssen darauf bestehen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich an vorgegebene Verhaltensregeln und Vorschriften halten. Liegt ein Interessenkonflikt zwischen den Ansprüchen des Unternehmens und „renitenten Mitarbeitern“ vor, sind wirkungsvolle Handlungs- und Sanktionsmöglichkeiten notwendig.
Doch die „private“, individuelle Risikoeinschätzung eines Mitarbeitenden entscheidet darüber, ob Vorsorgemaßnahmen, die durch Experten beziehungsweise durch das Unternehmen beschlossen wurden, akzeptiert und befolgt oder eben nicht akzeptiert und nicht befolgt werden. Im Folgenden wird ein Erklärungsmuster beschrieben, warum es zu Abweichungen vom Regelverhalten kommt und wie eine Lücke verkleinert werden kann.
Risikowahrnehmung und ‑zuschlag
Ein Beispiel: In einem Unternehmen ist durch ein Ereignis ein bisher unbekanntes Risiko in die Wahrnehmung gelangt. Auf einer Skala (siehe Grafik am Ende des Beitrags) wird die Höhe des Risikos durch die Höhe einer entsprechenden Säule (1) gekennzeichnet. Beispielhaft wird unterstellt, dass die dargestellte Pfeillänge ein objektives, tatsächliches und realistisches Risikomaß des Ereignisses abbildet.
Um zuküftig auf jeden Fall auf der sicheren Seite zu sein, setzen Experten bewusst oder unbewusst einen Sicherheitszuschlag drauf. Im dargestellten Beispiel entspricht der Zuschlag ungefähr einem Viertel der realistischen Risikoeinschätzung (Säule 2). Da die Einschätzung eines Risikos von sehr vielen Unsicherheiten, individuellen Befindlichkeiten und äußeren Umständen abhängig ist, geben unsichere oder vorsichtige Menschen durchaus das Doppelte oder mehr als „Angstzuschlag“ dazu, um bei der Bewertung und danach auf der (rechts)sicheren Seite zu sein.
Aus der Addition der Säule (1) „Realistisches Risiko“ und dem „Angstzuschlag“ (Säule 2) ergibt sich Säule 3. Deren Höhe definiert gleichzeitig das Niveau, auf dem Unternehmensentscheidungen zur Sicherheit und Gesundheit getroffen werden. Primär kann das realistische Risiko durch technische und organisatorische Maßnahmen gemindert werden. Das Unternehmen darf zukünftig nur Mitarbeiter mit entsprechenden Arbeitsaufgaben betrauen, deren Qualifizierung eine Risikokontrolle auf dem Niveau von Säule 3 beinhaltet. Ist der Kostenaufwand für Qualifizierung oder technische Maßnahmen kurzfristig nicht zu rechtfertigen, bleibt es bei der Dreingabe personenzentrierter Maßnahmen. Defizite in der Ausbildung oder Restrisiken werden in der Regel durch zusätzliche persönliche Schutzausrüstungen und Verhaltensregeln gepuffert.
Die Höhe der Säule 3 bildet demgemäß ein vom Unternehmen beziehungsweise Experten durch flankierende Schutzmaßnahmen und Qualifizierung als beherrschbar eingeschätztes Risiko. Wenn dem nicht so wäre, würde ein Unternehmen eine solche Tätigkeit gar nicht zulassen dürfen. Insofern handelt es sich auch um ein betrieblich akzeptiertes Risikoniveau. Mit einer solchen Bewertung wird die Überzeugung dokumentiert, dass bei Berücksichtigung aller aufgestellten Vorgaben das Risiko zu bewältigen ist.
Verhalten und Risikobewältigung
Neben der technischen Ausrüstung und den organisatorischen Bedingungen beeinflusst ein angemessenes Verhalten der Mitarbeiter die notwendige Risikobewältigung. Der Mitarbeiter darf keinen Fehler machen, sonst erhöht sich das reale Risikoniveau. Doch der Mensch ist ein fehlerhaftes Wesen, und der Sicherheitszuschlag wirkt als Puffer.
Es wirkt unfallreduzierend, wenn Mitarbeiter qualifiziert sind, Risiken frühzeitig zu erkennen, realistisch zu bewerten und angemessen zu bewältigen.
Jeder Mitarbeiter hat durch seine Lebenserfahrungen oder aktuelle Ereignisse seine ganz individuelle Risikoeinschätzung. Möglicherweise liegt diese unter dem „objektiven“ Niveau (Säule 4). Wird ein Risiko jedoch unterschätzt, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls. Durch Qualifizierung und Sensibilisierung gelingt es, unterschätzte Risiken auf ein realistisches Niveau zu heben (Säule 5).
Ist der Sicherheitspuffer überdimensioniert, entsteht eine hohe Differenz zwischen betrieblich akzeptiertem Risikoniveau (Säule 3) und der privaten Einschätzung (Säule 6). Die flächendeckende Realisierung verordneter Vorsorgemaßnahmen und Verhaltensregeln, die auf dem Niveau der Säule 3 entschieden worden sind, ist nur durch Überwachung beziehungsweise Kontrolle und gegebenenfalls durch Bestrafung zu erreichen. Sollen jedoch Anordnungen akzeptiert werden, muss die Differenz zwischen „privat“ und „unternehmerisch“ verkleinert werden (Säule 7 und 8), so dass die Akzeptanz von Vorsorgemaßnahmen steigt.
Eine Rücknahme einmal getroffener Entscheidungen geschieht eher selten. Denn dann überwiegen Befürchtungen, dass bei Unfallereignissen nach einem Widerruf von Verhaltensvorgaben die Schuld in dieser Entscheidung gesucht wird.
Fazit
Bei der Einführung neuer Maßnahmen zur Risikominimierung im Betriebsalltag ist zu beachten, dass der „Angstzuschlag“ nicht über das Ziel hinausschießt. Soll der Kontroll- und Bestrafungsdruck reduziert werden, muss der „Angstzuschlag“ verkleinert werden, damit getroffene Maßnahmen von der Belegschaft akzeptiert werden. Hilfreich hierbei sind Schulungen, die die individuelle, private Risikoeinschätzung auf das realistische Niveau heben. Ein gutes Training und die Reduzierung psychischer Belastungen und Beanspruchungen reduziert die Fehlerwahrscheinlichkeit und hilft, den Sicherheitszuschlag zu verkleinern. Abhängig von der Höhe des Sicherheitszuschlags wird es auch mit sehr guten Qualifizierungen nur schwerlich gelingen, das Niveau der Säule 3 akzeptabel zu vermitteln.
Autoren
Dipl.-Ing.
Reinhard R. Lenz
Inhaber des Instituts
für Schulung und
Medienentwicklung
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